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FlorianK | WikimediaCommons | Selten sah man Günter Grass auf Fotos ohne seine Pfeife. Günter Grass, Buchmesse, Frankfurt am Main

© FlorianK | WikimediaCommons | Selten sah man Günter Grass auf Fotos ohne seine Pfeife. Günter Grass, Buchmesse, Frankfurt am Main

Günter Grass: Ein grüner Poet

„Lang wußt ich nicht, daß es noch Störche gibt“. So beginnt ein Essay von Klaus Pezold über Natur und Naturbedrohung bei Günter Grass, der 2001 im „Jahrbuch Ökologie“ erschien. Wir haben den Redakteur des Jahrbuchs, Udo E. Simonis, gebeten, uns diesen Essay in komprimierter Form vorzustellen.

In Günter Grass’ Roman „Der Butt“ (1977) erinnert sich der Erzähler an einen 1970 in Gdansk von der Miliz erschossenen polnischen Freund: „Mit Jan konnte man sitzen und reden. Über mundgeblasene Gläser. Über Gedichte. Sogar über Bäume“. Baum- oder Naturgedichte finden sich in den lyrischen Arbeiten von Grass aber nicht. In seinem ersten, 1956 erschienenen Gedichtband „Die Vorzüge der Windhühner“ artikuliert sich dort, wo Natur ins Blickfeld gerät, ein ganz anderes Verhältnis zu ihr. Nicht platonisch idealisierend begegnet der Dichter dem, was sie ihm darbietet, sondern auf sinnlich genießende Weise. „Bohnen und Birnen“ stehen als Früchte des Herbstes höher in seiner Gunst als Astern:

„Mit gelben Birnen, einer Nelke,

mit Hammelfleisch laßt uns die grünen Bohnen,

mit schwarzer Nelke und mit gelben Birnen,

so wollen wir die Bohnen essen,

mit Hammelfleisch mit Nelke und mit Birnen“.

Im Zusammenhang mit der ersten Reise, die Grass 1958 wieder in seine Heimat Danzig führte, entstand das Gedicht „Adebar“. Ein Erlebnisgedicht, ausgelöst durch das Wiedererkennen einer aus der Kindheit vertrauten, durch die Jahre der Großstadtexistenz (in Düsseldorf, Berlin und Paris) jedoch fremd gewordenen Landschaft:

„Lang wußt ich nicht, dass es noch Störche gibt,

daß ein Kamin, der rauchlos ist,

den Störchen Fingerzeig bedeutet“.

Die Reduzierung der Dreifarbigkeit des Weißstorches auf die Farben Weiß-Rot der polnischen Nationalflagge bestimmt den Ort des Gedichts. Dann aber kommt das ins Bild, was für Grass als das Menetekel der deutschen Geschichte die Gegenwart verdunkelt:

„Einst rauchte in Treblinka sonntags

viel Fleisch, das Adebar gesegnet

ließ, Heißluft, einen Segelflieger steigen“.

Am stärksten aber prägt es sich beim Leser dann ein, wenn das Naturbild schockierend als barockes Todesbild verwendet wird – wie im Falle des von Aalen wimmelnden Pferdeschädels in der „Blechtrommel“.

Nicht zufällig findet sich die Beschreibung eines schwierigen Verhältnisses zur Natur in jenem epischen Werk, in dem sich eine wichtige Veränderung in Grass‘ Haltung zur Natur- und Umweltproblematik ankündigt: Einerseits entwirft der Roman „Der Butt“ mit der Geschichte von elf Köchinnen ein groß angelegtes Panorama der menschlichen Ernährung. Mit der betonten Erkenntnis beispielsweise, dass die Einführung der Kartoffel in Preußen unter der Regentschaft Friedrichs II. historisch bedeutungsvoller gewesen sei als alle militärischen Siege des Königs zusammengenommen. Andererseits reflektiert der zwischen 1972 und 1977 entstandene Roman auf seiner Gegenwartsebene auch die Erfahrungen und Fragestellungen, die von der damals sich herausbildenden Umweltbewegung bewusst gemacht worden waren. Die Bedrohung der Natur durch die Industriegesellschaft gerät im Roman aber zuerst dort ins Blickfeld, wo ihre Auswirkungen die Welt der Köchinnen tangieren.

Die Wahrnehmung der Umweltproblematik verbindet sich im „Butt“ dann auch mit jener der Dritten Welt. Während der Arbeit am Roman hatte Grass seine erste Indienreise unternommen, die ihn auf die Globalität der ökologischen Krise aufmerksam machte.

