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Siedler Verlag

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Paul Collier „Exodus“

Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Vorteil oder Nachteil? Wie können wir in der globalisierten Weltgesellschaft mit Migranten umgehen? Von Rupert Neudeck

Sehr programmatisch beginnt und endet das Buch mit dem Hinweis darauf, dass durch einen geschichtlichen Zufall der Autor nicht Paul Hellenschmidt, sondern Paul Collier heißt. Der Großvater des Autors verließ das Dorf Ernsbach in Deutschland und wanderte in die damals wohlhabendste Stadt Europas, nach Bradford. Dieser Umzug sei „typisch für die moderne Migration aus armen Ländern in reiche“.  Der Autor habe ein Foto seines Verwandten Karl Hellenschmidt über seinem Schreibtisch hängen, auf das er von Zeit zu Zeit während der Arbeit an dem Buch hinaufschaute. Sein Vorfahr sei der Archetyp des modernen Migranten gewesen. Er verließ ein kleines Dorf und seine arme Familie. Dann aber fällt sein Blick auch noch auf den Mann mittleren Alters, seinen Großvater.

Karl Hellenschmidt war der typische Vertreter der zweiten Generation von Eingewanderten. Er wagte den Sprung in die andere neue  Identität. „Deshalb haben Sie ein Buch von Paul Collier gelesen und nicht eines von Paul Hellenschmidt“. Es ist das ernsteste und sachlichste Buch zu dem größten Weltproblem, vor der die globalisierte Menschheit steht. Menschen-Millionen sind aus armen Ländern unterwegs zu den reichen Ländern. Wir erleben die Quittung, dass es in der modernen Welt eben noch keine Wohlstandsumverteilung gegeben hat – trotz des Kommunistischen Weltreiches, das diese Umverteilung programmatisch sich auf die Fahnen geschrieben hatte. Trotz der christlichen und muslimischen Kulturen und Religionen. Es bleibt die Migration einerseits unausweichlich, aber auch unmöglich, wenn sich nämlich die 40 Prozent, die nach Paul Collier geschätzt sich auf den Weg machen könnten, wirklich auf den Weg machen und bei uns ankommen würden.

Das Buch ist durch alle Formen der wissenschaftlichen und publizistischen Tatsachenrecherche beglaubigt. Am Anfang beschreibt er die Ambivalenz der „Aufnahmegesellschaften, die nicht wissen, ob sie die Migranten begrüßen oder abwehren wollen“. Der nächste Teil gilt der Beschreibung dieser Einwanderer, die er sowohl als Gewinner wie auch als Verlierer der Migration in großen Kapiteln beschreibt. Der nächste Teil gilt der Problematik der im doppelten Sinn des Wortes „Zurückgebliebenen“: Die Heimatregionen werden eben auch durch den brain drain abgehängt und ausgeblutet. Die berühmten Geschichten darüber, dass in Großraum London allein mehr sambische Ärzte arbeiten als in ganz Sambia.

Der letzte Teil müsste als kleine Broschüre den Politikern in Berlin, Brüssel, Strassburg London Paris, Warschau Rom und Madrid an die Hand gegeben werden, denn sie lesen kaum solche dicken Bücher. Collier fordert eine an den Aufgaben gewachsene Einwanderungspolitik und behandelt die Gegner der Einwanderung, die in Europa leider mehr und mehr Stimmen einheimsen.

Der Autor macht nicht in Optimismus. Es ist nicht wahrscheinlich, dass die „Migration aus armen Ländern in reiche viel dazu beiträgt, die Einkommenskluft zwischen ihnen zu schließen“. Vorerst jedenfalls nicht. Ähnlich haben ja auch alle Anstrengungen in Milliarden Dollar und Euro Höhe in der Entwicklungspolitik außer kosmetischen Veränderung und einem guten Gefühl bei uns Reichen nicht annähernd das gebracht, was wir uns vor 60 Jahren erhofft hatten. Alte Vertreter der konventionellen Politik gehen immer noch hausieren und verlangen die Einhaltung einer o,7 Prozentzahl im Haushalt. Als ob es das sein könnte. Die bisherigen Formen der Migrationspolitik waren alle mehr oder weniger „verstohlene Verlegenheitslösungen“. Die Politik hält sich heraus aus der Verlegenheit. Aber die Politik mag wie schon die Natur kein Vakuum. In dem Raum, den die großen Parteien frei ließen, siedelte sich rasch ein bunter Haufen grotesker Figuren an; von Rassisten über Xenophobe bis hin zu Psychopathen. An manchen Stellen ist das Buch unausdrücklich die beste Kampfansage gegen diesen verderblichen himmelschreienden, intellektuell verbrämten Unfug, den uns Thilo Sarrazin serviert hat.

