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Ullstein Verlag | Die Menschheit hat den Verstand verloren: Tagebücher 1939-1945

© Ullstein Verlag | Die Menschheit hat den Verstand verloren: Tagebücher 1939-1945

Die Menschheit hat den Verstand verloren

Bluttaten, „die auf ewige Zeit zum Himmel schreien“. Zu dem Kriegstagebuch der Astrid Lindgren. Von Rupert Neudeck

Das Buch ist eine Prüfung für einen Deutschen. Es zeigt uns noch mal, gerade wenn wir uns bereitmachen, einiges oder alles zu vergessen, wie verhasst wir uns als Volk gemacht haben. Die große Kinderbuchautorin Astrid Lindgren hat Tagebuch geführt, 1939 bis 1945 in einer ganz unnachahmlich genauen und auch emotional bewegenden Weise. Sie notiert manchmal lapidar. So im dritten Kriegsjahr 1942: Die Deutschen hätten in der vergangenen Zeit zahlreiche Füsilierungen in den besetzten Ländern durchgeführt: 18 junge Norweger, 72 Holländer, eine Menge Franzosen, alles wegen Ausschreitungen gegen Deutsche. „Aber was soll man anderes erwarten als Ausschreitungen, so verhasst, wie sie sich überall machen?“

Und, wenn sie beschreibt, dass da erste Auflösungserscheinungen sind in den französischen Mittelmeerbasen, in Stalingrad-: „Unvorstellbar, dass immer noch um diese Stadt gekämpft wird… Man sollte vielleicht Mitleid haben mit den deutschen Soldaten vor dem russischen Winter“, schreibt die große Autorin: „Ich habe  Mitleid, aber was ist das doch für ein schreckliches Volk“. Damit sind wir gemeint. Immer ganz lapidar notiert sie die größten Verbrechen. Hitler habe versprochen, sich des norwegisch- germanischen Volksstammes anzunehmen, deshalb kümmere man sich um Kinder, die „norwegische Frauen von deutschen Soldaten bekommen haben“. Aber: Ein armer polnischer Arbeiter, der sich in ein deutsches Mädchen verliebte, das ein Kind von ihm bekam, „musste sein eigenes Grab schaufeln und wurde erschossen, in Gegenwart seiner polnischen Kameraden, denen es eine Warnung sein sollte.“ Was sind wir für ein schreckliches Volk“, tönt es immer noch nach der Lektüre hinter uns her.

Selten sind mir die furchtbarsten Folgen der Kriege so deutlich geworden in dieser unglaublich wachen, hellsichtigen Tagebuchführung. Das Tagebuch besteht aus langen Auszügen der hirnverbrannten Reden der Naziführer, aber auch der Aufrufe der Alliierten. Z.B. von Präsident Roosevelt und Churchill an die Italiener, sich dem Joch des elenden Faschismus zu entledigen und den alliierten Luftwaffen nicht noch weitere Zerstörungsangriffe zu erlauben. Die Autorin ist fähig, auch noch die Bombenangriffe auf deutsche Großstädte differenziert und mit Blick auf die vielen Unschuldigen, die es ja in jedem Land der Welt gibt zu betrachten. Sie schreibt: „In dieser Woche hat die totale Bombardierung Berlins angefangen (November 1943)… Mir gefällt nicht, dass die Engländer das tun, um Kriege zu gewinnen. Zwar sind die Deutschen in Warschau, Coventry und Rotterdam mit gutem Beispiel vorangegangen, aber es ist genau so entsetzlich, wenn es in Berlin geschieht, und man möchte nicht, dass die Engländer sich wie die Deutschen benehmen. Wenn es garantiert nur Nazis wären, die dabei draufgehen, aber leider sind sicher eine Menge Unschuldige darunter. Wenn man die Gestapo mit all den Henkersknechten zusammenpferchen und dann kaputtbombardieren könnte, hätte ich nicht das geringste Mitleid mit ihnen“. Schon vorher berichtet sie von den schrecklichen Bombenangriffen in Deutschland, „bei den Schilderungen aus Hamburg muss man weinen, unfassbar, dass es dort noch Kinder gibt, es ist herzzerreißend, himmelschreiend, unerträglich“.

Sie beobachtet aus der Warte der – eben doch irgendwie bis zum Ende wirksamen schwedischen Neutralität die Ereignisse in diesem verbrecherischen Krieg. Sie ist auch immer wieder für Tage, Stunden in der Lage, sich zu freuen an dem eigenen Heim, das weder bombardiert wird noch konfisziert wird von Nazi-Horden. Sie genießt Weihnachten in vollen Zügen, in vollkommener Dankbarkeit, dass dies immer noch möglich ist „und wir in einem so friedlichen Winkel der Welt leben“.  Das klinge banal, aber es sei die Wahrheit: „Ich bin so dankbar und bin mir stark bewußt, dass dies die glücklichsten Jahre meines Lebens sein müssen“. Aber selbst in solchen wunderbaren Gefühlen von Dankbarkeit hört sie im Radio einen Kinderchor aus Deutschland mit klaren Stimmen „Stille Nacht, heilige Nacht“ singen und  musste in die Küche gehen und weinen. „Diese Kinder mit ihren engelsgleichen Stimmen wachsen in einem Land auf, in dem sich alles um Gewalt gegen andere Menschen dreht“.

