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Am achten Tag – Eine Reise in das Zeitalter des Menschen

Wie schreibt man über das entstehende geologische Zeitalter des „Anthropozäns“? In der Form einer wissenschaftlichen Abhandlung, als Roman – oder als Erzählung, die beides miteinander verbindet? Ein Buch dazu – vorgestellt von Professor Udo E. Simonis

In einem Artikel der Zeitschrift Nature plädierte Paul J. Crutzen,  Nobelpreisträger für Chemie und Professor an der Universität Mainz, im Jahre 2002 für die Einführung des Begriffs „Anthropozän“, weil alle globalen bio-physikalischen Veränderungen, über die in der Wissenschaft diskutiert werde, bedeuteten, dass der Planet Erde sich zu weit von den Bedingungen entfernt habe, die man für die Ära des Holozän als normal betrachten würde. Johan Rockström und Kollegen haben dann 2009 die Überschreitung wichtiger planetarischer Grenzen erstmals empirisch zu fassen versucht. Doch noch immer ringen Geologen und Physiker mit dem begrifflichen Problem, eine Ära zu datieren, deren Paläontologie und Geologie noch im Entstehen begriffen ist.

Die Umweltjournalistin Gaia Vince, Autorin des vorliegenden Buches aber sagt, dass das „Anthropozän“ die Mauern der akademischen Welt überwunden und längst Einzug in die Gesellschaft gehalten habe. In der Tat, die Vorstellung, dass die Menschheit einen buchstäblich globalen Einfluss auf die Erde ausübt, hat nicht nur das Interesse von Dichtern und Denkern, von Theoretikern und Praktikern, von Umweltschützern und Umweltpolitikern geweckt. Auch Natur- und Sozialwissenschaftler verwenden zunehmend den Begriff, um vielfältige Veränderungen auf dem Planeten und das Leben auf ihm zu beschreiben – und der „Fußabdruck des Menschen“ (ecological footprint) wird inzwischen global wie national regelmäßig ermittelt. Im Geiste dieser erweiterten Definition hat Gaia Vince ihr Buch geschrieben – und dafür zwei Jahre lang die Welt bereist.

Wie hat der Mensch den Planeten verändert und wie verändert er ihn weiterhin – und welche Auswirkungen hat dieser Wandel auf den Menschen? Lassen sich die Veränderungen eingrenzen (mitigation) und wie kann und muss man sich an die Veränderungen anpassen (adaptation)? Das sind die zentralen Fragen, die sich die Autorin gestellt hat – und denen sie in insgesamt zehn Sachkapiteln nachgeht, die von der Atmosphäre, den Bergen, Flüssen und Meeren, von Ackerland, Wüsten und Wäldern bis zur Verstädterung der Erde handeln. Ihre Methode ist dabei dualer Art: Sie beginnt die Kapitel mit einer wissenschaftlich fundierten Skizze der jeweils gravierenden Probleme in den verschiedenen Bereichen, stellt die beobachteten Vermeidungs- und Anpassungsaktivitäten dann jedoch vorwiegend individualisiert und in erzählender Weise dar. Sie begründet diese Vorgehensweise mit diesen Worten: „Ich hatte das Gefühl, dass Personen, die ich noch nicht kannte, die Versuchskaninchen der neuen Epoche sind – und ich wollte wissen, wie sie damit umgehen. Ich wollte die Situation vor Ort kennenlernen, persönlich mit den Protagonisten der neuen Ära reden und mit meinen eigenen Augen die Realität des Anthropozäns sehen“ (S. 22). Diese ungewöhnliche narrative Art des Buches führt zu spannenden aber auch kuriosen, zu hoffnungsvollen wie auch zu bedrückenden Situationen, zu einer vielfältigen Sammlung von Geschichten über bemerkenswerte Menschen in einer außergewöhnlichen Zeit.

