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Die Irrtümer des Kremls

Warum wir den Krieg im Osten Europas stoppen müssen. Wer darf sich einen Russlandversteher nennen? Zu einer Streitschrift eines wirklichen Verstehers. Von Rupert Neudeck

 

Das ist manchmal so, wenn jemand ganz genau Bescheid weiß in einer sehr aufgeregten Debatte, in der sich viele melden, die nur bedingt Ahnung haben, braucht es kein dickes Buch oder Memorandum, es braucht – ganze 58 Seiten.

Thomas Urban hat mit dieser Streitschrift etwas Vorzügliches erreicht, er hat erst mal den Bereich derer, die sich Russlandversteher schimpfen oder als solche beschimpft werden, beträchtlich eingeschränkt. In seinem Vorwort „Anmerkungen eines Russlandverstehers“ beschreibt, fast möchte man sagen, definiert er erfrischend abseits des verquasten Sprachgebrauchs den Russlandversteher, der er zumindest ist. Der Autor war in Moskau und Kiew im Studium. Nach dem Studium der Slawistik in Köln gab es die Mitarbeit bei Lew Kopelews großartigen Projekt in Wuppertal. Eine zehn-bändige Kulturgeschichte der gegenseitigen Wahrnehmung von Russen und Deutschen. Der Russlandversteher, den wir heute so sehr vermissen, weil er schon gestorben ist, war eben jener Lew Kopelew, der aus Kiew stammte, die meiste Zeit in Moskau verbracht hatte und dann als Dissident ausgebürgert wurde.

Ein Russlandversteher ist Thomas Urban, weil ihn Kopelew zu zwei Büchern und einer Reihe von Essays zu Nabokov, Ehrenburg, Pasternak, Chrosassewitsch und Agejew anregte. Dann, das geht dann noch weiter mit dem Verständnis von Russland: Der Autor hat im Studium auch noch seine Frau gefunden, bei der gemeinsamen Liebe zu russischer Literatur und Kultur. Der eigene Sohn besuchte in Moskau einen russischen Kindergarten und wuchs mit russischen Liedern auf. Urban: „Fast täglich höre ich in den Nachrichten russische Politiker und habe keine Probleme, sie zu verstehen. Ich bin ein Russlandversteher“. Zwei Dutzend Jahre war er für die Süddeutsche Zeitung (SZ) in Osteuropa, seit zwei Jahren in Spanien.

Allein wegen dieser zwei Seiten ist das Buch, das nur ein kleines Heft ist, so wertvoll, es rückt schon auf diesen Seiten etwas zurecht. Es fängt an mit dem Appell und offenen Brief von bedeutenden Politiker und ex-Politiker; ex Kanzler und Ex-Bundesministern: „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ Urban: „Eine gute  Sache. Wer möchte schon Krieg in Europa?-. Aber der Aufruf hatte einen Schwachpunkt. Er kam Ende 2014 um Monate zu spät. Denn es gab längst einen Krieg in Europa.

So lakonisch geht es das kleine Brevier hindurch. Als Putin das Auftreten der „grünen Männchen“ auf der Krim mit den Worten beschrieb: „Es besteht nicht die Absicht, die Krim an Russland anzuschließen“, erinnert sich der Autor an den wunderbaren Satz eines Walter Ulbricht: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“.  Ich will aus der gelungenen Aufdeckung aller Rohrkrepierer der vergangenen drei Jahre nur einige aufspießen. Dem Ex-Ministerpräsidenten Matthias Platzeck – der die Annexion der Krim gegen die UNO und andere Gremien legalisieren möchte, würde ein Studium der Details nicht schaden. Während der Abstimmung auf der Krim unterlief dem von Putin eingesetzten Rat für Menschenrechte ein schwerer Fehler. Er stellte aus Versehen eine Analyse auf die Website, die auch sofort wieder runtergenommen wurde. Nur 30 bis 50 Prozent hatten sich am Referendum beteiligt und nur zwischen 50 und 60 Prozent hätten für den Anschluss gestimmt. Nach diesen Zahlen haben also nur zwischen 15 und 30 Prozent den Wahlberechtigten den Vorstoß Putins unterstützt.