Das System ihres Tagebuches: Sie liest die Zeitungen und schneidet immer das, was sie festhalten will im Tagebuch aus, diese Tagebuchblätter werden im Faksimile im Buch gedruckt und dann in den fortlaufenden Text eingebunden.

Es ist für mich das eindringlichste, grundehrliche, grausamste Kriegsbuch, das ich mir vorstellen kann. Da ist jemand mit den Menschen benachbarter Länder ganz solidarisch, weiß klug um die Kräfte- Verhältnisse, weiß realistisch einzuschätzen, wie es um die Befreier aus Stalins Sowjetrussland bestellt ist, sagt einmal ganz geopolitisch: Europa sei ja bestenfalls eine große russische Provinz, gut zu lesen jetzt in den Monaten der Ukraine-Krise und des Ukraine Krieges um Neu-Russland. „Ein Konglomerat von unzähligen Staaten, die sich alle untereinander befehden. Und die Deutschen waren es, die uns bisher die Tür nach Europa verwehrt haben.“

Und sie erzählt ohne Kommentar die wunderbare, eine der ganz großen tröstlichen Geschichten aus dem fruchtbarsten Kriege, den die Menschheit mitgemacht hat. Am 7. November 43 schreibt sie die Geschichte vom dänischen König Christian in ihr Tagebuch. U.a. werde behauptet, er habe, als die Deutschen planten, in Dänemark den Judenstern einzuführen, gesagt, dass er der Erste sein werde, der ihn tragen werde. „Es wurde nichts aus dem Judenstern in Dänemark“. Ferner werde behauptet, dass, als die Deutschen die Hakenkreuzfahne auf Schloss Amalienborg hissen wollten, Christian gesagt habe, dass in diesem Fall ein dänischer Soldat sie auf der Stelle herunterholen würde. „Dann wird der dänische Soldat erschossen“, habe der deutsche Oberbefehlshaber geantwortet. Der König darauf: „Der dänische Soldat, das bin ich!“

Und, es hört mit den Gräueln der Verwüstung, die immer wieder Tonnagen von Hass und Rache und Vergeltung in den Menschen produzieren, gar nicht auf. Und dieses Tagebuch im Jahre 2015 zu lesen, macht den deutschen Leser noch einmal dankbar, dass uns die benachbarten Völker diese Brutalitäten unvorstellbaren Ausmaßes nicht bis in die Ewigkeit vorzuwerfen vorhatten. Z.B. Lidice, wie die Autorin das berichtet in ihrem Tagebuch?! Das tschechische Dorf Lidice wurde nach dem Mord an Heydrich niedergemacht. Aber wie? Niemand in dem Ort hatte mit dem Mord etwas zu tun. Aber alle männlichen Bewohner über 16 Jahren wurden erschossen, nachdem sie ihre Gräber selbst hatten graben müssen, die Frauen wurden zur Zwangsarbeit weggebracht. Alle Kinder über drei Jahre (!) wurden auf Lastwagen verladen, 157 zusammengepfercht auf einer Fläche verladen.  Die für ungefähr die Hälfte vorgesehen war. Sie mussten die ganze Zeit stehen, wohin sie gebracht wurden, ist unbekannt. Sie ist wie eine gute Journalistin sich bewusst, dass Gräueltaten übertrieben werden könnten und sagte deshalb, selbst wenn nur die Hälfte stimmt, „haben die Deutschen eine Bluttat begangen, die auf ewige Zeiten zum Himmel schreien wird“. Danach wurde das ganze Dorf in die Luft gesprengt.

Das Jahr 1944 war dann unwiederbringlich das Friedensjahr, jedenfalls begrüßte Lindgren das mit einem ganz sicheren Enthusiasmus. Und die Anzeichen sprachen auch dafür, die Wende in Italien, der Sturz des Duce Mussolini, die („endlich!“) Invasion am 8. Juni 1944, die immer großen Erwartungen und die Nachrichten aus dem andauernden finnisch-russischen Krieg. Dann endlich29. April 1945: „Himmler, das Monster, legt ein Friedensnagebot vor und behauptet, Hitler liege im Sterben und werde die Kapitulation keine 48 Stunden überleben“ Das Ganze sei vermittelt von einem Schweden, dem Grafen Folke Bernadotte, dem Chef des Roten Kreuzes in Schweden. Vielleicht sei Hitler auch schon lange tot. Doch sie hatte sich geirrt, noch ist es nicht die Kapitulation. „Alles Lüge! An einem der nächsten Tage muss sie kommen. Es war jemand in Amerika, der den Mund nicht halten konnte“.

