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Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder

Die krankmachende Kommunikation mit den Geräten. Zu einem Versuch über Digital Junkies. Von Rupert Neudeck

Man erfährt vieles, was man bisher nicht für real gehalten hat. Der Psychotherapeut und Arzt Bert te Wildt enthüllt einen Innenraum von Gefährdungen für junge Menschen, den man so nicht für möglich gehalten hätte. Dass sich eine Internet-Abhängigkeit bis hin zu einer Suizidgefährdung  und zum Suizid selbst steigern kann, macht ratlos. Es gibt wie bei jeder Sucht keine einfachen Mittel, schon gar nicht Psychopharmaka. Zumal man über dieses vorzügliche Buch erfahren kann, was schon für 2013 ermittelt wurde: 86 Prozent der weiblichen und 91 Prozent der männlichen Jugendlichen haben einen eigenen Internetzugang. Smartphones besitzen bereits 72 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren. Der durchschnittliche Zugang der Internetnutzung ist an Wochentagen von 99 Minuten (2006) auf 1709 Minuten, also drei Stunden pro Tag (2104) gestiegen. Das ist ein Achtel eines ganzen 24 Stundentages. Der Autor: wenn man das nur für die 8 Jahre der ermittelten Zeit der 12 bis 19 jährigen hochrechne, dann verbringt der Jugendliche ein ganzes Jahr vor dem Bildschirm.

Der Autor, so spürt man, ist souverän, weil er nicht so tut, als sei er als Therapeut aus diesem Zeitalter herausgesprungen. Er berichtet, dass er allen digitalen Unfug auch mitgemacht hat. Und das liest sich dann so: „Apropos wichtig tun. Als ich mir vor mehr als 15 Jahren mein erstes handy gekauft habe, legte ich mir auch ein headset zu.“ Das sind, so braucht der Autor gar nicht zu schreiben, diese Geräte mit Mikrophon und Lautsprecher, mit denen man freihändig telefonieren kann. „Manchmal sieht man Menschen wild gestikulierend durch die Stadt laufen, die scheinbar mit sich selbst sprechen“. Und der Autor meint, als Psychiater habe er immer gemeint, dass er es mit einem Schizophrenen zu tun hat, der akustische Halluzinationen in Form von Stimmenhören habe. Das Ding habe er nur ein einziges Mal benutzt und empfindet es als peinlich, wenn Menschen ihre Umwelt akustisch belästigen. Aber, wie der Rezensent und der Autor es aus ICE-Zügen wissen, finden es viele Zeitgenossen überhaupt nicht als peinlich, ihre Mitmenschen in einem ICE-Abteil durch persönlich-banales Gequatsche lautstark zu belästigen.

Das Buch gibt Hinweise an geplagte Eltern, Lehrer, Großeltern, Erzieher. Ein Hinweis heißt: „Etwas Verrücktes tun“, um die Gefährdungen abzuweisen. Z.B. einem Arbeitskollegen nebenan in sein Zimmer keine Mail zu schreiben, sondern selbst nach nebenan zu gehen.

Der Autor sieht als ganz wichtig das Vorbildverhalten an: Wo Kinder alleingelassen werden, das kann schon im Kinderwagen sein, wenn eine Mutter nur noch mit ihrem Smartphone kommuniziert und nicht mehr mit dem Baby im Kinderwagen.

Wer dieses überhaupt bestimmt habe, dass es besonders professionell sei, ständig erreichbar zu sein. Te Wildt behauptet das Gegenteil. „Wer wirklich souverän in seinem Job ist, der ist nicht ständig per Telefon erreichbar, empfängt und beantwortet nicht gleich jede Nachricht“. Es bleibt: Bislang hat keine technische Entwicklung die Welt und das Alltagsleben so verändert wie die digitale Kommunikation.

Eltern, Schule, Lehrer, auch Großeltern tun gut daran, den Heranwachsenden ganz viel von der analogen Kommunikation mitzugeben. Großeltern komme die Funktion zu, ein Gegengewicht zu der digitalen Revolution im Diesseits der analogen Welt zu bilden. Das heißt die Kinder zu begeistern für das Schreiben und Lesen, für das Selbst Musik-machen mit Instrumenten, das Basteln und Werken. Und ältere Kinder sollten für das Konzert-, Theater- und Opernleben begeistert werden. Auch sollte man in frühen Jahren den Kindern die Natur nahebringen.

Besser als jede Erziehung sei das Vorleben von Werten. „Wenn Kinder die Erfahrung machen, dass Ihre Eltern ständig auf ihren Smartphones herumtippen, wenn sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern benötigen, dann sollen sich Eltern nicht wundern.“

Der Autor hat auch Vorschläge, wie die Internetabhängigkeit bekämpft werden kann. Das allerwichtigste ist etwas medizinisch-Bürokratisches, sie muss ihre Anerkennung als Krankheit erhalten. Damit man sie als Krankheit behandeln und sie auch in die Forschung als Aufgabe geben kann. Man sollte bestimmten Geräten, die nicht so stark die Abhängigkeit befördern ein Gütesiegel verpassen wie das im Bio-Markt geschähe. Mich überzeugt das Vorbild-Beispiel der Älteren und Erzieher mehr als jedes Gütesiegel. Es müsste einen besonderen Adel oder eine besondere Elite profilieren, die sich frei und unabhängig von den Versuchungen der immer neuesten letzte Schrei Apparate verhält.

