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oekom verlag | Wolfgang Schmidbauer "Enzyklopädie der Dummen Dinge" | „Inspirierend und ideenreich!“

© oekom verlag | Wolfgang Schmidbauer "Enzyklopädie der Dummen Dinge" | „Inspirierend und ideenreich!“

Enzyklopädie der Dummen Dinge

Das Dumme und das Schonende. Zu einem auch vergnüglichen Buch von Schmidbauer. Von Rupert Neudeck

 Ein Buch, das auf dem Titel nur den Autor und den Titel führt, finde ich unbewusst langweilig. Man möchte das nicht, aber es ist so. Denn die „Enzyklopädie der Dummen Dinge“ ist ein Ansatz, die ganze große Problematik der Ökologischen Lebensweise, auch der Frage, wie herrlich weit wir es gebracht haben, noch mal zu stellen.

Das Besondere an dem Buch: Da schreibt jemand an Hand der Stichworte als Philosoph, als Sprach- und Alltagsphilosoph, als Detailfanatiker und manchmal mit Allüren eines Seelsorgers, ist aber ein angesehener und bekannter Psychotherapeut. Immer sind Jean-Jacques Rousseau und die bäuerliche Großmutter des Autors aus Passau mit dabei. Es ist eigentlich ganz gleich, welches Beispiel man sich vornimmt, um zum Kauf dieses tollen Buches und zur Lektüre anzuregen.

Im Kapitel „Elektrische Küchenhelfer“ schreibt der Autor, der ja kein dogmatischer Verächter aller elektronischen Neuerungen ist: Dass manchmal ein Elektromotor die Körperpflege beim Rasieren und Zahnbürsten erleichtern kann. Aber ansonsten sei die Dummheit in den Fortschritten unübersehbar. „Ein Korkenzieher, der die Hebelkraft nutzt, arbeitet ebenso wirksam und viel eleganter als alles, was da mit Elektromotor und Akku angeboten wird.“ Ähnliches gilt für elektrische Brot- und Wurst-Schneider usw. Immer sind es zusätzliche Energieverbraucher. Lange Zeit habe man beim Wiegevorgang darauf verzichtet Energie zu verschwenden und Sondermüll zu verwenden. Das sei lange vorbei. „Selbst Briefwaagen brauchen eine Batterie und müssen den Nutzer durch flimmernde Digitalanzeigen irritieren“.

Es sind kleine Kabinettstücke, die sich wirklich zusammenfügen zu einem philosophisch-pädagogischen Florilegium, das uns den Kopf waschen soll, weil es so unsinnig, unintelligent krankheitsfördernd und dumm ist. Die „Fernbedienung“ ist so eine Erfindung, von der wir alle wissen, dass sie absolut unsinnig ist, wir das aber alle mitmachen, weil das dazu gehört. „Zeit, die unsere Großeltern mit körperlicher Arbeit verbrachten, füllen unsere Kinder damit, unerwünschte Bilder wegzuzappen“.

Dann wieder so ein Satz wie im Philosophie-Lehrbuch der ökologischen Lebensweise: „Die in vergeblicher Hoffnung zerstückelte Zeit, die der teuflische Zauberstab der Fernsteuerung vielen Nutzern beschert, wird zum Symbol des modernen Lebensgefühls“. Die Frage, die sich an solche gut geschriebenen Kapitel anschließt, wie bekommen wir das hin, dass wir uns in unserer Zeit nicht mehr den Schein vor dem Sein empfinden, sondern in manchen Schritten – zurückgehen.

Eine wachsende Schar von Kindern (Schulkindern) kann heute keinen Ball mehr fangen, nicht mehr auf einem Bein hüpfen, geschweige denn auf einen Baum klettern. „Die Verletzungsgefahr im Sport oder beim Toben auf dem Schulhof wächst durch das Missverhältnis zwischen den Ansprüchen an die eigene Leistung und der motorischen Geschicklichkeit.“

Im Kapitel über die Fernwärme erfährt man sehr viel über das Verhalten der Generationen vor uns. Heute muss man ja erklären, was Streichhölzer sind und Sicherheitsstreichhölzer, die ohne Phosphor auskommen. Seit 1900 wurden die giftigen Phosphorhölzer verboten, die Produzenten ersetzen den weißen Phosphor durch das unschädliche Phosphorsulfid.