Kaum vorzustellen, sagt die Kinderbuchautorin, dass Frieden wird. Es sei Frühling, die Bäume werden grün, der liebliche Regen strömt auf die Erde nieder, die jetzt enorme Ernten liefern muss, um die Menschheit am Leben zu erhalten. Es werde keinen weiteren Kriegswinter geben. Man spürt geradezu in den letzten 100 Seiten das Aufatmen der Autorin. Am 5. Mai wurde Dänemark frei und die Lindgren hört sich auf der Arbeit die Rede des berühmten Königs Christian an, eingeleitet von Glockenspiel des Rathausturms. Dann wurde die dänische Königshymne gesungen, die die Autorin und der Verlag nicht deutsch übersetzten, sondern so stehenließen: „Kong Christian stod vid hojen mast“ und der König begann seine Rede an die „danske Maend og Kvinder“.

Es gibt jetzt Alltag. Kurz vor Weihnachten 1945 schreibt sie, dass sie in einem Buchladen gewesen und sich ein Exemplar von Pippi Langstrumpf gekauft habe, „diesem verflixt lustigen Buch, das wahrscheinlich nie entstanden wäre, wenn ich mir im Spätwinter 1944 nicht den Fuß verknackst hätte“. Sie kann Weihnachtsgeschenke aufzählen im Tagebuch. Freude über das, was die Autorin in ihrem Tagebuch tatsächlich beschreibt mit den Worten: „Der Frieden ist also ernsthaft ausgebrochen!“ König Haakon und Kronprinzessin Martha sind nach Norwegen zurückgekommen, während das belgische Volk den König Leopold nicht mehr gern haben möchte. Sie bewundert Churchill, der für sie der eigentliche Gewinner des Krieges ist: „Was mag das für ein Gefühl sein für den vitalen über 70-jährigen, dieses dem britischen Imperium zu verkünden?“ Und sie möchte ihn mehr denn je. Dreimal beschreibt sie, wie sie in den Radioübertragungen fast weinen musste. Einmal als die Hymne nach der Ansprache God save the Kind gespielt wurde. Und als sie schon drei Tage vor der offiziellen Kapitulation am 5. Mai die dänische, schwedische und norwegische Flaggen hochsteigen sag, „konnte ich nichts dagegen machen, mir stiegen die Tränen in die Augen“.

Die letzte große Eintragung neben den Zeitungsartikeln über den Prozess gegen den dann am 24. Oktober gehängten Vidkun Quisling steht im Tagebuch am Silvestertag 1945. Klarsichtig hat Astrid Lindgren – wie parallel Albert Camus in Paris – erkannt, dass der Frieden schon wieder durch eine ganz neue Barbarei untergraben wurde. „Zwei denkwürdige Ereignisse“ habe das Jahr 1945 gebracht: Den Frieden nach dem zweiten Weltkrieg und die Atombombe. Lindgren: „Ich möchte gern wissen, was die Zukunft über die Atombombe sagen wird, ob sie eine ganz neue Epoche im Dasein der Menschen markiert oder nicht“. Der Frieden biete keine große Geborgenheit, „die Atombombe wirft ihren Schatten auf ihn.“ Außerdem sei die Not in Deutschland grauenhaft, Nahrungsmangel herrsche wohl fast überall, nur bei uns nicht. Auch die letzten Zeitungsübersetzungen liest man atemlos und betroffen. In dem Hotel Esplanade in Berlin wurde ein Fahrstuhlwärter entlassen, weil er „Guten Morgen Herr Rosenberg“ und nicht Guten Morgen Herr Minister gesagt hätte.

In einem Nachwort der Tochter Karin, die in den Kriegstagebüchern natürlich andauernd vorkommt, wird uns noch mal die Zufälligkeit dieser Exerzitien geschildert. Ihre Mutter war damals eine 32jährige zur Sekretärin ausgebildete Hausfrau und Mutter, die kaum Erfahrung hatte in und mit der Politik. Deshalb machte sie es sich zur Praxis immer wieder Zeitungsausschnitte in das Tagebuch einzukleben. Sie wurde auch noch in ein Mittelding von Spionageabwehr und Zensur eingeschaltet. Es war der sog. Bereitschaftsdienst bei der geheimen Postzensur, wo Astrid Lindgren militärische wie private Post nach Schweden und ins Ausland prüfen sollte. Die Briefe wurden über Dampf geöffnet, es kam darauf an“ militärische Ortsangaben und andere militärische Geheimnisse zu finden und unleserlich zu machen“. Das Ganze, so schreibt die Tochter im Nachwort, war streng geheim, so dass die eigenen Kinder auch nicht wissen durften, woraus die Arbeit der Mutter am späten Abend bestand.

Sie macht auch bekannt, dass Pippi Langstrumpf als unendliche Gutenachtgeschichte 1941 zu entstehen begann, die wilde, freie Pippi. Und sie bekennt eindrucksvoll, dass es einem ganz schwindlig werden kann bei dem Gedanken, „dass es noch gar keine Pippi Langstrumpf auf der Welt gab, und dass Astrid Lindgren zu dieser Zeit keinen blassen Schimmer hatte davon, was für eine Karriere ihr als Autorin von Kinderbüchern bevorstand.“

Astrid Lindgren „Die Menschheit hat den Verstand verloren – Tagebücher 1039 – 1945“

Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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