Der Autor lässt keine Vertröstungen zu. Zum Schreiben dieses Buches hat er sich in das Benediktiner-Kloster Neresheim zurückgezogen (der Abt sei sein Freund, er dort sehr willkommen), er berichtet nicht, ob das auch der Orden seines persönlichen Glaubens ist. Te Wildt bietet uns keine neue Religion an, keine Ideologie, wie wir wieder zu uns selbst kommen. Aber in seinem Vokabular helfender Verrichtungen kommen durchaus Begriffe vor, die wir bisher nur der verfassten Religion zugeschrieben haben. Medien-fasten empfiehlt der Autor an zwei Stellen seines sehr hilfreichen Buches. In vielem, was er beschreibt, lässt er einen Leser, der noch als Jugendlicher seine frömmsten Stunden in einer Gemeinde oder Kirche zugebracht hat, an diese Zeit zurückdenken.

Der Autor – und das macht sein Buch so sensationell glaubwürdig – bleibt auch selbstkritisch gegen sich selbst. Er verdammt nicht den ganzen digitalen Quatsch. Er weiß durchaus interessante Erleichterungen zu sehen, die uns bestimmte neue Apparate geben. Er bleibt aber selbstkritisch auch gegen die Sprache. Er entlarvt solche Chimären wie die „Schwarmintelligenz“, die nur ein Werbetitel ist, er entlarvt das Cybermobbing oder Cyberbullying als gefährlich gerade für junge Konsumenten. Wenn wir Erwachsene es nicht hinbringen, uns wieder mal im wirklichen analogen Diesseits zu orten, so können wir es unseren Kindern auch nicht zumuten und nicht von ihnen erwarten. „Die Anhängigkeit von Computern und Internet können uns Menschen von uns selbst und voneinander entfernen. Wenn er, der Autor, als Therapeut erlebt, wie diese hypertrophe Nutzung der Medien Menschen vereinsamen lässt, „dann möchte ich mich möglichst wenig davon abhängig machen. Auch ich lebe schon mit mehr Computern als mir lieb ist“.

Dabei haben wir über die Gefährdungen der Gewalt-Onlinespiele „World of Warcraft“ noch gar nichts gesagt, die in dem Buch eine dominierende Rolle spielen auch nicht über die Cybersexsüchtigkeit, die auch nicht mehr unterschätzt werden kann. Es werde auch immer mehr erkennbar, dass immer mehr sog. Freundschaften, sexuelle Kontakte und Partnerschaften über das Internet angebahnt werden. „Gerade bei den Abhängigen von Cybersex und sozialen Netzwerken ist das ja Teil des Problems, wenn die ewige Suche nach dem anderen nie zu einem Ziel führt. Bei den Abhängigen von Online-Computerspielen, die vor der Behandlung oft nicht einmal einen Account in sozialen Netzwerken und Kontaktbörsen hatten, könne ein entsprechender Zugang vielleicht sogar hilfreich sein.

Digitales Selbstmarketing funktioniert in den sozialen Netzwerken, weil es auch gut zu dem Geschäftsmodell passe. Dieses Prinzip steigere den persönlichen Stellenwert ungeheuer. Das Nutzerprofil wird auch „account“ genannt, und das ist so etwas wie eine Visitenkarte in der virtuellen Welt. Dagegen sei auch nichts einzuwenden. Doch persönliche Beziehungen sind eben mehr als ein Tauschgeschäft, bei dem Selbstdarstellungen und Aufmerksamkeit für professionelle Zwecke genutzt werden.

Das Buch ist nirgendwo nur fachlich geschrieben, obwohl das Fachliche, das Medizinische, das Therapeutische eine sehr große Rolle spielen. Zwischendurch gibt es Einsprengsel von Zeitungsnachrichten, die uns noch mal wieder den Kopf waschen: Wir sollten das sehr ernst nehmen und nicht zu den im Titel erwähnten Digital Junkies werden:

„August 2014 – Das Hamburger Abendblatt berichtete, dass eine Mutter ihrem 15-jährigen Sohn nach sieben Stunden ununterbrochenen Spiels den Internetzugang kappte. Der Jugendliche rastete infolgedessen derart aus, dass die Mutter sich mit ihrem jüngeren Kind in einem anderen Zimmer verschanzen musste und von dort aus die Polizei anrief. Diese brach schließlich die Wohnung auf und brachte den Jungen gegen seinen Willen in eine Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie, wo er per richterlichem Beschluss gegen seinen Willen behandelt wurde, weil von Ihm eine Fremdgefährdung ausging.“

Bert te Wildt – „Digital Junkies – Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder“ – online bestellen!

Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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