Wichtig sind einige Differenzierungen. Syrer (z.B.) kann man in Deutschland besser aufnehmen, weil man schon eine große Ausländergemeinde von Syrern bei uns hat.

Das Buch geht Schritt für Schritt vor und lässt sich auf vordergründige Parolen nicht ein, untersucht sie, er wendet sie hin und her. Was für die USA und Großbritannien gilt, müsse nicht die Deutschland und die Niederlande gelten. Eines der oft gebrauchten Argumente lautet, dass die Migration auf lange Sicht zu einem großen Nutzen sich auswirkt. Es wird behauptet, zumal in den USA, dass Einwanderer sich innovativ verhalten. Als Beleg wird angeführt. Dass Einwanderer und ihre Kinder in den USA überproportional viel Patente anmelden. Das so Collier sei ein wichtiges Argument: Die Immigration von Innovationen können die Wachstumsrate stark erhöhen. Aber das US-Beispiel kann auch damit zusammenhängen, dass die außergewöhnlich Attraktion der USA für innovative Unternehmen dazu geführt hat. Collier grenzt sich gegenüber den Argumenten von „Ökonomen“ immer ab, ohne diese zu verwerfen, aber sie allein machen nicht die Lösung aus. Ökonomen seien eben der Auffassung, die Migration ‚an sich‘ sei etwas Gutes.

Der Begriff Absorption spielt bei Paul Collier eine große Rolle, weil viele der Migranten eben in der Aufnahmegesellschaft dann als Bürger richtig bleiben. Ein anderer Tatbestand darf nicht unterschätzt werden: das Vertrauen. Migranten aus armen Ländern wird in reichen Ländern selten ein herzliches Willkommen bereitet. Sie haben meist mit Rassismus und Diskriminierung am Arbeitsplatz zu kämpfen. Und immer wenn die Politische Bürokratie ein semantisches Zauberwort erfindet, heißt das nicht, dass diese Tatbestände umgedreht werden. So wächst in Deutschland – je weniger Willkommen sich mehrheitlich zeigt – , die Begeisterung für eine semantische Worthülse: „Willkommenskultur“. Willkommen reicht da nicht, es muss sich mit einem Begriffsungetüm nämlich „Kultur“ mischen. Das Vertrauen ist die entscheidende Ressource, die dazu führt dass sich Migranten schnell einleben. „Einwanderer können sicherlich leichter eine Bindung zu ihrer neuen Gesellschaft aufbauen, wenn die einheimische Bevölkerung vertrauensvoll ist“.

Der Autor hakt auch argumentativ die Argumente der Migrationsgegner ab: so gebe es in der Migration außergewöhnlich hohe Kriminalität. Das einzige Datum dafür sei der hohe Anteil von Ausländern in den Gefängnissen. In Frankreich machen die Ausländer 6 Prozent der Bevölkerung, aber 21 Prozent in den Gefängnissen aus. In den USA ist es umgekehrt: die Kriminalitätsrate der Migranten liegt unterhalb der einheimischen Bevölkerung. Da Kriminalität nicht den sozialen Normen entspricht, ist sie bei fehlenden Bindegeweben mit den Einheimischen leichter mit der Selbstachtung zu vereinen. „Je schwächer die Verbindung zu potentiellen Opfern, desto weniger muss man Rücksicht  nehmen“.

Auch Standardsprüche der Migrationspolitik klopft der Autor ab und findet immer Differenzierungen. Z.B. Werden Einwanderer gebraucht, um einen Fachkräftemangel zu beheben?