Hier nur zwei Beispiele von vielen aus dem 2. Kapitel (Berge) und dem 5. Kapitel (Meere). Wegen der Erderwärmung erleben die Berge einen dramatischen Wandel, insbesondere den Schwund an Eis. In Nepal erfährt die Autorin, dass es selbst in 4000 Metern Höhe nicht mehr kalt genug ist, um die Schnurrbärte der Männer gefrieren zu lassen. Der Himalaya ist aber neben den Polargebieten der größte von Gletschern und Permafrost bedeckte Bereich der Erde, mit einem Eisreservoir von ca. 3.700 Kubikkilometern. In einer wärmer werden Welt müssen daher entweder Wege gefunden werden, mit weniger Süßwasser aus den Berggletschern zu leben, oder das Süßwasservorkommen muss durch große Reservoirs gesichert werden. China errichtet derzeit 59 solcher Reservoirs, um Schmelzwasser von den schrumpfenden Gletschern in der Provinz Xinjiang aufzufangen und zu speichern. Die Autorin entdeckt auf ihrer Reise aber eine dritte Möglichkeit: In Ladakh begegnet sie einem Mann, der die Herausforderung der globalen Erwärmung auf seine Weise angenommen hat. Man nennt ihn den „Gletschermann“, ein pensionierter Ingenieur, der bereits zehn künstliche Gletscher geschaffen hat, deren Wasser 10000 Menschen den Lebensunterhalt sichert. Diesem Beispiel eines kleinteiligen „Geoengineering“ steht die Autorin höchst positiv gegenüber, wie auch  anderweitigen Versuchen, wie denen, die Erdoberfläche (den naheliegenden Berg) zu weißen, um ihr Reflexionsvermögen zu erhöhen. Anderenorts, wie zum  Beispiel am Rio Baker in Chile, finden lokale Akteure ihr besonderes Lob, die versuchen, die dort geplanten großen Staudämme zur Energiegewinnung zu verhindern. Dass die lange Schiffsreise auf dem sagenumwobenen Mekong in absehbarer Zeit wegen neuer riesiger Staudämme nicht mehr durchführbar sein wird, erfüllt sie mit heiligem Zorn.

Das 5. Kapitel beginnt sie mit einem Bericht über den Besuch der Malediven, deren bevorstehenden Untergang sie als Rennen gegen die von Menschenhand veränderten Meere ansieht. Sie beschreibt und bewundert die vielfältigen individuellen Aktivitäten zur Sicherung der vorläufigen Existenz, wie die Errichtung einer sturmsicheren „Designerinsel“ im Raa-Atoll und die Müllinsel Thilafushi, doch sie beklagt zugleich die destruktive politische Situation in diesem Land, die trotz massiver Existenzbedrohung nicht zum inneren gesellschaftlichen Frieden geführt hat. Auch andere natürliche „Paradiese“ der Welt sieht die Autorin auf der globalen Untergangsliste: Tuvalu, Bhola Island in Bangladesch, die Carteret Islands in Papua-Neuguinea, Fidschi und die pazifischen Atolle; Kiribati wird aller Voraussicht nach der erste Staat sein, dessen gesamte Landfläche aufgrund des Klimawandels überflutet werden wird (S. 189).  

Das Buch endet mit einem Bekenntnis und einer Erwartung: Die Autorin schätzt sich glücklich, so viele imaginative Orte auf der Welt besucht und unzählige Hoffnungsträger kennengelernt zu haben – und sie hofft, dass sich im Anthropozän ein Geist der Solidarität und Kooperation entwickelt, weil sich alle gegen die vielfältigen existentiellen Bedrohungen verbünden werden.

Fazit: Ein global umspannendes Umweltbuch, und doch so ganz anders als andere – als der letzte Report des Weltklimarates (IPCC), das vielbeachtete Hauptgutachten des WBGU über die „Große Transformation“ oder der Bericht  der Weltbank über die zukünftige „+ 4 Grad-Welt“; ein ungewöhnlich inhaltsreiches, romanhaftes Buch, für das man sich viele Leser wünscht – und viel Lesezeit nehmen sollte. Es bleiben Buchtitel und Autorenname: Der englische Originaltitel „Adventures in the Anthropocene“ sagt auf einfache Weise, um was es geht – um Erlebnisse und Abenteuer in einer dramatisch veränderten Welt, in der Ära des Anthropozän. Der gewählte Titel für die deutsche Übersetzung des Buches ist animierend, aber auch irritierend. Nach der biblischen Schöpfungsgeschichte haben „Sieben Tage“ die Welt schön und gut gemacht. Der „Achte Tag“ mag begonnen haben, aber ob er gut und schön werden wird, bleibt offen – auch nach der Lektüre dieses ideen- und geschichtenreichen Buches. Da wünscht sich der Rezensent, dass der Vorname der Autorin („Gaia“ – Erdgöttin) ein gutes Omen sein möge. 

Gaia Vince „Am achten Tag – Eine Reise in das Zeitalter des Menschen“ – online bestellen! 

Gaia Vince ist eine britische Wissenschafts- und Umweltjournalistin (›Nature‹, ›New Scientist‹), die für dieses Buch zwei Jahre um die Welt reiste. Als erste Frau überhaupt erhielt sie für ihr Buch den ›Royal Society Winton Prize for Science Books‹.


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Quelle

Udo E. Simonis 2016 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Redakteur des Jahrbuch Ökologie

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