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Kehrer Verlag | Piovano - 2/07/2014 - Colonia Alicia, Misiones province. Lucas Techeira is five years old and was born with an incurable disease called ichthyosis lamellar, caused by a gene mutation. His parents worked in a tobacco field and other plantations in the area where agrochemicals such as glyphosate and 2,4-D, one of the components of Agent Orange, are sprayed.

© Kehrer Verlag | Piovano – 2/07/2014 – Colonia Alicia, Misiones province. Lucas Techeira is five years old and was born with an incurable disease called ichthyosis lamellar, caused by a gene mutation. His parents worked in a tobacco field and other plantations in the area where agrochemicals such as glyphosate and 2,4-D, one of the components of Agent Orange, are sprayed.

Die Menschen zahlen immer die Rechnung

Über den dokumentarischen Bildband „The Human Cost of Agrotoxins“ von Pablo E. Piovano.

Glyphosat ist ein Unkrautvernichtungsmittel und Glyphosat ist in nahezu allenLebensmitteln zu finden. Hersteller sagen dann immer und gebetsmühlenhaft, die Mengedes Giftes, die gefunden wird, sei unbedenklich im Rahmen der Grenzwerte, aber es gäbenatürlich immer etwas, das verbessert werden könnte. Forscher erwidern, die offiziellenGrenzwerte seien überholt: Auch Glyphosatwerte, die zehnmal unter den festgestelltenKonzentrationen lagen, hätten in Versuchen bei regelmäßigem Verzehr ernste Leber- undNierenerkrankungen ausgelöst. (FAZ, 10.10.2017)

Die Diskussion um den Einsatz vonGlyophosat-Herbiziden kocht bei unsimmer dann hoch, wenn Rückständedes Herbizids in Lebensmitteln wie zumBeispiel in Edelmarken wie demSpeiseeis von Ben und Jerry’sgefunden wurden. Die Diskussion stehtauch immer im Zusammenhang mit derFrage, wie viel Pflanzenschutzmittelman braucht, um die Ernährung derWeltbevölkerung sicherzustellen. Dassman Pflanzenschutzmittel überhauptbraucht, um den Hunger zu bekämpfen,ist ja eines der Narrative der großenPlayer in der Agrarindustrie, z.B. vonMonsanto, und natürlich auch in derPolitik zu finden.

Die Folgen des Einsatzes von Glyphosat-Herbiziden auf genetisch modifizierteNutzpflanzen in Argentien hat der Fotograf Pablo E. Piovano dokumentiert. Diese Folgen,also die menschlichen Kosten des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln, sind erschreckendund bedrückend zugleich.

Zum Hintergrund: 1996 genehmigte die argentinische Regierung den Anbau transgenerSojabohnen und den Einsatz von Glyphosat-Herbiziden auf genetisch modifiziertenNutzpflanzen, wobei sie sich ausschließlich auf Studien der Firma Monsanto verließ. Nachfast zwei Jahrzehnten, in denen ein Drittel der Landesbevölkerung direkt oder indirekt vonGlyphosat-Spritzmitteln betroffen war, ist Argentinien zu einer Feldstudie fürGiftkatastrophen geworden.

Hunderte wissenschaftlicher Studien und medizinischer Untersuchungen bestätigen dietödlichen Wirkungen des Unkrautvernichtungsmittels: Die Krebsrate bei Kindern hat sichverdreifacht, die Häufigkeit von Fehlgeburten und Geburtsschäden mit ungeklärterUrsache ist dramatisch angestiegen. Atemwegs- und Hautkrankheiten, geistigeBehinderungen sind nur einige der nachgewiesenen gesundheitlichen Auswirkungen aufdie Menschen, die im Bereich der Spritzmittel leben. Trotz dieser unbequemen Wahrheithat es bisher keinerlei systematische Information von offizieller Seite gegeben.

The Human Cost dokumentiert die Folgen von 20 Jahren des wahllosen Einsatzes vonAgrarchemikalien im ländlichen Nordosten Argentiniens und dessen katastrophaleAuswirkungen auf die Menschen und ihre Umwelt.

