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Der Falke – ein magischer Vogel

Alles, fast alles, was man immer schon über das schnellste Tier der Welt wissen wollte, kann man nun auf schnellstem Wege erfahren. Aus einem faszinierenden Buch einer Naturwissenschaftlerin und Historikerin – ausführlich vorgestellt von Professor Udo E. Simonis

Falken sind die schnellsten Tiere der Welt, sind von einer berückenden Schönheit und strahlen eine gefährliche Erhabenheit aus. Doch was sind sie wirklich, wie sieht ihr Eigenleben aus und wie das Zusammenleben der Menschen mit ihnen?

Helen Macdonald verbindet in ihrem Buch auf  beeindruckende Art die Natur- und die Kulturgeschichte des Falken und erkundet damit die ganze Welt dieser Räuber, die den Menschen seit jeher magisch angezogen haben. Sie selbst ist fasziniert von der Idee, Fakten, Anekdoten und Bilder auf eine Weise zu verweben, dass sich, durch die Brille der Beziehung zu den Falken betrachtet, auch unsere Stellung in der Welt ein Stück weit besser erschließt.

Durch die Falken, deren Vielfalt und Eigenart sie beschreibt, erfährt der Leser nicht nur viel über die Biologie und das Verhalten dieser Tiere, sondern auch über sich selbst und über die menschliche Zivilisation. Die Autorin ist der festen Überzeugung, dass wir unbedingt begreifen sollten, was eigentlich hinter unseren Bedeutungszuschreibungen an wilde Tiere steht. Wie und warum wir Tiere so sehen, wie wir sie sehen, was wir an ihnen wertschätzen und warum wir sie für schützenswert halten. Diese Fragen gehen über das rein akademische Interesse hinaus, sie führen uns letztlich – so sagt sie – zu der entscheidenden Frage, wie wir die natürliche Umwelt noch retten können.

Das Buch beginnt mit einem spektakulären Bild: Im Jahr 1998 hatte der Falkner Ken Franklin ein junges Wanderfalken-Weibchen darauf trainiert, sich aus einer Höhe von 16.000 Fuß zusammen mit einem in Speedsuit gekleideten Fallschirmspringer aus dem Flugzeug zu stürzen und im freiem Fall zu Boden zu gehen. Videoaufnahmen zeigen das Tier in seinem Element und messen eine Sturzgeschwindigkeit von über 320 Stundenkilometern – was den anwesenden  Naturschriftsteller Kenneth Richmond zu der Vermutung brachte, dass wir Menschen im Vergleich zu Falken nur „zweitklassische Wesen“ seien.

Was also ist das für ein Tier, das so große Gefühle auslösen kann? Darum geht es im ersten Kapitel des Buches, in dem die biologischen und ökologischen Eigenschaften des Falken beschrieben und die wildbewegten Reaktionen auf eine Erscheinung erklärt werden, die letzten Endes doch nur ein Vogel ist.

Es gibt etwa sechzig verschiedene Arten in der Familie Falconidae, den Falkenartigen. Eine  Untergruppe sind die „Echten Falken“ der Gattung Falco, deren Arten sich vor sieben bis acht Millionen Jahren herausgebildet haben. Die Gattung Falco wird meist in vier Untergruppen gegliedert: die Insekten fressenden Baumfalken, die kleinen Zwergfalken, die sich von anderen Vögeln ernähren, die Turmfalken und die Großfalken, die wiederum in zwei Untergruppen unterteilt werden: die Wanderfalken und die Wüstenfalken, deren Weibchen deutlich größer sind als die Männchen. Beide sind aktive Jäger der Lüfte mit auffallend dunklen großen Augen. Wanderfalken erbeuten fast ausschließlich Vögel, während Wüstenfalken auch Säugetiere, Reptilien und Insekten kröpfen.

Die Autorin zitiert in diesem Zusammenhang Kenneth Richmond, für den der Wanderfalke ein Vogel mit „perfekten Proportionen und feinen Zügen, mit Wagemut und Intelligenz, spektakulärer Flugleistung und unerreichter Raffinesse bei der Jagd – ein Alleskönner, ein natürlicher Aristokrat“ ist. Diese symbolische Adelung entspricht einer langen Tradition.