Ein wirklicher Russlandversteher kann sich trauen, unserem ewigen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der schon jenseits von Kritik und Skepsis in einem Olymp allgemeiner Zustimmung sich bewegt, zu widersprechen. Putin ignoriere, dass sich in der Ukraine ein Patriotismus entwickelt hat, der auch die Mehrheit der russischsprachigen Bevölkerung umfasst. Gegenüber George W. Bush sagte er: „Die Ukrainer sind gar keine Nation“. Dass Helmut Schmidt diesen Satz wiederholt, „soll hier als weiteres seiner kuriosen Fehlurteile zu Osteuropa vermerkt werden. Er lobte schon den KP Chef in Polen Gierek für sein Wirtschaftswunder, das in Wirklichkeit auf einem Milliardenkredit beruhte“. Die Solidarnosc- Streikenden waren nach Schmidt arbeitsscheu und gefährdeten das Gleichgewicht in Europa. Kiew sei bis heute überwiegend russischsprachig. Es ist falsch, die Gegensätze zwischen ukrainisch- und russisch sprachigen Ukrainern als Hauptgrund für die Krise anzuführen. Auch Erhard Eppler sei kein guter Russland-Versteher, weil er den Gegensatz zwischen lateinischer und kyrillischer Schrift für die Ukraine behauptet. Ukrainisch werden auch in Kyrilliza geschrieben. „Streit ums Alphabet gab es in Moldawien“, vielleicht habe Eppler „die beiden Länder schlicht miteinander verwechselt“?

Urban beschreibt und setzt den Stepan Bandera in den gerechten Kontext. Es war ein Muster der Propaganda seit Stalin. Gegner der Politik Moskaus waren immer Faschisten. Urban macht es ganz klar. Die Ukrainer haben Denkmäler für Bandera errichtet, zum ihn als Opfer zweiter totalitärer Diktaturen zu ehren. Er rief nach der Besetzung furch die Deutschen die Unabhängigkeit aus. Aber die Nazis verhafteten ihn, er kam ins KZ Sachsenhausen, zwei seiner Brüder fanden in Auschwitz den Tod. Millionen Ukrainer mussten Zwangsarbeit leisten. Dennoch ist es unklug, Bandera Denkmäler aufzurichten.

Urban gibt – weil es nötig ist – eine Ehrenrettung für die „Orangene Revolution“. Die bedeutete damals auch die „psychologische Emanzipation Kiews von Moskau“, die Rückkehr Kiews in die große Geschichte. Noch nie habe es in der ukrainischen Hauptstadt eine Rebellion gegen die Besatzer gegeben. Allerdings hatten Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko ihre Ukrainer „zutiefst enttäuscht“. Urban belegt, wie von einer gezielten Einkreisung Russlands durch die Nato nicht die Rede sein kann. 15 Monate nach dem Ende der DDR löste sich die UdSSR auf. Damit wäre ohnehin jede Vereinbarung zwischen der NATO und der Sowjetunion hinfällig geworden, „denn Moskau hatte keinerlei Recht, für die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken zu sprechen“.

Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls 2014 erklärte ausgerechnet Michail Gorbatschew auf dem vom Kreml kontrollierten Internetportal „Russia beyond the headlines“: er es sei damals über eine Ausdehnung der NATO „überhaupt nicht gesprochen“ worden. Obama strich 2009 das Raketenabwehrsystem mit den vorgesehenen Standorten in Polen, Tschechien, Rumänien. Vorher wurden die Beitrittsgesuche Georgiens und der Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest abgelehnt. Das war umstritten damals. Es wurde befürchtet, Putin können das als grünes Licht sehen, die beiden Länder unter seine Kontrolle zu bringen. Die weitere Entwicklung habe gezeigt, dass er das wirklich so interpretiert hat. Urban ist fassungslos und sagt, angesichts des „allzeit gesprächsbereiten“ Franz-Walter Steinmeier: Wer dem Westen die „arrogante Isolierung“ Putins vorwirft, lese keine Zeitung und schaue kein fernsehen

Dass die Mehrheit der Russen die Gewalt-Diktatur Putins begrüßen im Namen des Heiligen Synod und des Namens der großrussischen Nation, sieht Urban. Aber er sieht auch „viele, viele Russen, die Gewaltlösungen entschieden ablehnen“. Zu diesen Mutigen zählt er eine Gruppe von Studentinnen und Studenten, die in Moskau vor seiner, des Autors Alma Mater, der Lomonossow Universität  erklärt haben, „dass sie sich wegen des russischen Vorgehens bei ihren Nachbarn schämen“. Dass nur Partnerschaft der Weg in eine bessere Zukunft sein könne. Deshalb setzt Thomas Urban hinter die Streitschrift eines besorgten Russlandverstehers, der sich auf die Seite diese Demonstranten stellt, ein Video von dieser vergleichsweise sehr mutigen Demonstration, dass man über Youtube sehen kann.

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Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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