„I followed my way and visited villages in the provinces of Entre Ríos, Chaco andMisiones. As I was entering into the shore and into the north the scenery becamemore and more tragic. It was very easy in the impacted areas to meet those peopleaffected. One led me to the other. Dozens and dozens of people opened up theirhomes to me and I found myself again and again before the same kinds of suffering:congenital malformations, miscarriages and cancer. Intimately, the repeated circleof stories and affections was disfiguring the faces to fuse them into a single painand a single name: drip genocide, silent genocide. (…)

Endosulfan, methamidophos, chlorpyrifos, DDT, atrazine, 2,4-D (a component ofAgent Orange used in the Vietnam War) along with others, are used in the country,although some of them have been prohibited.“ (Piovano)

Das Fatale ist, dass man gar nicht bis nach Südamerika schauen muss, um die Missständeeiner industrialisierten Landwirtschaft, die ja auch zu einem Artensterben und zu einerVerschlechterung des Grundwassers (Nitrate) beiträgt, zu sehen.

Der Wormser Biologe und Landschaftsökologe Udo Christiansen erklärt denZusammenhang wie folgt: Man muss auch gar nicht bis nach Südamerika schauen, in Mitteleuropa passiert jadas gleiche: Industrialisierung der Landwirtschaft.

  • Große Teile der Ernte werden nicht genutzt, da sie nicht der Normentsprechen: zu kleine oder zu große Kartoffeln, krumme Möhren, etc.
  • Riesige Flächen werden für Biorohstoffe genutzt: Mais für Biogasanlagen,Zuckerrüben für Alkoholherstellung, etc.
  • Riesige Flächen werden für Kraftfutter für die industrielle Tierhaltunggebraucht, die aber nicht ausreichend sind und deshalb muss man Soja ausArgentinien oder Brasilien einführen. Für Anbau wird der Regenwaldvernichtet. Die einfache Frage – Brauchen wir Kühe, die jeden Tag 30 LiterMilch geben, während gleichzeitig der Milchpreis im Keller ist? – wird nichtgestellt
  • Aus den Fleischfabriken kommen nur die besten Teile auf den europäischenMarkt (z.B. Hähnchenbrust). Der Rest wird nach Afrika exportiert(Hähnchenflügel) und macht die dortige Landwirtschaft kaputt, da man dankSubventionen aus dem EU-Haushalt billiger ist als der heimische Bauer inAfrika.
  • Gleichzeitig verbrachen viele Wiesen und Weiden in den Mittelgebirgen, weileine extensive Rinder- oder Schafhaltung nicht mehr lohnt. Im Schwarzwalddroht die „Verfichtung“. Rinder stehen ja nur noch im Stall und nicht mehr“draußen an der frischen Luft“.

„Die Agrarindustrie macht immer und mit allem Gewinn – mit Saatgut,mit Gift und mit Dünger.“

Glyphosat ist also nur ein Baustein in der Gewinnkette der großen Agrar-Industrien.Genetisch verändertes Saatgut (Glyphosatverträglichkeit) muss jährlich neu gekauftwerden. Den Bauern ist es verboten, selbst Saatgut bereit zu halten. Diese Pflanzenbrauchen meist mehr Dünger und Wasser, um die versprochenen großen Erträge zubringen. Die Industrie gewinnt also am Saatgut, am Gift und am Dünger, manchmalverkauft sie auch noch das Wasser. Dadurch wird eine fatale Abhängigkeit derKleinbauern von der Industrie erzeugt.

Die alten Sorten indigener Bauern, die an die lokalen Gegebenheiten (Klima,Boden) angepasst sind und in der Regel immer eine Ernte brachten, manchmalgroß, mal kleiner, verschwinden immer schneller, auch dies ist eine Frage der Artenvielfalt, die es zu erhalten gilt. Wer weiß denn schon, welche Pflanzen-Eigenschaften die Menschheit einmal benötigen wird?

Das Verdienst des Fotografen Piovano besteht darin, mit dokumentarisch hochwertigenFotos den Einsatz von Gift und die Folgen dieses Einsatzes sichtbar zu machen.Gleichzeitig zeigt seine Dokumentation, dass wir in Europa die menschlichen Kostendieses Gifteinsatzes verlagern und die Augen verschließen.

kehrerverlag.com | Piovano - 12/11/2014 - Fracrán, Misiones province. Jessica Sheffer is 14 years old and has a genetic mutation.Kehrer Verlag | kehrerverlag.com
Quelle

Dr. Uwe Dörwald 2017| Literaturwissenschaftler / Editor / Journalist | schwarz auf weiss 2017

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