In Persien und Arabien wird der Wanderfalke Schahin genannt, das farsische Wort für „Herrscher“. Auf  Englisch heißt der Wanderfalke  peregrine. Und Falco peregrinus ist geostrategisch betrachtet der erfolgreichste Vogel der Welt: Mit Ausnahme der Antarktis, Islands und einiger ozeanischer Inseln ist die Spezies auf allen Kontinenten und in einer enormen Vielfalt von Unterarten zu finden. Die Farbpalette reicht vom hellen chilenischen Falken bis zum dunklen Falken auf  Madagaskar, während der Wanderfalke in Nordafrika eine blaue bis rostrote Färbung hat.

Der größte Falke gehört zu jener Untergruppe der Gattung Falco, die sich durch ihr weiches Gefieder auszeichnet und unter dem Namen „Wüstenfalke“ geführt wird. Der Gerfalke Falco rusticolus ist ein besonders großes Tier dieser Art; die Weibchen erreichen fast die Statur eines Adlers. Seiner Größe und Schönheit verdankt der Gerfalke sein hohes Ansehen in allen Kulturen, in denen Falknerei betrieben wird. Ein anderer Wüstenfalke, der Sakerfalke (Falco cherrug), wird traditionell in der arabischen Falknerei eingesetzt. In Indien und Pakistan gibt es vorwiegend den Lugger- oder Laggarfalken. Auch in Australien gibt es einige Großfalken, die aber weder den Wander- noch den Wüstenfalken unmittelbar zuzuordnen sind.

An dieser Stelle hätte sich der Leser mehr statistisch und geographisch  aufbereitete Empirie zur globalen Verteilung der Falken vorstellen können, doch da gab es für die Autorin wohl Interessanteres zu betrachten: Wie ist es, ein Falke zu sein, was ist die Besonderheit seines Fluges, seiner Migration, seines Brutverhaltens?  Die Welt, die der Falke erlebt, so könnte man meinen, müsse ganz ähnlich wie unsere sein, nur dass er sie intensiver wahrnehme. Das Anliegen der Autorin ist es, diese Annahme zu widerlegen.

Dank seines extrem schnellen Sinnes- und Nervensystems ist der Falke zunächst einmal viel reaktionsfähiger. Während das menschliche Gehirn maximal 20 Ereignisse pro Sekunde verarbeiten kann, sind es beim Falken bis zu achtzig. Da der Falke im Vergleich zum Menschen mehr Dinge sehen kann, die zeitlich näher beieinander liegen, ist er beispielsweise in der Lage, bei voller Fluggeschwindigkeit den Fuß auszustrecken und sich aus der Luft einen Vogel zu greifen. Hat ein Falke seinen Blick auf einen Gegenstand gerichtet, nickt er typischerweise einige Male mit dem Kopf. Mithilfe dieser Parallaxe ermittelt er dessen Größe und Entfernung. Auch seine Sehschärfe ist erstaunlich: ein Falke kann ein zwei Millimeter großes Insekt auf eine Entfernung von achtzehn Metern erkennen. Das ist möglich, weil seine Augen riesig groß sind, sich in der Netzhaut keine Blutgefäße befinden und das Auge eine große Dichte an Sinneszellen hat.

Aber Falken sehen nicht nur besser und klarer als Menschen, sie sehen auch anders. Sie können polarisiertes Licht sehen, was bei bewölktem Himmel von großem Vorteil ist, und sie sehen ultraviolett. Auch das Atmungs- und Kreislaufsystem ist beim Falken weit effizienter als beim Menschen. Sie trinken zum Beispiel nur unregelmäßig, weil die meiste Flüssigkeit, die sie benötigen, aus ihrer Beute kommt.

Für nichts wird der Falke so sehr gerühmt wie für seinen Flug. Sein Körper ist im Verhältnis zur Flügelfläche vergleichsweise schwer. Die Flügel sind lang und spitz und nur leicht gewölbt; dadurch ist der Körper im Flug eher widerstandsarm. Die Jagdstrategien des Falken sind äußerst raffiniert. Oft stoßen sie mit der Sonne im Rücken auf  ihre Beute hinab, oder sie nutzen den blinden Fleck ihres Ziels, um sich diesem unbemerkt von hinten oder unten zu nähern. Wenn Falken auf Tiere am Boden niedergehen, fliegen sie schnell und ohne die Flügel zu bewegen, um von vorn so schmal wie möglich zu erscheinen. Der rasante Flug ist für den Körper des Falken jedoch eine große Belastung. Bei Gerfalken wurden bei horizontalem Flug nahe über dem Boden Geschwindigkeiten von 130 Stundenkilometern gemessen; Wanderfalken erreichen im Sturzflug leicht mehr als die doppelte Geschwindigkeit.

