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Ändere die Welt!: Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen

Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen. Zu einem neuen Buch von Jean Ziegler. Von Rupert Neudeck

Die Tonalität seiner Stimme, das schweizerisch angenehme Deutsch, das er in deutschen Medien spricht, ist immer noch viel liebenswürdiger und verführerischer in seiner anheimelnden Freundlichkeit als jede geschriebene Zeile. Man kann den Autor am besten verstehen, wenn man ihn mit einer Empörung sprechen hört, dass man weiß: Dieser Mann würde den Weltzustand ändern. Wäre er UNO-Generalsekretär geworden, er hätte auf jeden Fall eine Menge wichtiger Weltzustands Änderungen auf den Weg gebracht, um „die kannibalistische Weltordnung“ zu stürzen.

Er ist auch kein typischer Vertreter der Weltveränderer. Was man an ihm mitbekommt, wenn man die Gelegenheit hatte, ihn kennenzulernen und mal ein Stück zu begleiten, ist seine Welt-und Menschheits-Frömmigkeit. Er muss nicht darüber sprechen, weil das auch schwierig ist, aber man kann sagen: Der Revolutionär Jean Ziegler ist ein durch und durch frommer christlicher Mensch. Fast hätte man ihn als Schüler unseres Theologen Johann Baptist Metz einstufen können, der ja immer darauf beharrt hat, dass die Botschaft des Jesus Christus etwas zutiefst An-Anarchisches hat.

Die Bücher von Jean Ziegler sind wie seine brillanten Vorträge und Diskussionsveranstaltungen alle unter dem Titel seines letzten Buches einzuordnen: Ändere die Welt! Das sagt der Soziologie, Weggefährte von Jean-Paul Sartre, Regis Debray, Che Guevara, Amilcar Cabral, immer wieder. Er hatte noch weitere Funktionen, zwischendurch war er Mitglied im eidgenössischen Parlament Das, was ihn besonders auszeichnet: Er kann seine Wut ungehindert und mit nicht nachlassender Verve und Energie hinausschreiben. Er beschreibt aber die Perversionen der Wissenschaft, weil er gerne ein Professor und Soziologe an der Universität Genf war.

Alles ist begründet bei Jean Ziegler mit dem leiden von Menschen, die er uns plastisch schildert. Szcytno-Szymany sei ein stillgelegter Militärflughafen in der Nähe von Warschau. Dort fuhr im Winter 2005 ein Kleinbus mit verdunkelten Fenstern vor. Ein 26jähriger Tunesier wird in den Keller des Gebäudes gestoßen. Amerikanische Agenten foltern ihn. Der Tunesier wird verdächtigt, ein Al Qaida Agent zu sein. Er war Angestellter in einem Restaurant in Islamabad/Pakistan gewesen. Der pakistanische Geheimdienst hatte ihn gekidnappt und den Amerikanern übergeben. Die USA zahlen 5000 US-Dollar für die Übergabe eines Verdächtigen. Die Folterknechte schlugen ihn blutig. Dann ketteten sie ihn nackt auf den eiskalten Fußboden und vergaßen ihn. Drei Tage später fand ihn ein Wärter: tot.

Ziegler: In vielen Foltergefängnissen folterten amerikanische Beamte während rund zehn Jahren. Das alles hatte zur Grundlage eine Executive-Order von Präsident George W. Bush vom Jahr 2004. Das Foltergebot wurde im Krieg gegen den Terrorismus aufgehoben. Wie kann die westliche Führungsmacht das Foltergebot aufheben, ohne dass die eigenen Regierungen in Europa den USA die Gefolgschaft verweigern? Art 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet und das wirkt wie eines der zehn Gebote, die man auch nicht aufheben kann: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworden werden“. Obama hat sich davon zwar distanziert: „Solche Praktiken sind mit den amerikanischen Werten unvereinbar“, aber er hat Guantanamo nicht geschlossen. Das US-Folterprogramm wurde bekannt durch die Feinstein-Kommission des US-Senats, die über 6,2 Mio. Geheimdokumente der Jahre 2001 bis 2008 sicherten. Zwei Wissenschaftler entwickelten besonders raffinierte Folterprogramme, so das Gegen die Wand-Klatschen und das Waterboarding (Eintauchen des Opfers in Wasser bis kurz vor dem Erstickungstod).

