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Designed by Nature: Die Natur als genialer Gestalter

Wie kommt der Leopard zu seinen Flecken, das Zebra zu seinen Streifen? In der Natur finden sich Myriaden von Mustern und Formen. Woher kommen sie, welche Prinzipien lassen sie entstehen? Ein Buch darüber – vorgestellt von Professor Udo E. Simonis

„Die Welt ist verwirrend und turbulent, doch wir verstehen sie, indem wir in  ihr eine Ordnung entdecken“ (S. 6), so beginnt Philip Ball sein Buch über die Natur als genialer Gestalter, als größter aller Designer. Doch wie verstehen wir die Muster und Formen der Natur? Indem wir ihre komplexe Fülle in einfache Regeln aufschlüsseln, um in dem, was zunächst wie Chaos erscheint, eine Ordnung zu finden. Wir alle sind insofern „Mustersucher“, sagt der Autor  – oder sollten es werden, wünscht sich der Rezensent.

Wie aber beginnen? Wenn wir selber Muster herstellen, wird jedes Element (nach sorgfältiger Planung und Konstruktion) in Form geschnitten und eingepasst; die Erstellung eines Musters erfordert einen Mustermacher. Wenn die Menschen in früheren Zeiten ein Muster in der Natur erkannten, stellten sie sich diese meist als Zeichen eines allmächtigen Schöpfers vor. Der moderne Mensch stellt sie sich eher vor als von den Erfordernissen der biologischen Evolution ausgewählt oder verfeinert und sieht sie aus den Grundprinzipien der Physik und Chemie entstehen. Doch damit wird das Rätsel nur noch größer. Denn wie schafft es die Natur, sich selbst zu organisieren und neue Muster ohne Vorlage zu erzeugen? Und haben diese Muster etwas gemeinsam, oder ist ihre äußerliche Ähnlichkeit reiner Zufall?

Der Autor zitiert zur Beantwortung dieser zentralen Frage den schottischen Zoologen D’Arcy Wentworth Thompson, der in seinem Buch Über Wachstum und Form (1917) dieser Frage nachgegangen war, das eine Synthese aus Biologie, Naturgeschichte, Mathematik, Physik und Ingenieurswesen  präsentierte: Die Bildung von Mustern der Natur ist nichts Statisches, sie ist durch Wachstum erfolgt. „Alles ist, was es ist, weil es so wurde“, sagte er. Die Lösung des Rätsels liegt dann aber darin, wie es so geworden ist – wie das Muster wuchs. Thompson wollte mit seiner Studie die Begeisterung dämpfen, mit der man sich damals auf Charles Darwins Theorie der natürlichen Selektion berief. Ball ist der Meinung, dass dieser Hinweis auf die Grenzen von Darwins Theorie zur rechten Zeit kam, aber nicht wirklich mit ihr in Konflikt steht: „In der belebten Welt scheint die Musterbildung sowohl die Optionen für eine adaptive Änderung zu beschränken als auch neue Anpassungsmöglichkeiten zu bieten – also parallel zur und manchmal einhergehend mit der (Darwin’schen) Evolution zu verlaufen“ (S. 8). Sie erzeugt beispielswiese die Fellzeichnung der Tiere, die sich damit tarnen, Räuber warnen oder als Artgenossen erkennen.

Thompsons Buch half auch zu zeigen, dass es kein Zufall ist, dass dieselben Muster und Formen quer durch die Wissenschaften gehen, warum die von Seifenblasen erzeugten Anordnungen jenen von lebenden Zellhaufen ähneln, warum Schneckenhäuser und Widderhörner sich in Spiralen drehen, oder das Rückgrat vieler Tiere wie eine freitragende Brücke geformt ist. In den 100 Jahren seit Thompsons Studie sind viele neue natürliche Muster gefunden und erklärt worden. Viele der dabei entstehenden Fragen sind spannend und schwierig, wobei die Ästhetik einen Großteil der Faszination ausmacht: Viele Muster und Formen sind einfach wunderschön. Dabei sind eine Reihe allgemeingültiger Prinzipien am Werk, die manchmal an einer kleinen Ecke genau so deutlich abzulesen sind wie an einem Panorama.

