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Papst: „Was ist mit dir los, Europa?“

Papst Franziskus hat in seiner Dankesrede für den Internationalen Karlspreis 2016 im Vatikan mit deutlichen Worten die humanistischen Werte Europas angemahnt und einen wirtschaftlichen Wandel hin zu einer sozialen Marktwirtschaft gefordert.

Es ist der Blick vom Rand der Welt auf das alte Zentrum, der den Papst aus Argentinien fragen lässt: „Was ist mit dir los, Europa?“

In der abendländischen Geschichte haben Päpste oft die weltlichen Mächte Europas zu Hilfe gerufen: vor 1.200 Jahren Karl den Großen im Kampf gegen die Langobarden, bei den Kreuzzügen gegen den Islam  oder später französische Herrscher in der Auseinandersetzung mit deutschen Kaisern. Jetzt aber war es umgekehrt.

In dieser Woche kam das politische Europa von Brüssel nach Rom, um in der größten Krise der EU geistigen Beistand vom Papst zu erbitten. Dieser Papst, der 2016 den Karlspreis erhielt, ist zum Glück für Europa ein Homo Politicus, der genau zum richtigen Zeitpunkt an das verzagte, alte, verängstigte, feige, Mauern und Zäune bauende Europa die richtigen Fragen stellt.

Dass dieses materiell reiche, aber geistig verarmte Europa in den letzten 15 Jahren 20.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken ließ, das heißt sie ermordet hat, sagt alles über den verwahrlosten Zustand des von geistigem Alzheimer befallenen Europa.

„Was ist los mit dir, Europa?“ fragt Franziskus und fordert in einer erfrischenden Rede einen „neuen europäischen Humanismus mit einer Kultur des Dialogs und der Erinnerung an die Geschichte“. Die Gründerväter Europas wie der Franzose Robert Schuman oder der Deutsche Konrad Adenauer hätten von einer „Solidarität der Tat“ geträumt und sie hätten „Brücken gebaut und Mauern eingerissen“ und nicht umgekehrt wie es heute in Südosteuropa geschieht.

Europa, so Franziskus, brauche jetzt drei auf Humanismus geründete Fähigkeiten: Die Fähigkeit zur Integration, die Fähigkeit zum Dialog und die Fähigkeit, etwas Neues hervorzubringen.

Diese Fähigkeit zur Integration dürfe nicht mit Almosen verwechselt werden. Sie sei die Chance zur Schaffung eines Lebens in Würde für alle. Europas Identität sie immer dynamisch und multikulturell gewesen. Hierfür müssten die Bürger Europas Koalitionen bilden, die nicht nur rein wirtschaftlich und militärisch, sondern kulturell, erzieherisch, philosophisch und religiös seien.

Die Jugend Europas brauche Zukunftsperspektiven und Arbeitsplätze. Die Wirtschaft Europas müsse mehr sein, als auf „Profit, Spekulation und Zins“ ausgerichtet, sie müsse eine echte ökosoziale Marktwirtschaft werden, die „in die Menschen investiert, indem sie Arbeitsplätze und Qualifikation schafft“.

Diese Rede möge in den Ohren der katholischen Herrscher in Polen genau so nachklingen wie in den Ohren der Nationalisten in Ungarn, Tschechien und der Slowakei und menschenfreundliche Veränderungen bewirken.

Den Karlspreis erhält, wer sich besondere Verdienste um Europa erworben hat. 2016 ist dies Papst Franziskus. Eine gute Wahl. © Franz Alt 2016

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Die Papst-Ansprache im Wortlaut: Was ist mit dir los, Europa?

Die Kreativität, der Geist, die Fähigkeit, sich wieder aufzurichten und aus den eigenen Grenzen hinauszugehen, gehören zur Seele Europas. Im vergangenen Jahrhundert hat es der Menschheit bewiesen, dass ein neuer Anfang möglich war: Nach Jahren tragischer Auseinandersetzungen, die im furchtbarsten Krieg, an den man sich erinnert, gipfelten, entstand mit der Gnade Gottes etwas in der Geschichte noch nie dagewesenes Neues. Schutt und Asche konnten die Hoffnung und die Suche nach dem Anderen, die im Herzen der Gründerväter des europäischen Projekts brannten, nicht auslöschen. Sie legten das Fundament für ein Bollwerk des Friedens, ein Gebäude, das von Staaten aufgebaut ist, die sich nicht aus Zwang, sondern aus freier Entscheidung für das Gemeinwohl zusammenschlossen und dabei für immer darauf verzichtet haben, sich gegeneinander zu wenden. Nach vielen Teilungen fand Europa endlich sich selbst und begann sein Haus zu bauen.

Diese „Familie von Völkern“, die in der Zwischenzeit lobenswerterweise größer geworden ist, scheint in jüngster Zeit die Mauern dieses gemeinsamen Hauses, die mitunter in Abweichung von dem glänzenden Projektentwurf der Väter errichtet wurden, weniger als sein Eigen zu empfinden. Jenes Klima des Neuen, jener brennende Wunsch, die Einheit aufzubauen, scheinen immer mehr erloschen. Wir Kinder dieses Traumes sind versucht, unseren Egoismen nachzugeben, indem wir auf den eigenen Nutzen schauen und daran denken, bestimmte Zäune zu errichten. Dennoch bin ich überzeugt, dass die Resignation und die Müdigkeit nicht zur Seele Europas gehören und dass auch die »Schwierigkeiten zu machtvollen Förderern der Einheit werden können«[2].

Im Europäischen Parlament habe ich mir erlaubt, von Europa als Großmutter zu sprechen. Zu den Europaabgeordneten sagte ich, dass von verschiedenen Seiten der Gesamteindruck eines müden und gealterten Europa, das nicht fruchtbar und lebendig ist, zugenommen hat, wo die großen Ideale, welche Europa inspiriert haben, ihre Anziehungskraft verloren zu haben scheinen; ein heruntergekommenes Europa, das seine Fähigkeit, etwas hervorzubringen und zu schaffen, verloren zu haben scheint. Ein Europa, das versucht ist, eher Räume zu sichern und zu beherrschen, als Inklusions- und Transformationsprozesse hervorzubringen; ein Europa, das sich „verschanzt“, anstatt Taten den Vorrang zu geben, welche neue Dynamiken in der Gesellschaft fördern – Dynamiken, die in der Lage sind, alle sozialen Handlungsträger (Gruppen und Personen) bei der Suche nach neuen Lösungen der gegenwärtigen Probleme einzubeziehen und dazu zu bewegen, auf dass sie bei wichtigen historischen Ereignissen Frucht bringen. Ein Europa, dem es fern liegt, Räume zu schützen, sondern das zu einer Mutter wird, die Prozesse hervorbringt (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 223).

Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit? Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von Dichtern, Philosophen, Künstlern, Musikern, Literaten? Was ist mit dir los, Europa, du Mutter von Völkern und Nationen, Mutter großer Männer und Frauen, die die Würde ihrer Brüder und Schwestern zu verteidigen und dafür ihr Leben hinzugeben wussten?

pixabay.com | BykstGütersloher Verlagshaus
Quelle

FRANZ ALT 2016Radio Vation 2016

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