Grass‘ Blick auf den Diskurs im Westen ist nicht ohne Ironie, die bei ihm immer dann ins Spiel kam, wenn er den Eindruck hatte, eine Bewegung isoliere einen bestimmten Aspekt einer weit komplexeren Problematik. Zeuge zunehmender Probleme und sich verschärfender Konflikte wurde er an der Wende zu den 1980er Jahren auch dort, wo er im Wortsinne zu Hause war. Das Baugelände für das AKW Brokdorf lag nur 6 km von seinem 1972 erworbenen Haus in Wewelsfleth entfernt. Luft- und Wasserverschmutzung in der Umgebung hatte er schon in einer Rede zum 1. Mai 1971 in Hamburg kritisch erwähnt. In den „Kopfgeburten“ bringt er sie auf den Punkt. Das „Einerseitsandererseits“ erscheint ihm das mitteleuropäische Gesellschaftsspiel der Zeit geworden zu sein. Es ist zum einen Reflex auf eine Vielzahl neuer, in ihren Konsequenzen kaum abschätzbarer widersprüchlicher Entwicklungen; und es schließt zum anderen die Gefahr ein, alles zu relativieren – und damit jeder Entscheidung auszuweichen:

„Einerseits ist der Bau von Atomkraftwerken ein nicht einzuschätzendes Risiko;

andererseits können nur neue Technologien den gewohnten Wohlstand sichern….

Einerseits sollte man die Slums in Bangkok, Bombay, Manila und Kairo sanieren;

andererseits locken sanierte Slums immer mehr Landflüchtlinge in die Städte.

Einerseits andererseits“.

Die 1980er Jahre wurden für Grass zur Vorausschau auf „Orwells Jahrzehnt“. Diesen Titel wählte er 1980 für eine Rede im Landtagswahlkampf von Baden-Württemberg und 1983 noch einmal in einer Rede zur bevorstehenden Bundestagswahl. In ihr benennt er „die fortschreitende Zerstörung der Natur“, „die durch Hochrüstung gesteigerte Atomkriegsgefahr“ und „die Notwendigkeit einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung“ als existentielle Herausforderungen im neuen Jahrzehnt. Der Dankrede zur Verleihung des „Antonio-Feltrinelli-Preises“ in Rom gab er den Titel „Die Vernichtung der Menschheit hat begonnen“. Es war etwas unsicher geworden, worauf Literatur stets hatte bauen können: „Man mochte sie einkerkern oder ins Exil treiben, wie es bis in unsere Tage weltweit üblich ist. Doch immer siegte am Ende das Buch und mit ihm das Wort“. Wo aber die Zukunft der Menschheit in Frage gestellt ist, gerät auch diese Gewissheit in Gefahr.

Dies führte Grass zum Konzept des Romans „Die Rättin“. Waren schon die Berichte an den Club of Rome als „nüchterne Offenbarung“ ein zeitgemäßes Gegenstück zur Apokalypse gewesen, so musste sich die Fantasie des Schriftstellers erst recht der Herausforderung dieser biblischen Erzähl-Gattung stellen. Allerdings mit einem Unterschied: „Kein von den Göttern oder dem einen Gott verhängtes Strafgereicht droht uns – es sind die Menschen selbst, die durch ihr Verhalten eine mögliche Vernichtung riskieren“. Genau an diesem Punkt setzt der Roman „Die Rättin“ (1986) an. In ihm wird ‚Ultemosch‘ von Ratten herbeigeführt, die in den Befehlszentralen der Supermächte elektrische Kabel zerfressen und so die Automatik der Vernichtung in Gang setzen. Doch die mit diesem Roman ausgesprochene Warnung bezieht sich nicht allein auf die schnellstmögliche Selbstvernichtung der Menschheit. Auch die schleichende Zerstörung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen erhält eigenständiges Gewicht.

Ein eigenständiges Gewicht erhalten bei Grass auch das Waldsterben und die deutsche Märchentradition. Wald und Märchen gehören untrennbar zusammen. Stirbt der Wald, geht nicht nur ein wichtiges Stück Natur verloren, sondern auch ein unverzichtbares Element menschlicher Kultur. Das Thema „Waldsterben“ hat ihn nicht wieder losgelassen. Die öffentliche Debatte, der jährliche „Waldschadensbericht“ der Bundesregierung, der später verharmlosend in „Waldzustandsbericht“ umbenannt wurde, die vergeblichen Forderungen nach „Tempo hundert“ auf den Autobahnen – an all das erinnert sein dem Orwell-Jahr 1988 gewidmeter Text „Mein Jahrhundert“ (1999). Grass hatte im Harz den Wald an der Grenze zwischen BRD und DDR zu zeichnen begonnen; als Ergebnis erschien der Bild-Text-Band „Totes Holz. Ein Nachruf“.