Auch das Migrationsverhalten ist besonderer Art. Falken können lange Strecken zurücklegen. Ein wichtiger Grund der Migration ist natürlich die Nahrung. Im kirgisischen Tian-Shan-Gebirge folgen die Sakerfalken, sobald der erste Schnee fällt, ihrer Beute weit hinab in die Ebene. Die Präriefalken der Rocky Mountains ziehen im Sommer in höher liegende Gegenden, da sich ihre Hauptbeute, der Townsend-Ziesel, im Boden verkriecht, um der Hitze zu entkommen. Die in der Arktis brütenden Tiere fliegen jeden Frühling und Herbst Tausende von Kilometern weit. Aus Grönland ziehen die Wanderfalken im Winter bis nach Peru, aus Sibirien nach Pakistan oder sogar bis nach Südafrika. Umgekehrt sind Falken in Regionen, in denen es das ganze Jahr über ausreichend Nahrung gibt, meistens sesshaft.

Auch das Brutverhalten der Falken hat seine Besonderheiten. Die Brutzeit richten sie danach aus, wann die meiste Beute zu machen ist. Das Brutrevier hängt von der in der Umgebung verfügbaren Beute ab; beim Präriefalken kann es zwischen 30 und 400 Quadratkilometer umfassen. Nicht selten wechseln Falken in ihrem Brutrevier von Jahr zu Jahr die Niststätte. Aber: Falken selbst bauen keine Nester. Das hat Vor-  und Nachteile. Werden sie vertrieben, gilt es schnell passende Ausgleichsplätze zu finden. Oft entsprechen die  Nistplätze aber alten Traditionen. Die Brutstätten der Gerfalken in Grönland sind zum Teil Tausende von Jahren alt. Die zunehmende Zahl urbaner Falken hat jedoch zu einer besonderen Art des Wettbewerbs um lokale Zuneigung geführt (dazu mehr weiter unten). In vielen Fällen haben Bemühungen von Naturschützern, künstliche Nistplattformen zu errichten, Erfolgt gehabt. Es gibt aber auch Falken, die keiner derartigen Erweiterung ihres Habitats bedürfen.

Im Allgemeinen sind Falken monogam. Das Federkleid ist in der Balz nicht sonderlich farbenprächtig. Dann beeindruckt das Männchen durch atemberaubende Balzflüge in der Nähe möglicher Brutstätten. Die Paarbildung wird dadurch besiegelt, indem das Männchen dem Weibchen Beutetiere bringt und elegante Darbietungen am Nistplatz mit Rufen und Verbeugungen vollführt. Das Gelege besteht aus drei bis fünf bunt gefärbten Eiern, die das Weibchen etwa einen Monat lang bebrütet.

Die ersten unsicheren Flugversuche unternehmen die Kleinen im Alter von vierzig bis fünfzig Tagen. Daraufhin bringen ihre Eltern ihnen die strategischen Grundlagen des Jagens im Flug bei, indem sie getötete Beute über ihnen abwerfen und von ihnen auffangen lassen. Nach vier bis sechs Wochen beginnen die Falkenjungen dann ihre Beute selbst zu schlagen und das elterliche Revier zu verlassen. In diesem Zeitraum ist ihre Sterblichkeitsrate relativ hoch. Viele Autoren, die den Falken für das effizienteste Raubtier der Welt halten, wundern sich darüber. Solche Überraschungen, so sagt die Autorin, erlebt man aber immer dann, wenn sich zwischen Biologie und Mythologie eine allzu große Kluft auftut. Den Mythen und den Bedrohungen der Falken sind daher eigene Kapitel des Buches gewidmet.

Mythen sind Erzählungen, die die Werte und Interessen der Erzähler transportieren, indem sie Dinge, die bloße Zufälle der Geschichte oder der Kultur sind, als naturgegeben, als wahr und offensichtlich darstellen. Und davon gibt es in Bezug auf Falken besonders viele. Ein Falke kann für jede Art von Kollektiv stehen, für eine Familie, eine Sippe, ein Unternehmen, ein Land, eine Band, eine Marke (S. 63). Die internationalen Märkte von heute borden über vor hoffnungsfrohen Aneignungen von allerlei Falkeneigenschaften. Doch die Autorin beginnt stattdessen mit einer Geschichte über „Göttliche Falken“.

