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Gütersloher Verlagshaus

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Glaube unter imperialer Macht: Eine palästinensische Theologie der Hoffnung

Eine palästinensische Theologie zur Lösung des Problems Palästina. Zu einer Streitschrift in theologischer Absicht von Mitri Raheb. Von Rupert Neudeck

Das beste Buch bisher und in den letzten zwanzig Jahren, das sich neben das von Ilan Pappe stellen kann, hat ein palästinensischer Theologe geschrieben. Programmatisch heißt es “Glaube unter imperialer Macht“. Es wird allen Erwartungen gerecht, die man an den umtriebigen, fleißigen und ehrlichen Beobachter der Geschicke seines Volkes hegen kann. Es ist wegen der abgrundtiefen Ehrlichkeit eine „Theologie der Hoffnung“ aus der Feder des Leiters des Theologischen Instituts in Bethlehem geworden. Mitri Raheb beschreibt auch den Weg der eigenen Emanzipation als Palästinenser und als Theologe. 

Er macht den Leser aufmerksam auf die neue Sprache, die er gefunden hat. Seine früheren Bücher waren noch im nachäffenden Wettbewerb mit der europäischen Methodologie geschrieben, er habe sozusagen getanzt „nach den Rhythmen europäischer Orgelmusik und Theologie“. Er wollte sich beweisen, dass er dieses Instrumentarium der Europäer beherrschte“, weil er allein darin als palästinensischer Christ sich erkannte. Nun aber hat er verstanden: Die Biblische Erzählung kann am besten als Antwort auf die geopolitische Geschichte der Region verstanden werden. Und noch eindringlicher: „Nach einer langen Reise durch die angelsächsische Theologie empfinde ich mich nun angekommen im Nahen Osten, wo ich hingehöre“. 

Was für ein verheißungsvolles Programm, das er seinen Landsleuten und uns anbietet. Er beschreibt die geopolitische Geschichte der Region, die immer schon von den Großreichen, also Imperien bestimmt war. Palästina war während der letzten 2500 Jahre besetztes Gebiet und Schlachtfeld konkurrierender Reiche. Das geht von den Assyrern, den Babyloniern, den Persern, den Griechen und den Römern (letztere 63 v Christus(), dann den Byzantinern, den Arabern, den Tartaren über die Kreuzritter, die Ayyubiden, die Tartaren noch einmal (1244), die Mamelucken, zu den Mongolen (1401), dann zu den Osmanen (1516), dann den Briten (1917) und schließlich den Israelis (1948/67). 

Es ist ein ganz politisches und gleichzeitig ganz theologisches Buch. Wer das auseinanderhalten möchte, sollte es nicht lesen. Es geht den Urfragen des Glaubens, der Theodizee nicht aus dem Wege. „Wo bist du, Gott?“ Warum handelt Gott nicht, um sein Volk zu befreien? Es kann in seiner Wirkung nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn Mitri Rahebs Buch will als „authentisches Narrativ der Christen in Palästina“ diesen Hoffnung geben, in dem er dieses narrativ politisch bedeutsam und theologisch schöpferisch sein lässt. Letzten Endes verbinde die Geschichte der Menschen in Palästina die Biblischen Zeiten mit der Gegenwart. Es ist ein unausgesprochenes Plädoyer für alle, die dort leben, nicht deshalb wegzugehen, auch nicht als Christen, wenn es für sie bequem ist, abzuhauen und auszuwandern.

Er beschreibt die vier Reaktionsweisen, die das Volk von Palästina durch die Jahrhunderte der stetigen Besatzung und der großen Imperien, deren letzte jetzt das von Israel/USA geworden ist, gelernt hat. 

Erste Reaktion: Zurückschlagen “Was uns mit Gewalt genommen wurde, kann nur mit Gewalt zurückgeholt werden!“ Diesen Satz hörte der Autor in den 80er Jahren beim Studium in Deutschland. Also mit Gewalt zurückschlagen. Aber die Antwort des Imperiums war immer: Militärische Mobilmachung, Einmarsch und noch mehr Gewalt. Es kamen immer begeisterte Kämpfer, die den Besatzern eine Lektion erteilten. Man treffe im Herodium – einer im ersten Jahrhundert v. Chr errichteten Festung – auf eine Reihe von Gedenktafeln, die jüdische Siedler in Erinnerung an Ihre Helden dort angebracht haben. Sie werden als Freiheitskämpfer hoch geehrt. Die Palästinenser werden in derselben Tradition stehend als Terroristen erklärt. Der Autor besteht darauf, das Imperium (jetzt Israel) legt den Label „Terrorist“ auf diejenigen, die gegen die imperiale Macht mit den Waffen des Imperiums kämpfen. „Diejenigen aber, die unter der imperialen Besatzung kleben, sehen sich als Freiheitskämpfer!“ 