Immer geht der Autor auf unbekannte und oft jetzt verschüttete oder demnächst zu verschüttende Fähigkeiten der Einheimischen in Afrika und Asien zurück. Er kommt immer wieder auf seinen Rousseau zurück (d.h. Schmidbauer zitiert ihn nirgends, ich rieche ihn aber in jedem zweiten Kapitel).

Ein Polynesier machte auf Tahiti in wenigen Minuten Feuer, in dem er zwei ausgesuchte Holzstücke gegenübereinander rieb. „Dann gab er sein Feuerzeug Charles Darwin, der sich zwei Stunden damit abmühte, bis er eine Flamme zusammenbrachte. Schmidbauer: die dümmsten Werkzeuge beherrschen heute unseren Umgang mit dem Feuer: Gasfeuerzeug und Zündholz. Sie sind wirksam und billig. Die Produktstruktur drängt dem Benutzer die Dummheit geradezu auf. Denn die Geräte, die der Magie des Feuermachens nahe sind, sind nicht so verlässlich wie ein Zündholz. Als das sind ein Benzin Feuerzeug vom Typ Zippo (sehr beliebt im Vietnam Krieg) und das billigere österreichische Benzin Sturmfeuerzeug. Manchmal kann ein modernes elektronisches Gerät, das viel Energie säuft, auch den Haussegen gerade rücken. Wenn sich in der Familie das Prinzip Litter in, litter out nicht durchsetzen lässt, dann kann die Geschirrspülmaschine den Haussegen wieder gerade hängen.

Das Kapitel über das Handy beschreibt die Verluste, die wir an den Heranwachsenden erleben durch die Elektronische Nabelschnüre “Wo bist DU heute?“. Wir (= Cap Anamur) haben in den 1980er Jahren Mitarbeiter über einen halblegalen Weg nach Äthiopien, genauer Tigray geschickt und ihnen gesagt: dass wir drei Monate ganz sicher nichts voneinander hören werden. Die einzige Kommunikationsform waren handgeschriebene (!) Briefe, die nach Khartoum, der Hauptstadt vom Sudan gebracht wurden und dort wurden die Briefe in den Diplomatic Bag mit Diplomatischer Post gepackt. Und umgekehrt. Das kann sich heute keiner mehr vorstellen, oder er fühlt sich im Paläolithikum…

Beim Handy ist Schmidbauer wieder Philosoph. Wir Menschen sollten lernen mit Trennungsängsten zu leben, denn sie gehören zum Menschsein. Durch die ständige Erreichbarkeit werden Vorstellungen gestürzt, es sei möglich, den „Widerspruch zwischen symbiotischer Nähe und distanzierter Autonomie“ völlig aufzulösen. Geht natürlich gar nicht.

Die profitgierigen Begründer der Website wie Tinder mit in Deutschland zwei Millionen Nutzern, Sean Rad, meint tatsächlich, über sein Programm habe er „die Angst vor Zurückweisung abgeschafft“. Was hier zugrunde geht, so wieder Schmidbauer, ist die Empathie.

„Wer unter vielen Liebesangeboten wählen kann, muss sich nicht mehr fragen, woran es liegt, wenn eine anfangs interessante Beziehung (in der Computersprache „Match“) nicht mehr weiter geht. Wir können nicht mehr warten. Der Autor zitiert einen Mediziner-Spruch: „Medizin ist das System der Ablenkungen, mit dem wir unsere Patienten versorgen, bis sie von selbst gesundwerden“.

Und an dieser Stelle gibt es eine wichtige Bilanz: Für einen gefestigten  Erwachsenen ist die Konsumgesellschaft eine wunderbare Sache, das Smartphone eines ihrer schönsten Konzentrate. Für alle anderen ist sie ein sehr effektives Reifungshindernis. Und da die Handynutzer immer jünger werden, müssen wird das Smartphone unter die dummen Dinge rechnen.