Ball sagt, dass es kein „Gesetz der Musterbildung“ gibt, wohl aber Rezepte. Mit seinem Buch will er eine Reihe dieser Rezepte präsentieren und erklären – vor allem jene, die die Natur in aller Herrlichkeit erstrahlen lassen. Einige der präsentierten Muster und Formen kann die Wissenschaft noch nicht ganz erklären, andere wurden aufgenommen, weil sie sehr prachtvoll sind. Wissenschaftler müssen analysieren und berechnen, sie müssen aber auch staunen und bewundern können. „Natürliche Muster sind die reine Freude, verweisen jedoch noch auf etwas Tieferes: Sie zeigen, dass wir die Welt, um sie zu verstehen, manchmal nicht nur in ihre Einzelteile zerlegen, sondern sie auch wieder zusammenbauen müssen“ (S. 10). Die Natur bringt mit einfachen Grundprinzipien große Vielfalt und Reichtum hervor. Etwas von dieser grandiosen Schönheit ist in diesem Buch festgehalten.

Worin bestehen diese Prinzipien? Der Autor stellt uns einige davon vor, die die neun Kapitel des Buches bestimmen, die erläutert und begründet werden und mit beispielgebenden Abbildungen – 300 an der Zahl – belegt und illustriert sind. Das erste Grundprinzip (Kapitel 1) ist die exakte Symmetrie, von der sich unendlich viele Beispiele in der Natur finden. Die bilaterale Symmetrie scheint bei Tieren die Standardform zu sein. Fische, Säugetiere, Insekten und Vögel haben alle dieses Attribut. Da sind zum Beispiel die Quallen als Beleg für Symmetrie in der Natur; da sind das Pfauenauge und der Monarchfalter in atemberaubend schönen Farbkombinationen; da ist der Tiger, der Pfau, das Zebra und der Hornfrosch, aber auch die Kreissymmetrie der Krone vom ausgestoßenen Wasser, die auf kunstvolle Weise gebrochen wird, wenn der Rand sich in Tröpfchen teilt.

Das zweite Grundprinzip (Kapitel 2) ist das Fraktal, das identische Aussehen bei unterschiedlicher Vergrößerung. Viele natürliche Fraktale sehen auf den ersten Blick ungeordnet aus: Der Umriss eines Baumes oder Berges weist keine exakte Symmetrie auf, doch darin steckt eine hierarchische Wiederholung der Grundform in immer kleiner werdendem Maßstab. So gesehen ist ein Objekt, das geometrisch sehr komplex wirkt, im Grunde von großer Einfachheit. Die fraktale Verästelung der Bronchien hat eine praktische Funktion – effizient Fluide zu transportieren – während jene der mineralischen Dendrite im Achat keine hat; doch ihre Formen sind ähnlich. Die geologischen Fraktale können bezaubernd sein – im Buch gilt der Mergui-Archipel in Myanmar als Beispiel. Die fraktalen Silhouetten von Bergen können viele Formen annehmen, aber alle haben dieselbe Wiederholung der Form in unterschiedlichen Größen.

Überall in der Natur gibt es als weiteres Grundprinzip Spiralen (Kapitel 3) – vom Haus der Meeresschnecke bis zu den wirbelnden Gasen und Sternen einer Spiralgalaxie. Logarithmische Spiralen wie der Schwanz eines Chamäleons und der Körper eines Tausendfüßlers können durch das Einrollen eines sich verjüngenden Kegels zustande kommen. Von allen Mustern und Formen der Natur übt die Spirale, so meint Ball, die größte Anziehungskraft auf Mystiker wie Träumer aus.