Zweite Antwort: Das religiöse Gesetz befolgen

Das war die Antwort der Pharisäer, die meinten, man könnte nur eine religiöse Antwort finden. Die sahen in der Imperialen Gewalt eine „Strafe Gottes für das von seinem Gesetz abgefallene Volk und im Imperium selbst die Verkörperung des Heidentums“. In der Post Holocaust Phase lobte man die Pharisäer. Mitri Raheb sagt dazu: Diese so gesehenen Romantik-Pharisäer machten in weiten Teilen das, was die Hamas, die islamistische Widerstandsbewegung verfolgt. Die Gruppe, die heute in der Gesetzlichkeit die Lösung des Palästinensischen Problems ist, ist die Hamas. Dass die Hamas seit 1988 gegen Israel kämpft darf uns nicht blind machen. Die Muslimbrüder proklamieren, das göttliche Recht zum Maßstab im Alltag zu machen. Raheb: „Diese Leute kämpfen weniger gegen das Imperium als vielmehr gegen die eigenen Leute, die ihre Identität vernachlässigen“. Diese Leute sagen: Gott wird sich in all seiner Macht uns zuwenden, wenn wir uns wieder nach seinem Gesetz, nach der Sharia richten. 

Die dritte Antwort ist die Anpassung

Die Anpassung ist die Antwort der Sadduzäer im der Zeit von Jesus Christus. Diese Antwort heißt: „Wir mögen das Imperium nicht, aber solange es da ist, müssen wir uns mit ihm arrangieren“. Zum Beispiel wie in Lk 20,20-26: Was steht dem Kaiser, was Gott zu? Diese Haltung ist sehr geläufig bei einer Bevölkerung, die dieser imperialen Macht nicht entkommen kann, die auch Besatzungsmacht ist. 