Im Kapitel-Stichwort „Toilettenpapier“ erwähnt der Autor, wie ungerecht es ist, dass wir Europäer unseren Gebrauch von Toilettenpapier allein für hygienisch halten, die Art, sich mit der linken Hand den After zu waschen, als unhygienisch und – eben – orientalisch verdammen. An dieser Stelle noch mal der Beleg, wie gut dieses Buch zu lesen ist. Der Autor zitiert einen Abzählreim aus seiner – wie wir schon wissen – Passauer Kindheit. „Wenn der Bauer scheißen geht,/ dann geht er hinters Haus/und wenn er kein Papier dahat, /dann nimmt er die Faust“.

Ein Vergleichsbild bietet für den Autor immer wieder der Jemen. In der Hauptstadt Sanaa werde es einen schlimmen Wassermangel geben. Verursacht auch durch die Preisgabe des jemenitischen Trockenklosetts zugunsten des europäischen Wasserklosetts. Carmen Thomas hatte seinerzeit in ihrer legendären Radiosendung aufgezeigt, welche tabuisierten Verwertungsmöglichkeiten es mit Urin gibt. „Mit Urin betupfte Pickel heilen schneller, Urin zu gurgeln hilft gegen Hals- und Zahnfleischentzündungen, mit Urin durchnässter Sand ist ein tauglicher Wundverband“. Er selbst, sagt der Autor, habe damit keine Erfahrungen. „An unserem enormen Verbrauch von nutzlosen bis schädlichen Seifen, Duschgels, Lotionen oder gezuckerten Getränken finden wir hingegen nichts Besonderes“.

Am Schluss verwahrt sich der Autor noch gegen die Verbote, überhaupt über etwas nachzudenken und es nicht nur gleich zu verdammen. Der Autor wollte die Vorteile einer „übenden“ gegenüber einer “komfortablen Technologie“ darstellen. Viele Moralisten entwerten spielerisches ungeregeltes Verhalten als kindisch und gefährlich.

Er kann sich sich nur über die beklagen, die „meine Intelligenz unterschätzen“. Denn wir könnten heute ein leichtes, stabiles, reparaturfreundliches, langsames (an Tesla gemessen) Elektrofahrzeug bauen, aber es geschieht nicht. Dann wird an dieser einen Stelle der Autor fast wütend: „Wer mir aber unterstellt, ich wollte wieder den VW-Käfer bauen und zu Petroleumlampen und Plumsklos zurückkehren, der unterschätzt meine Intelligenz.“ Er finde es nur lehrreich, mit Petroleumlampen und öffentlichen Brunnen zu spielen, von ihnen zu lernen“.

Das einzige dumme Ding, zu dem eine noch dümmeres gehört, ergibt sich beim TÜV. Schmidbauer beschreibt die herrliche Kreativität der afrikanischen LKW Fahrer: die basteln aus einer Plastikflasche einen Ersatz für den defekten Flüssigkeitsbehälter und laden einen Stein ins Auto, der als Feststellbremse dient. „Ein Reifen, der vom TÜV entsorgt wird, ist in Afrika noch praktisch neu; er wird bis auf den letzten Rest Profil abgefahren und dann noch sorgfältig weiter benutzt. Bis auch die Decke zerstört ist, aus den  Flanken kann man immer noch Wassereimer und Schuhsohlen machen.“

Die Autos der Bundeswehr in den riesigen Weltraumkapseln der Bundeswehr in Kunduz, Mazar i Sharif und Kabul müssen auch vom TÜV begutachtet und im Zweifelsfall ausgemustert und nach Deutschland zurückgebracht werden. TÜV ist dann die letzte Bastion der Europäer gegenüber den primitiven Afghanen. Ein Prüfer des TÜV hat 1998 einen Bericht über Fahrzeuge in Kenia gemacht: „Insgesamt hat dieses Fahrzeug 117 Mängel. Als LKW ist es nur auf Grund der Umrissgestaltung einzusehen.“

Die Mülltrennung wird in Kabul, Kunduz und Mazar i Sharif auch gemacht, aber der ganze Plunder des getrennten Mülls wird dann wieder vereinigt. Gefragt, was dann der ganze Unsinn soll?, antwortete der damalige Bundesverteidigungsminister, dass man das wegen der später in Deutschland wieder notwendigen Selbstdisziplin nicht einstellen sollte.

Quelle

Rupert Neudeck 2016Grünhelme 2016

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