Das Zeichnen vor Ort hatte Grass zuvor schon in Kalkutta praktiziert. Nun folgte dem Blick auf das Elend in der Dritten Welt der auf die Verlustseite hinter der glänzenden Fassade der hochindustrialisierten Ersten Welt. Die knappen Textbeigaben sind teils Auszüge aus den Waldzustandsberichten der Bundesregierung, teils kommentierende Bildunterschriften, in denen immer wieder ein Bezug zur Romanfiktion „Die Rättin“ hergestellt wird. Einer der Untertitel, auf den das aktuelle deutsch-deutsche Geschehen abgefärbt hat, lautet so: „Während die Mauer löcherig wurde und viele Menschen, um Jahrzehnte gealtert, sich wiedersahen, wuchs – ohne Schlagzeilen zu machen – unser aller Ozonloch, dieser gänzlich humorlose Spielverderber“.

Die hier zitierten Aussagen von Günter Grass erklären mit, weshalb er die um diese Zeit einsetzende Wiedervereinigungseuphorie nicht teilen konnte. Der auf Grundlage von Artikel 23 und nicht von Artikel 146 des Grundgesetzes herbeigeführten staatlichen Einheit stand er ablehnend gegenüber. Die Erzählung „Unkenrufe“ (1992) und vor allem der Roman „Ein weites Feld“ (1995) sind Zeugnis hierfür – und wurden zum Auslöser teils heftiger Debatten in der deutschen politischen Öffentlichkeit. Die persönliche Chronik „Mein Jahrhundert“ (1999) ließ die Geschichte durch einzelne, jeweils einem Jahr zugeordnete Geschichten anschaulich werden. Die Katastrophe von Tschernobyl (1986) bestimmt dabei nicht nur die Erinnerung eines Pilzesammlers aus der Oberpfalz. Sie lässt auch die Auseinandersetzungen um Wackersdorf und Brokdorf im Rückblick in einem schärferen Licht erscheinen.

Hinzu kommt das mit vielen Unsicherheiten verbundene komplexe Thema Gentechnologie. In der „Rättin“ hatte Grass die neuesten Erkenntnise der Genforschung als Grundlage für eine Science-Fiction-Fantasie von geklonten Rattenmenschen genutzt. In „Mein Jahrhundert“ reflektiert er, angeregt von der Geschichte des Schafes Dolly, in selbstironischer Weise über die durchaus vorstellbare Zukunft einer vaterlosen Fortpflanzung des Menschen. Doch die hierbei auftretenden Ängste sind nicht mit den existentiellen Ängsten um das Fortbestehen der Menschheit vergleichbar, die dem Autor des Romans „Die Rättin“ die Feder geführt hatten. In dem das vierte Kapitel dieses Romans eröffnenden Gedicht „Mir träumte, ich müsste Abschied nehmen“ finden sich daher die eindringlichsten Passagen lyrischer Naturbeschwörung im Werk von Günter Grass:

„Mir träumte, ich müsste Abschied nehmen

vom kahlen Geäst,

von den Wörtern Knospe, Blüte und Frucht,

von den Zeiten des Jahres, die ihre Stimmungen

satt haben und auf Abschied bestehen.

Frühnebel, Spätsommer, Wintermantel. April April! rufen,

noch einmal Herbstzeitlose und Märzbecher sagen,

Dürre Frost Schmelze.

Den Spuren im Schnee davonlaufen. Vielleicht

sind zum Abschied die Kirschen reif. Vielleicht

spielt der Kuckuck verrückt und ruft. Noch einmal

Erbsen aus Schoten grün springen lassen. Oder

die Pusteblume: Jetzt erst begreife ich, was sie will“.


Original: Natur und Naturbedrohung bei Günter Grass. In: Jahrbuch Ökologie 2001. München: C. H. Beck 2000

Foto: Florian K | WikimediaCommons 2015

C.H.Beck Verlag
Quelle

Udo E. Simonis 2015 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Redakteur des Jahrbuch Ökologie

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