Im Louvre von Paris thront eine Bronzefigur auf einem Sockel, die einen Mann mit Falkenkopf darstellt. Seit 3000 Jahren steht er in Positur, eine von zahlreichen Ausprägungen des altägyptischen Gottes Horus.  Im prädynastischen Ägypten wurden frühe Formen des Gottes in Orten wie Hierakonpolis verehrt, der „Stadt des Falken“. Doch Horus war nur der berühmteste Falkengott.

Echte Falken galten immer als lebende Versinnbildlichung der durch Falkengötter repräsentierten vielfältigen Kräfte. Jedes Jahr wurde ein Falke zum neuen König des Tempels von Edfu gekrönt, des Zentrums des Horus-Kults. Es gab andere Falkenkulte anderswo. So wurde zum Beispiel auch der altiranische Gott des Feuers und Wassers, Xvaranah, als Falke dargestellt.

In diesen alten Mythen ist der Falke nicht nur Schöpfergott, es wird auch eine Verbindung zur menschlichen Seele hergestellt: Falken werden so zu Boten zwischen Himmel und Erde, zwischen Menschen und Göttern. Historisch schwirren Falken durch viele Gründungslegenden von Dynastien und Imperien. Das ägyptische Totenbuch hat zum Beispiel die Verstorbenen als fortfliegende Falken beschrieben. Der Pharao konnte nach dem Tod in Gestalt eines Falken seine eigenen sterblichen Überreste besuchen. Derlei Assoziationen und die damit verbunden Tabus bestehen zum Teil bis heute fort: Einen Falken zu töten gilt in bestimmten Gegenden Mittelasiens noch immer als Verbrechen, das moralisch auf einer Stufe mit Mord steht.

Ein Buch über Falken geht nicht ohne ein Kapitel über die Falknerei. Das Lexikon definiert Falknerei als das Abrichten – fachlich: das Abtragen – von Greifvögeln zur Jagd auf freilebendes Wild. Helen Macdonald ist der Meinung, dass dies eine völlig unzureichende Definition sei. Da gäbe es doch auch die gesellschaftliche, emotionale und historische Strahlkraft dieser Tätigkeit, die die Menschen seit Jahrtausenden fasziniert und eine große Vielfalt an Formen entwickelt habe. Und sie findet dafür höchst spektakuläre Worte: „In den duftenden Salbeisteppen Nordamerikas suchen Falkner nach dem größten Beutetier des Falken, dem Beifußhuhn. Arabische VIPs landen in Pakistan mit ihren Falken in Privatjets auf speziell dafür errichteten Landebahnen. Im schottischen Moor stapfen in Tweed gekleidete, regendurchnässte Gestalten durch die Heide, um mit ihren Wanderfalken Moorschneehühner zu fangen“ (S. 90/91). Es gäbe zwar Menschen, die die Falknerei als anachronistisch ansähen. Doch im heutigen  Großbritannien sei die Falknerei so populär, wie in den letzten 300 Jahren nicht mehr.  

Die Anfänge der Falknerei liegen in der Tat lange zurück. Seit über 6000 Jahren setzt der Mensch Greifvögel als Jagdpartner ein. Jede Falknereikultur hat ihren eigenen Schöpfungsmythos, bei dem die Entstehung der Falknerei stets in einer vergangenen Gesellschaft verortet wird. Die Aufgabe des Falkners umfasst – über die Zeit im Wesentlichen unverändert  – drei Hauptaufgaben: Er muss den Falken zähmen, ihm eine bestimmte Art des Jagens beibringen, und ihn darauf abrichten, zu ihm zurückzukehren.

Ein besonderes Problem dabei: Falken apportieren nicht. Hat ein Falke ein Tier geschlagen, muss der Falkner zu ihm gehen und ihn für seine Mühen belohnen, während er ihm behutsam die Beute wegnimmt. Nach monatelanger Arbeit und intensiver Vorbereitung ist dann die wichtigste Aufgabe des Falkners die, dem Falken die Gelegenheit zu geben, seine großen natürlichen Fähigkeiten in größtmöglichem Umfang zu zeigen. 