Die Ausbildung von jungen Facharbeitern, auch Migranten, hängt davon ab, dass es Unternehmen gibt, die in sie investieren. Da eine Ausbildung teuer ist, besteht die profitabelste Strategie darin, ausgebildete Arbeiter bei anderen Unternehmen abzuwerben. Aber, diese Argumente, die für Deutschland stimmen mögen, stimmen z.B. nicht für Japan. Immerhin sei Japan ohne Einwanderung weiterhin eines der reichsten Länder der Erde. Damit meint Collier, dass die Wirtschaft bei Festlegung der Einwanderungspolitik kein besonderes wichtiges Kriterium sein sollte. Das ist eines der wenigen Felder, wo ich dem Autor widersprechen würde. Wenn man in Deutschland z.B. die jungen Afrikaner, die es bis zu uns schaffen, gut ausbildet, ist die Wirtschaft, sind die Unternehmer diejenigen, die am wenigstens von den allgültigen Vorurteilen beeinflusst sind.

Richtig  ist auch, dass, was Dubai kann, wir als liberale Gesellschaft noch lange nicht dürfen. Dubai ist zu einer Luxusdienstleistungsgesellschaft geworden. 95 Prozent der Bevölkerung von Dubai sind Einwanderer und man wollte meinen, keine Gesellschaft könne eine Zuwanderung dieser Größenordnung ertragen. Aber für Dubai stellen sie keine Bedrohung dar, weil sie weder die Staatsbürgerschaft noch das Aufenthaltsrecht erwerben können. Dubai kann das praktizieren, offene westliche Gesellschaften könnte eine solche Politik „nicht einmal ansatzweise“ verwirklichen. „Sind die Einwanderer erst einmal im Land, wird man sie schwer wieder los“. In den USA hatte die Regierung Obama eine Quote von 400.000 Ausweisungen mühsam durchgehalten. Dazu sind in Europa Ausweisungen selten, juristisch langwierig und umstritten. Sogar die ersten Gastarbeiter, die aus Italien, dann der Türkei und anderen Ländern vermeintlich vorübergehend nach Deutschland kamen, blieben auf Dauer.

Das Buch erfreut, weil es den Pfaden wissenschaftlicher Stringenz treu bleibt, gleichzeitig aber so spannend und mit einzelnen Beispielen angereichert erzählt, dass man nicht das Gefühl akademischer Lektüre bekommt. Mitten im Buch steht die Prozentzahl, die das Problem noch mal dramatisch anheizt und aufmischt. Nach einer Gallup-Umfrage, die der Autor zitiert, sagen rund 40 Prozent der Bevölkerungen armer Länder, sie würden in ein reiches Land auswandern, wenn sie könnten. Immerhin können jetzt natürlich schon viel mehr auswandern oder fliehen, weil die Möglichkeiten der Verkehrskommunikation und auch die digitale Kommunikation einfacher geworden sind.

Eine Tatsache wäre ein große Schubkraft für Migration: „Wenn Migranten die massiven Hindernisse überwinden, die ihrer Auswanderung im Wege stehen, haben sie durchaus beachtliche Produktivitätsgewinnen zu erwarten.“ Ökonomen seien skeptisch gegenüber der Umfrage. Dafür hat aber Collier ein Beispiel, was diese Zahl von 40 Prozent nicht illusorisch erscheinen lässt. Auf Grund einer komplizierten politischen Geschichte hätten türkische Zyprioten immer schon einen privilegierten Zugang zu Großbritannien. Heute wird in London die Zahl der zypriotischen Bevölkerung in England auf 130 bis 300.000 Personen geschätzt. Gleichzeitig sei die Zahl der in Zypern lebenden Einwohner von 102.000 auf 85.000 zurückgegangen. Es leben also jetzt mehr türkische Zyprioten in Großbritannien denn in Zypern. Die Gallupzahl von 40 Prozent scheint nicht übertrieben zu sein. 