Wir sind aber auch von geheimnisvollen, majestätischen Strömungsmustern umgeben, wie das Kapitel 4 zeigt. Der auf tausende – ja hunderttausende – anschwellende Schwarm von Vögeln bietet einen der erstaunlichsten Anblicke der Natur, der wegen strikter Beachtung einfacher Bewegungsregeln nicht zu Karambolagen führt. Das Mäandern eines Flusses ist dagegen Folge der kombinierten Prozesse von Erosion und Sedimentablagerungen. Auch die Anzahl von Mustern, die durch Sandkörnchen entstehen, die von Wasser erodiert, fortgetragen und neu arrangiert werden, ist immens. Den Dünen und Wellen gilt das mit fantastischen Bildern versehene Kapitel 5.

Warum Bienen es am besten wissen und Schaum die Architekten inspiriert, darum geht es im Kapitel 6 über Blasen und Schaum. Das Kapitel 7 über Kacheln und Reihen zeigt, warum Kristalle nie fünfseitig sind und wie „chemische Gärten“ entstehen. Einige Kristalle haben eine Doppelbrechung, wodurch ein Lichtstrahl, der sie durchdringt, in zwei Strahlen aufgeteilt wird. Brüche und Zerfall kommen uns wie das Gegenteil von Ordnung und Organisation vor, doch können auch sie viele Muster und Formen erzeugen; darum geht es in Kapitel 8. Risse scheinen ein gezacktes Chaos, ein wilder Wirrwarr zu sein. Doch auch sie sind Zeichen eines konkreten Designs, eines Gleichgewichts von Zufall und Determinismus. Die Idee, dass auch Flusssysteme eine Art Rissmuster sind wird deutlich, wenn man einen Fluss mit dem Netz eines Blitzschlags vergleicht – wozu mehrere faszinierende Bilder präsentiert werden.

Das Buch endet mit dem Prinzip Flecken und Streifen (Kapitel 9). Rudyard Kipling hatte in seinem Buch „Genau-so-Geschichten“ (1902) auf höchst fantasievolle Weise erzählt, wie der Leopard seine Flecken und das Zebra seine Streifen bekam. Die heute vorherrschende Erklärung ist, dass sich diese Muster in einem Prozess der Selbstorganisation aus sich selbst heraus bilden. Dabei haben Tiere ihre Musterungen aus einer Vielzahl von Gründen; einige dienen dazu, sie unauffällig zu machen, andere dienen dem Gegenteil, wie das Muster des Pfauenschwanzes zeigt, der zum „Schau mich an“ aufzurufen scheint. Die Fellzeichnung der großen Säugetiere gibt es in einer großen Bandbreite an Mustern, von Flecken und Streifen bis zu Rosetten und polygonalen Geflechten. Reptilien und Amphibien entwickeln besonders farbenprächtige Musterungen. Schmetterlinge sind wahre „Mustererfinder“, mit denen sie sich tarnen, Räuber abschrecken, durch Mimikry schützen oder aber als Artgenossen erkennen und anziehen.

Ist die Natur schöner als „nötig“? Diese Frage stellt Philip Ball zum Schluss, beantwortet sie aber nicht. Es sei zu schwer, eine brauchbare Erklärung für die großartige Regenbogenstreifenbildung einer Dreimasterblume zu finden, während die Streifenbildung beim Baumpilz eher als eine zufällige Folge seiner periodischen Wachstumsphasen entstand. Er hätte sie mit seinem wunderbaren Buch allerdings auch beantworten können, wenn er eine umweltpolitische Deutung des Designs unternommen hätte. „Von der Natur lernen“ war und ist ein wichtiges Postulat der theoretischen und der praktischen Umweltpolitik, das in der Regel mit Hinweisen auf Effizienz und Effektivität natürlicher Prozesse begründet wird. Ginge es in der Umweltpolitik dagegen auch um Schönheit, dann wäre es dieses Buch, aus dem man viel, ja alles Nötige, lernen könnte.

Philip Ball „Designed by Nature: Die Natur als genialer Gestalter“ – online bestellen!

THEIS Verlag
Quelle

Udo E. Simonis 2016 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Redakteur des Jahrbuch Ökologie

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