Es gibt zwei verschiedene Flugarten, auf die Falken abgerichtet werden: Faustfalken heben nach dem Enthauben direkt von der Faust des Falkners ab, Anwarter stoßen aus großer Höhe auf das Beutetier hinab. Letzteres ist eine komplizierte Angelegenheit, zeigt aber am besten, was eine Beizjagd sein kann: Sobald der Falke die Beute erspäht, stürzt er in senkrechtem Sturzflug hinab und fliegt mit atemberaubendem Tempo auf sein Opfer zu, um es abzufangen. Jahrhundertlang wurden Falken bei der Beizjagd mithilfe einer kleinen Schelle geortet; Dank moderner Telemetriesysteme mit einer Reichweite von vielen Kilometern ist heutzutage die Wahrscheinlichkeit, einen Falken zu verlieren, erheblich gesunken.

Das Abrichten der Falken erfolgt ausschließlich über positive Verstärkung. Bestrafung ist ausgeschlossen, weil Falken im Gegensatz etwa zu Hunden oder Pferden keine hierarchischen Strukturen oder Dominanzverhältnisse kennen. Der Frage, wie und wie unterschiedlich das Abrichten in den verschiedenen Falknereikulturen der Welt erfolgt und welche Rückwirkungen das auf die jeweilige Gesellschaft und insbesondere die Erziehung hat und gehabt hat, sind weitere  lesenswerte Passagen des Kapitels gewidmet – darunter eine über „Der Falkner als Ökologe“. Die Falknerei wird dabei als „grüne“ Aktivität gesehen, da der Falkner keine Eingriffe in die Landschaft vornimmt, keine Sportanlagen oder Golfplätze baut, Ungeziefer vernichtet oder den Zugang zu öffentlichen Orten beschränkt.

Dennoch – und trotz alledem – sind auch die Falken gefährdet. Der Falke hat viele Feinde, insbesondere den Menschen und seine Chemie. Da gab es in der Geschichte perverse Fälle: Das Töten von Greifvögeln war für britische Wildhüter im 19. Jahrhundert Einstellungsbedingung. Für manchen Gentleman wurden Falken zu Gegnern im Duell. Das Töten „schlechter“ Vögel wurde zeitweise als eine moralisch und biologisch verantwortungsbewusste Tat erachtet. In den 1920er Jahren erschoss die wichtigste Vogelschutzorganisation der USA, die Audubon Society, in ihren Vogelschutzgebieten alle Greifvögel – und noch in den 1950er Jahren wurden in mehreren Ländern Europas Belohnungen für tote Greifvögel ausgelobt. 1958 sagte ein Delegierter der Weltnaturschutzorganisation (IUCN) zu Phyllis Barclay-Smith, sie könne keine Vogelschützerin sein, wenn sie sich für den Schutz von Greifvögeln einsetze.

Der zweite Großangriff auf die Falken kam aus der chemischen Industrie. Die Menge an DDT, die damals von der Agrarindustrie eingesetzt wurde, war exorbitant. In den Obstplantagen im Osten der USA reicherten sich durch wiederholtes Ausbringen mehr als 14 kg pro Morgen an. Am schlimmsten traf es den großen Wanderfalken mit dunkler Haube, der über den Plantagen auf Beutejagd ging.

In beiden Fällen kam die erste Kehrtwende durch eine Frau. Rosalie Edge kaufte 1934 den „Blue Mountain“ in Pennsylvania, an dem vorüberziehende Greifvögel in so großer Zahl abgeschossen worden waren, dass Schrotthändler die leeren Patronenhülsen zu sammeln begonnen hatten. Rachel Carson veröffentlichte 1962 ihren Enthüllungsbericht über die Pestizidindustrie und ihre Produkte, der weltweit einen panikartigen Erkenntnissprung verursachte; urplötzlich waren Falke und Mensch Brüder im Leid der industriellen Verseuchung geworden.

Die „Klinische Ornithologie“ tat ein Übriges, indem aktive Eingriffe  in die Erhaltung des Lebenszyklus gefährdeter Vögel gestartet wurden. Ein berühmtes Beispiel wurde die Falkenzucht der Cornell University in Ithaca. Die Wiederauswilderungsaktivitäten des Peregrine Fund waren derart erfolgreich, dass Wanderfalken in den USA mittlerweile fast in ihrem gesamten ehemaligen Verbreitungsgebiet brüten. 

