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Carl Hanser Verlag | Nadja Tolokonnikowa

© Carl Hanser Verlag | Nadja Tolokonnikowa

Anleitung für eine Revolution

Die Härte der neuen Revolution. Gespiegelt in dem Aufstand der Pussy Riot. Von Rupert Neudeck

 

Man liest dieses merkwürdig zusammengesetzte und zusammengeschriebene Buch mit immer wachsender Spannung. Der Leser wird hineingerissen in eine Dramatik, die höchste politische Bedeutung hat. Die Autorin ist nicht nur ein manchmal pubertäres Biest, sondern auch ein Genie der politischen Intelligenz. Zwischendurch in diesen bewegenden Notizen rauscht dann ein Satz wie ein Fanal, und man wird den nicht vergessen können: „Wie bitte, Ihr wusstet nicht, dass der Gulag nicht mit Stalin geendet hat?“

Die Autorin gehört zu diesen mutigen Frauen, die sich in die orthodoxe Erlöserkirche eingeschlichen hatten und dort ihren Protest gegen das Regime Putin und gegen die bedingungslose Unterstützung Putins durch diese Kirche und Ihren Metropoliten loswird.  (Pussy) Riot heißt eigentlich Revolution. Wir werden dieses Buch ernst nehmen müssen. Gewiss, es ist wie bei vielen Freiheitsbewegungen, die nicht oder noch nicht mehrheitsfähig seien, dass man sie lieber als verrückte Schänder von Heiligtum vor die Gerichte ziehen läßt. Das Urteil gegen diese Bewegung Pussy Riot lautete: Zwei Jahre Lagerhaft irgendwo in Sibirien. Die Mitglieder der Band wurden am 7. März angeklagt und erlebten das, was sich kein Deutscher vorstellen kann, was nämlich schon die Untersuchungshaft für eine Barbarei in Russland ist. Sie werden zu zwei Jahren Haft in Mordwinien verurteilt. Die Autorin wird im Prozess dieses Strangulierens und dieses Gequältwerdens immer stärker.

In ihrer Schlusserklärung am 8. August 2012 erreicht Nadja Tolokonnikova die Stringenz und Klarheit der Gedanken und der Freiheitsphilosophie von Jean-Paul Sartre. Sartre schrieb auf dem Höhepunkt der deutschen Besatzung und des Kollaborationsregimes Vichy: „Nie fühlten wir uns freier als unter der deutschen Besatzung“, was natürlich meinte, die Freiheit war denen, die ständig okkupiert und zensiert wurden jeden Tag viel bewusster als in bürgerlichen Zeiten demokratischer Freiheit. Tolokonnikova sagt am 08.08.12: „Obwohl wir physisch eingesperrt sind, sind wir freier als alle Menschen, die uns gegenüber auf der Seite der Anklage sitzen“. Am Anfang des Buches hält man sie für eine totale Gegnerin des Christentums. Aber in ihrer Schlusserklärung vor dem Gericht gibt es große theologisch begründete Sätze. Sie glaubt, dass der christliche Glaube die Suche nach Wahrheit unterstützt. Und eine ständige Überwindung dessen sei, was einmal war. „Nicht umsonst war Christus bei den Prostituierten, er sagte den Gestrauchelten müsse geholfen werden. ‚Ich vergebe Ihnen‘“.

Aber irgendwie findet sie das in dem Prozess gar nicht, der ja nun unter dem Banner des christlichen Glaubens steht. „Ich habe den Eindruck, dass die Seite der Anklage das Christentum mit Füßen tritt“. Harter Tobak, aber die Wahrheit und eine klare Sprache. Dazu gehört bei diesen jungen Frauen auch etwas bürgerlich nicht so Angenehmes: „Habt keine Scheiße im Kopf. Stürzt Diktaturen!“ schreibt sie einmal. Die Punk Kultur hat es schon weit gebracht, aber – und das kann die Autorin nicht diskutieren – die Mehrheit der Bevölkerung ist mit diesem Putin zufrieden.

Dieser Putin hat alles unter seiner Kontrolle. Wenn etwas zum Obersten Gericht oder Staatsanwalt verbracht wird, ist es das Gleiche, wie wenn es Putin vorgelegt wird, der das alles entscheidet. Und zugunsten seiner westdeutschen Weichmänner und Frauen immer noch es schafft, solche biederen Sätze zu sagen nach dem Urteil gegen Pussy Riot: „Sie haben es bis vors Gericht geschafft. Und das Gericht brummt ihnen zwei Jährchen auf. Ich habe damit nichts zu tun“. Das ist dieser Lügenstaat: Es gibt keine russischen Armeesoldaten in der Ukraine. Es gibt keine in Syrien. Die russische Luftwaffe bombardiert in Syrien nur die IS – am ersten Tag erfahren wir über Gewährsleute, dass nur die Stellungen der besten Oppositionellen, der Freien Syrischen Armee bombardiert werden.