Der Autor geht auch auf die deutsche Problematik ein, ohne sie eigentlich als solche zu benennen. Wir Deutschen haben uns etwas auf unser Asylrecht eingebildet. Aber es funktioniert nur, wenn es nicht zu viele sind, die es beanspruchen. Deshalb wird die Leistung der deutschen Gesellschaft in Bezug auf Absorption eigentlich durch das alte Asylrecht eher behindert. Wir bilden uns darauf massiv viel ein, besonders einige Asylrechtsgruppen, die davon leben, dass das der Gipfel der Großzügigkeit sei, aber Collier hält fest: Die Bereitschaft Asyl zu gewähren, schafft Betrugsmöglichkeiten, die ohne das Asylrecht nicht so einfach da wären. Sich fälschlicherweise als Asylant auszuweisen, ist doppelt verwerflich, denn es untergräbt die Legitimität einer notwendigen humanitären Institution. Die Zahl der Asylsuchenden sei wahrscheinlich größer als gerechtfertigt wäre, worin sich die extreme Schwierigkeit zeige, Missbrauchsvorwürfe gegen Behörden zu widerlegen. Dazu aber haben Gerichte unserer Aufnahmeländer die Messlatte sehr hochangelegt, mit der sie bestimmen, wann ein Herkunftsland als nicht repressiv bezeichnet werden kann: Nach Ansicht britischer Gericht erfüllen nur 4 von 54 afrikanischen Staaten Bedingungen, die es erlauben, ihre Bürger wieder dorthin zurückzuschicken.

Eine zweite Zahl gibt diesem Buch eine große politische Gestaltungswucht. Die Rücküberweisungen der Migranten stellen den bisher wahrscheinlich größten Motor der Wohlstandsumverteilung dar mit geschätzt 400 Mrd. US-Dollar im Jahr. Welt weit machen diese Überweisungen rd. 6 Prozent der Einnahmen der Herkunftsländer aus, wobei jeder Migrant rund 1000 Dollar pro Jahr in die Heimat schickt. Der Autor gibt sich nie mit einfachen Erklärungen zufrieden, auch die Art der Rücküberweisungen und ihre Höhe sind sehr unterschiedlich.

Haiti hat bis heute davon nicht profitiert, es scheint ein failed state zu sein. Die Senegalesen sind die großzügigsten neben den Mexikanern, die tatsächlich 31 Prozent ihres Einkommens in das Herkunftsland zurückschicken. Die Migration beruht bei der eklatanten Feststellung von Collier, dass es in Afrika bisher kaum verantwortliche Sozialsysteme geschweige Demokratie gibt, auf einer massiven Motivation. „Gerade wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht, greifen die Menschen zu verzweifelten und kostspieligen Strategien, um nicht zu ertrinken. Sie sind bereit einen Teil des Einkommens zu opfern. Als wirksame Versicherung versetzt die Migration die Menschen in die Lage, die Risiken auf sich zu nehmen, die eine Erhöhung ihres längerfristigen Einkommensniveaus darstellt.“

Die Entwicklungshilfe ist eigentlich nur als Transfer jener Steuereinnahmen zu sehen, die als Gewinn aus den Bildungsinvestitionen anzusehen sind. Collier hat dafür die Formel bereit. Dass die linke Hand an Hilfe leistet, was die rechte Hand erhält oder: Entwicklungshilfe ist keine Spende, sondern Rückzahlung. Ein erheblicher Teil dessen, was wir großartig „Entwicklungshilfe“ nennen, könnte lediglich als Kompensation für die implizite Hilfe verstanden werden, welche die Aufnahmeländern von den Herkunftsländern erhalten.

Collier hat für die Messlatte einen Begriff gewählt, der eigentlich poetisch klingt. Es gehe nicht nur um Einkommen, sondern auch um Glück, Lebensglück, das sich verwirklichen muss bei der Migration. Und das sich nicht immer gleich verwirklicht. Wieder kritisiert er die Ökonomen: „Der von den Migranten eingenommen massive Produktivitätsgewinn aus der Migration, der die Ökonomen so begeistert, scheint keinen entsprechenden Gewinn an Wohlbefinden zu bewirken“. Ähnlich war es mit der Migration vom Land in die Städte. „Die Urbanisierung hat die Möglichkeit für die Massenflucht aus der Armut geschaffen. „Der von den Migranten zu zahlenden psychologische Preis mag hoch sein, aber es ist der unvermeidliche Preis des Fortschritts und daher als Investition zu verstehen“.

Quelle

Rupert Neudeck 2014 | Grünhelme 2014

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