Die vierte Antwort ist: die Kollaboration

  • Es handele sich um jene Opportunisten, die aus Geschäften mit dem Imperium Vorteile für sich herausschlagen. Dazu gehörten in der Zeit von Jesus die Steuereintreiber, die viel Geld in die eigene Tasche steckten. Ihnen entsprechen heute die Zwischenhändler, die israelische Produkte auf die Märkte bringen, die als Subunternehmer in israelischen Siedlungen agieren und als Informanten kollaborieren. Raheb geht nicht so weit, auch die realexistierenden Vertreter der Autonomie-Behörde, auch schon Regierung genannt, mit einzubeziehen, obwohl es viele gute Gründe gibt das zu tun. Schließlich können sie nicht über ihr A-Territorium verfügen, müssen aber pünktlich als Feigenblatt einer sog. Regierung herhalten.
  • Es sind wunderbare Mut-machende Exegesen der heiligen Schrift, die wie aus dem täglichen mühseligen Kampf gewonnen werden und zu ganz neuen Ufern gelangen. Immer wieder sagt der Autor: Ich behaupte, dass die Bildung von Identität als Abgrenzung von anderen grundsätzlich für den Glaubenden als Irrweg zu erkennen und zu überdenken sei. Mitri Raheb liest und meditiert das Alte und besonders das Neue Testament in seiner eingeschlossenen Besatzungssituation. Und weiß, dass die Sanftmütigen das Erdreich besitzen werden“, wie es die Bergpredigt in einer der etwas vergessenen Verheißungen uns sagt.
  • Er sagt auch etwas zur aktuellen Situation. Wieso verständigen und einigen sich die Palästinenser in der Unterdrückung nicht schneller. Warum deutet nichts auf eine Übereinkunft zwischen Hamas und Fatah hin? Die Antwort ist geopolitisch. Die beiden Parteien bewegen sich nicht in ihrem souveränen und schon gar nicht im luftleeren Raum. „Die Belagerung Gazas durch Israel zielt auf die Ausbildung zweier Identitäten, die miteinander nichts zu tun haben sollen: eine in der Westbank. Die andere im Gazastreifen“. Diese beiden Identitäten entwickeln sich ganz getrennt voneinander. Es gibt Geschichten über Brüder aus ein und derselben Familie. Der eine geht zur Fatah. Der andere zur Hamas. Plötzlich reden sie nicht mehr miteinander. Es liege etwas Bitterkomisches in dem Appell der führenden Politiker, die Palästinenser sollten doch mit den Israelis reden, und ihnen zugleich ausdrücklich nahelegen, keine Gespräche mit der Hamas zu führen.
  • Man hat lesend das bestimmte Gefühl, dass hier jemand als Theologe der bessere Politiker ist, weil er nicht von Israels Gnaden lebt, also von der Gnade des Imperiums, sondern weil er aus dem Schatz des Glaubens, dem Thesaurus der Offenbarung die Bewusstseinsebene einläuten kann, die Menschen selbst nach einem halben Jahrhundert Unterdrückung und Besatzung dazu führt, nicht die höchste geopolitische Bedeutung der Botschaft zu vergessen: Denn diese ermöglicht es dem Volk von Palästina alle Niederlagen zu überleben. Sie zog der Niederlage den Reißzahn, dem Tod den Stachel und nahm dem Imperium seinen Sieg. Denn selbst wenn die Imperien die Menschen zermalmten und unterwarfen wie jüngst in Gaza, so konnte sie doch nicht zerstören, was jene beseelte. Er gibt als theologischer Politiker oder politischer Theologe in der Nachfolge von J.B. Metz eine Exegese von 2 Kor 4,8-9: „Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um“.
  • Immer wieder geht er zu Herodes zurück, der damals lange Aquädukte anlegen ließ, um das Wasser aus der Gegend von Bethlehem/Hebron nach Jerusalem zu leiten. Die Kontrolle über das Wasser durch die Israelische Besatzungsmacht, die der Präsident des EU-parlaments Martin Schulz in der Knesseth erwähnte, ist eine Fortsetzung dieser imperialen Herrschaft über die natürlichen Ressourcen. Die palästinensischen Behörden seien nicht einmal befugt, in jenen winzigen A-Zonen unter ihrer eigenen Kontrolle nach Wasser zu graben. Einem Siedler im  Westjordanland steht vier mal mehr Wasser zur Verfügung als einem Palästinenser. Israel hat mit seinem Wehrsiedlungs-Baurausch alle Vorgänger übertroffen: die Griechen wie die Römer, die Byzantiner wie die Kreuzfahrer und die Osmanen. Heute schließt die Siedlungspolitik jede denkbare Lösung der Zwei Staaten oder eine andere Friedenslösung aus. Raheb: Die Anwesenheit von fast einer halben Million Siedler im Westjordanland in ihrer Abhängigkeit vom israelischen Militär und „ihrem überheblichen Benehmen gegenüber den vertriebenen Palästinensern machen jede Vereinbarung über das Gebiet null und nichtig“.
  • Ein Hauptproblem der Opfer eines Imperiums liegt darin, sich mit dem Imperium zu identifizieren und dann zu doppelten Opfern zu werden-. Die Rolle des Opfers zu spielen, mag den Unterdrückten Sympathien bringen, aber nicht Respekt.
  • Raheb entwickelt das politische Programm Jesu an Hand dessen, was er ausdrücklich nicht tat: Er war dennoch der Heiland, der Befreier. Er ging nicht nach Rom. Rom und der Kaiser waren für Jesus unwichtig. Jesus gründete nicht eine Partei. Er war sehr beliebt und hätte das gut tun können. Er hatte auch nicht den Ehrgeiz, ein Oberrabbiner oder Patriarch zu werden Er interessierte sich für die Dörfer. Die Dorfbevölkerung ist das Rückgrat jeder politischen Bewegung. In diese Dörfer Palästinas ging Jesus, predigte, lehrte und heilte. Er beklagt, dass die Besten und Klügsten der Unterdrückten in das Imperium hineingesogen werden, meint er damit auch die Autonomiebehörden, Menschen, die Privilegien des Imperiums verdienen?
  • Diese Menschen, mit denen Mitri Raheb so lange schon ausharrt und Hoffnung hat, müssen das „Yes we can“ von Martin Luther King lernen und sich zu eigen machen. Selig die Sanftmütigen, Ihnen wird das Erdreich gehören. Ein wunderbares Buch. Für die Menschen in Palästina, in jeder anderen Situation, wo Menschen auf die Gerechtigkeit und Freiheit warten, für uns, die wir bisher eine solche historische-theologische Perspektive nicht vorgestellt bekommen haben. Danke, Mitri Raheb. 

Weitere Information:
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Quelle

Rupert Neudeck 2014 | Grünhelme 2014

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