Wenn man das liest an vielen Stellen des Buches von Ziegler, begreift man, dass er ein durchaus zutreffendes Attribut für diese Perversionen von Wissenschaft und Politik gefunden hat: Die kannibalische Weltordnung. Er ist nie müde geworden, diese kannibalische Ordnung zu verdammen, die sich auch in dem von den  Geheimdiensten organisierten Mord an zukunftsfähigen Staatslenkern beteiligte. So bei dem Mord an dem ersten Präsidenten des Kongo, Patrice Lumumba, der eindeutig dem CIA angelastet werden kann. Und dem Mord an dem zweiten großen Hoffnungsträger Afrikas, Thomas Sankara in Burkina Faso, bei dem noch nicht klar ist, welcher Geheimdienst die Oberhand hatte. Das Thomas Sankara-Kapitel hat er in früheren Büchern ausgefaltet.

Das Buch vibriert von der Pflicht, die sich der Autor gibt, im hohen Alter, noch mal die Erkenntnisse seines Lebens zusammenzufassen in gut geschriebenen Kapiteln, die alle von markanten Gedichtszeilen, meist von Bert Brecht oder von dem türkischen Autor Nazim Hikmet eingeführt werden. Das erste Kapitel beschreibt, dass ein Intellektueller nichts nützt, wenn er nur ein Mann des Elfenbeinturms bleibt. Wissenschaft und Intelligenz müssen sich im Kampf gegen die Kannibalen beweisen. Es sind dann Kapitel über die Ungleichheit zwischen den Menschen und dem Mord an den 14 Mio. Kindern, die sich eine gleichgültige Welt leistet.

Ziegler gehört nicht zu denen, die mit dem Traum einer Gesellschaft aufgehört haben, in der jeder nach seinen Bedürfnissen gleicher wertvoller Teil der Gesellschaft ist. Er bezieht sich – fast möchte man sagen – tapfer weiter auf Karl Marx und Friedrich Engels. Er markiert die Irrwege der Ideologien, des Obskurantismus, wie er auch in seiner, der katholischen Kirche immer wieder Urstände feierte.

Er gibt Ausblicke in sein Fach Soziologie, in dem man über die Grundelemente hinausgekommen ist, die der Gründer des Fachs Max Weber gelegt hatte. Wuchtige große Kapitel widmet der Wissenschaftler und Politiker dem Staat, der in den Fängen des Finanzkapitals untergegangen ist.

Ganz besonders kenntnisreich und wertvoll sind die Aufklärungen über die Verhältnisse in Afrika, die „misslungene Dekolonisation“ und das „Versagen der Eliten“. Niemand kann ihm die selbsterworbene Kenntnis des Kongo und Angolas nehmen. Schon in dem Eingangskapitel hat er die Begegnung mit einem Privatbankier ohne Namen, „Calvinist, in seiner strengen familiären und gesellschaftlichen Tradition eingesperrt wie in einer Zwangsjacke“ beschrieben. Er trifft ihn in einem leeren Abteil des letzten Zuges von Bern nach Genf. Sie diskutieren über die Zukunft der sog. „Demokratischen Republik Kongo“ nach dem Tod von Laurent Kabila.

Einige Tage zuvor habe er den Sohn und Nachfolger Joseph Kabila getroffen. Der Bankier fragt ihn: „Du hast den jungen Kabila getroffen?“ „Ja“ Wie ist die Lage im Kongo? Fürchterlich. In Kinshasa gibt es wieder Epidemien. Es herrsche Hunger. Seit 2000 sind zwei Millionen Menschen deshalb gestorben.“

Ziegler geht, wie er sagt, zum direkten Angriff über: „Mobutu hat über 4 Milliarden Dollar auf schweizerische Konten verschoben. Ich habe gehört, ein Teil der Beute liegt bei deiner Bank“. Das Du-zen ist eine heimtückische Waffe bei Jean Ziegler, gerade gegenüber seinen eingefleischten Gegnern. Die Antwort:

„Du weißt, dass ich dir darauf keine Antwort geben kann. Bankgeheimnis. Aber unter uns gesagt: Mobutu war ein Dreckskerl. Mein Bruder hat erzählt, an dem heutigen Elend seien vor allem die Plünderungen unter Mobutu schuld“. Ziegler gibt sich damit nicht zufrieden. „Also, warum gibt du das gestohlene Geld nicht wenigstens der neuen Regierung zurück. Du weißt genau, dass sie es sich nicht leisten kann, vor schweizerischen Gerichten jahrelang um die Rückgabe zu prozessieren?!“ Sein Gegenüber wirkt darauf sehr nachdenklich. Schließlich sagt er: „Unmöglich! In die Kapitalflüsse kann man nicht eingreifen.“

Niemand, mit Ausnahme des berühmten algerischen Soziologen Frantz Fanon, hat die misslungene Dekolonisation der afrikanischen Völker besser und einfühlsamer beschrieben als Jean Ziegler. In Kamerun sorgen seit über 30 Jahren die französischen Geheimdienste dafür, dass die Wahlen im gewünschten Sinne ablaufen. 1984 wurde Paul Biya zum Präsident mit 99 Prozent gewählt. Stephane Flouks, ein persönlicher Freund von Manuel Valls (heute französischer Ministerpräsident von Frankreich) ist für Biyas internationales Erscheinungsbild zuständig.

Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 52 Jahre. Weniger als 30 Prozent der Menschen haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. 36,8 Prozent leiden unter schwerer Unterernährung. Biya und seine Freunde lieben Genf. Sie halten sich mehrfach im Jahr dort auf, wohnen bis zu 44 Tagen in eigenen, für sie reservierten Etagen des Luxushotels Intercontinental. Die Gebühren, die allein dafür fällig sind, dass das Flugzeug des Präsidenten auf dem Flughafen Genf-Cointrin stehen darf für die 44 Tage, belaufen sich auf 11.000 Euro pro Tag. Die Kolonialreiche sind zusammengebrochen, die Kolonialmächte haben die Protonationen einfach so hingeworfen auf der Landkarte. Das griechische Wort, so erklärt Ziegler, protos bedeutet: Embryonal, rudimentär, unvollendet, fragil. „Die Protonation ist keine Etappe auf dem Weg zur Nationenentstehung“. Sie ist ein gesellschaftliches Gebilde besonderer Art- In Angola gibt es alles, was das Land zu einem der reichsten in Afrika machen kann. Angola ist der zweitgrößte Erdölproduzent Afrikas nach Nigeria. Zehn Minen beuten 76 Prozent der Diamanten aus. Die absolute Macht liegt seit über 30 Jahren in den Händen von Eduardo dos Santos, ein in Moskau ausgebildeter Ingenieur, der – das wusste Ziegler noch nicht – die Russin nach der Wende und dem Untergang des kommunistischen Weltreiches nach Moskau zurückschickte und mit einer angolanischen Stewardess sich neu vermählte und sonntags immer in die Kathedrale von Luanda geht.

Es wird dort Geld gestohlen. Der IWF verlange 2013 Auskunft über den Verbleib von 33,4 Mrd. US Dollar, die als Kredit nach Angola gegangen und unauffindbar verschwunden sind. Die angolanische Herrscherfamilie hat mit dem schweizerischen Zoll ein fruchtbares Vertragsverhältnis gefunden. Die geraubten Diamanten werden ins riesige Zollfreilager in Genf eingeliefert. Dann werden sie an Scheinfirmen ausgegeben, „entzollt“ und kommen auf den Markt. Und dann noch mal Originalton Ziegler: „Die Republik Genf, in deren Boden bis heute noch nie ein Diamant gefunden wurde, gehört zu den größten ‚Diamantenproduzenten‘ der Welt“. Er beschreibt, wie die Allerbesten in Afrika ermordet wurden. Am 17. Januar 1961 begann diese Kette von Auftragsmorden mit dem Mord an Patrice Lumumba. Diese Serie setzte sich fort mit Ernest Quandie, dem wichtigsten Führer der kamerunischen Befreiungsfront am 14. Januar 1970 bis hin zu dem Mord an Thomas Sankara, der das Land Obervolta reformieren wollte, dem er den Namen Burkina Faso gab.

Immer macht Ziegler alles an lebhaft erzählten Begebenheiten und Nachrichten fest. So an der Welt-Reichtums-Konferenz in Davos in der Schweiz im Jahre 1976, wohin fast alle, auch die Linken Staatschefs hinpilgern, wie zu einem Mekka der Hochfinanz. Da kam der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank Hans Tietmeyer an das Podium vor tausend der mächtigsten Oligarchen und Staatschefs aus mehreren Dutzend Ländern und sagte und mahnte: „Von nun an stehen Sie unter der Kontrolle der Finanzmärkte!“. Diese Finanzmärkte sind nicht mehr durch die Tatsache des real existierenden Sozialismus gebändigt, sondern durch niemanden mehr. Eine Regierung beschließt, die Steuer zu erhöhen, fragt Ziegler: „Sofort zieht sich das Finanzkapital zurück und sucht sich günstige Akkumulationsbedingungen in einem Nachbarstaat. Die Rahmenbedingungen für Investitionskapital, die Zölle und die Bestimmungen über die Rückführung von Gewinnen multinationaler Gesellschaften hätten sich geändert: Das Finanzkapital wird eine Regierung unverzüglich abstrafen.

„Gegen die weltweite Diktatur des globalisierten Finanzkapitals, ihrer Satrapen und Söldner“ von Thomas Kaiser
http://www.zeit-fragen.ch/index.php?id=2153

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Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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