Das Buch ist in seiner gewollten Hektik von Einzelteilen, Artikeln, Briefauszügen, Erklärungen, Beobachtungen eine atemlose Darstellung. Sie besteht aus Imperativen, die die Autorin für ihre Kolleginnen gibt, aus Beschreibungen der Feigheit und des Mutes von Zeitgenossen und immer wieder aus den Versuchen einer Demaskierung Putins, die umso glaubwürdiger wirken, als sie ganz unkommentiert daherkommen. Viele Leser werden sich stören an der manchmal Skandal- manchmal Fäkal- Sprache, die die Autorin benutzt. Z.B. in so einer Eintragung: Die männerdominierte Welt der Politik neige dazu, Macht und Penislänge gleichzusetzen. „‘Sieh her, mein Schwanz ist riesig!‘, sagt dir Putin durch seine Militärparaden und die Kriege, die er anzettelt“. Es gibt für diese zu allem entschlossenen jungen Band-Frauen keine Geschmacksfragen mehr. „Freiheit für die rebellierende Möse!“

Ein Beispiel für eine Beschreibung des Wladimir Putin: Putin habe es sich zur Eigenschaft gemacht warten zu lassen. 2 Stunden warteten die Eltern der Schüler, die bei einer Flugzeugkatastrophe ums Leben gekommen waren, 4 Stunden wartete der gestürzte ukrainische Präsident Janukowitsch auf Putin. 3 Stunden wartete einmal der US-Außenminister Kerry auf ihn. 40 Minuten die deutsche Bundeskanzlerin. Allen diesen Sterblichen will Putin sagen, dass er der russische Zar ist, Moskauer Autokrat, des dritten Rom Beschützer. „Und sie alle sind einfach nur Scheiß“. Ein großer Mann der Geschichte lässt warten, er hat das nötig, er braucht das.

Die Autorin beschreibt diese unglaubliche Härte des Lagerlebens, das sie aber als Aufforderung nimmt, stärker zu werden und mit all dem fertig zu werden. Sie macht einen Hungerstreik, versucht, Bedingungen durchzusetzen. Es gibt in diesem Sibirien eine unfassbare Kälte. Fünf Lagen Pullover schützen nicht vor dieser durchdringenden Kälte. Sie schreibt selbst mit dieser wahnsinnigen Disziplin während des Streiks: „Ich habe großen Hunger, aber es fällt mir nicht schwer mich zu beherrschen, in dem Sinne, dass es mich nicht zum Essen hinzieht, weil ich weiß, dass das eine Art Verlockung Satans ist.“ Später schreibt sie, alle halten den Streik für Wahnsinn, sie unterstützen sie, aber ihnen sei klar, „dass ich dabei bin meine eigenes Todesurteil zu unterschreiben“.

Das Buch macht deutlich, überdeutlich, was dieses Russland noch alles vor sich hat und woran es trotz der Jubeljahre unter dem Geheimdienstpräsidenten Putin nicht vorbeikommen wird: Eine umfassende Aufarbeitung der eigenen Gulag Vergangenheit, die ja jetzt noch gar nicht beginnen kann, weil der Gulag ja weitergeht, auch mit solchen jungen Frauen wie der Nadja Tolokonnikowa. Interessant die sehr seltenen Sympathiebekundungen auch von Seiten der Aufseher. Durch die Gitterstäbe sagt ihr ein Aufseher. „Weißt Du, der Bürgerkrieg ist nicht mehr weit. Alles läuft darauf hinaus. Putin hält sich zäh. Von selbst geht der nicht. Eines Tages sehen wir uns auf derselben Seite der Barrikade wieder.“ Wie soll das gehen, sagt die erstaunte Nadja, „mit Ihren Schulterklappen“? Der Aufseher antwortet. Einfach. „Ich habe nicht diesem Staat Treue geschworen. Denen bin ich nichts schuldig. Ich nehm die Schulterklappen ab und gehe mit euch“. Und die aufgeregte Nadja: Wann?

“Wenn der Aufstand beginnt. Der gnadenlose russische Aufstand“. Als sie krank vom Hungerstreik im Gefängniskrankenhaus liegt, kommt der Direktor und sagt: Wollen Sie mit dem Bevollmächtigten für Menschenrechte beim Präsidenten der RF sprechen? Man reicht ihr ein Mobiltelefon. Der Bevollmächtigte sagt Nadja: „Hören Sie mit dem Hungerstreik auf. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass sich die Haftbedingungen in ihrer Kolonie in Mordwinien verbessern“. Sie erlebt das als große Genugtuung.

Das Gefängnis – so bekommt sie heraus – radierte alle sozialen und kulturellen Unterschiede der Menschen aus. Deshalb wäre es gut, eine globale politische Bewegung ins Leben zu rufen. Eine solidarische Gefangenenbewegung. Man kann das Buch nicht ausschöpfen. Sie beschreibt, was Jesus Christus blühen würde heute in Russland, wenn er so predigen würde, wie er das getan hat.

Erfassung als ausländischer Agent; 30 Tage Gefängnis wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz: 6 Monate für die Beleidigung der Gefühle Gläubiger; 2 Jährchen nach § 282 ohne Aussicht auf Rabatt; 15 Jahre für Extremismus. Das alles würde Jesus Christus im heutigen Russland Putins blühen.  

Diese Frau ist das lebendige Bild von jemandem, der nur etwas bewegen kann. „Warte nicht, bis man es Dir auf dem Silbertablett serviert. Selbst der allerbeste, ideale Präsident wird dir einen Scheiß auf dem Silbertablett servieren. Hier wird nichts serviert. Bei uns ist Selbstbedienung“. Das ist der Imperativ am Ende dieses bewegenden Buches.

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Quelle

Rupert Neudeck 2016Grünhelme 2016

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