Helen Macdonald nennt es „eine herausragende Erfolgsgeschichte der Biologie des Artenschutzes“ (S. 154). Eine ökologische Wunde war geheilt, der Wanderfalke gerettet – Triumph der Naturschützer. Aber die Geschichte ist mitnichten zu Ende, sagt sie, und zitiert schwedische Forscher, die in den Eiern von Wanderfalken hohe Konzentrationen von Flammschutzmitteln gefunden haben und amerikanische Forscher, die feststellen mussten, dass Wanderfalken, die in Südamerika überwintern mit hohen DDE-Belastungen zurückkehren. In der Mongolei, der Hochburg des Sakerfalken, hat die Regierung auf  weiten Gebieten Rodentizide ausbringen lassen, was zu einem rapiden Rückgang in den Populationen der Saker geführt hat. Dann aber ist da auch noch die alte, persistente Gewohnheit: Obwohl es mittlerweile in den meisten Ländern der Welt verboten ist, Falken zu töten, werden viele nach wie vor erschossen, gefangen und vergiftet.

Es ist wohl kein Wunder, dass ein Tier, das so schnell und präzise ist wie der Falke in vielfältiger Weise in die kriegerische Ikonographie verwoben wurde. Viele Falkengeschichten des 20. Jahrhunderts handeln von Spionage. Diese Geschichten sind zum  Teil reine Erfindung, zum Teil sind sie aber auch wahr – und dabei nicht minder wunderlich. Die Autorin widmet dem ein ganzes Kapitel. Der Rezensent überlässt es dem Leser, dessen Besonderheiten selbst zu entdecken, um stattdessen das letzte Kapitel des Buches anzugehen: Urbane Falken.

Was den Ornithologen lange Zeit als ganz und gar unvereinbar erschien – der Falke und die Stadt – findet gar nicht so selten zusammen. Es gibt zunehmend Falken, die in der Stadt leben. Falken scheinen hohe Gebäude besonders zu lieben, die sie ähnlich gut vor Störungen durch den Menschen schützen wie einst die rauen Klippenwände des Gebirges. Heute nisten sie in Kathedralen und in Kathedralen des Kapitalismus, den Wolkenkratzern. In dem Maße wie riesige Gebäude Symbole unternehmerischer oder persönlicher Macht sind, wurde es von symbolischer Bedeutung, wenn ein Falke ein solches Haus als Rast- oder Nistplatz auswählt.

Überall in den USA, so berichtet die Autorin, haben sich Unternehmen das Bild der auf ihren Konzernzentralen nistenden Falken gegriffen, um damit ihr eigenen Umweltbewusstsein zu bekunden. Das Wanderfalkenpaar auf dem Kodak-Gebäude in Rochester zählt zu den berühmtesten Stadtfalken der Welt . Und: Es wurde dorthin gelockt. Mit der Installierung von Birdcams begann eine Ära, in der echte Präsenz durch „Telepräsenz“ ersetzt wurde. Da gibt es denn auch Stimmen, die sich dagegen aussprechen. Die Autorin nimmt diesen Disput aber eher gelassen: „Dank der Falken-Cams bleibt der privilegierte Blick auf die Natur wenigstens nicht den Experten vorbehalten…. Die Live-Übertragungen sorgen für eine Demokratisierung des Wissens über die Natur“ (S. 213/4).

Das Buch endet mit einer Zeittafel (hier nur einige Auszüge): Vor 8-7 Mio. Jahren: Evolution der meisten heutigen Spezies aus der Gattung Falco; 3500 v.Chr.: Falkenverehrung in der Girza-Kultur (Ägypten); 800 n.Chr. erste Falknerei in Großbritannien; 1495: Englische Verordnung: Außer der Krone ist es keinem Bürger gestattet, einen Falken zu halten. Die Strafe umfasst ein Jahr und einen Tag Haft, eine Geldbuße und die Beschlagnahme des Falken;1860: Wanderfalken nisten auf der St. Paul’s Cathedral in London; 1999: Der Wanderfalke wird in den USA von der Liste der bedrohten Arten gestrichen; 2001: Massensterben von Sakerfalken in der Mongolei.

Fazit: Ein fantastisches Buch einer Autorin, die fachliche Kompetenz und romanhafte Spannung zu verbinden versteht, ein Buch, dem man viele Leserinnen und Leser wünscht – was in der Folge dazu führen möge, ein Buch über „Falken in Deutschland“ auszuloben.

 Helen Macdonald „Falke“ – Biographie eines Räubers
Aus dem Englischen von Frank Sievers

pixabay.com | Alexas_FotosC.H.Beck Verlag
Quelle

Udo E. Simonis 2017 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Redakteur des Jahrbuch Ökologie

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