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Klaus Wagenbach Verlag

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Ukraine: Reportagen aus einem Land im Aufbruch

Es gibt keine guten Oligarchen. Zu einem Buch über die Ukraine heute. Von Rupert Neudeck

Das was diesen Riesenkontinent Russland, der sowohl zu Asien wie zu Europa gehört, auszeichnet: Er hat bisher weder die Gelegenheit noch die Kraft gehabt, die eigene schmerzliche und tragische Vergangenheit bis hin in die dunkelsten Zeiten der stalinistischen Unterdrückung und des Gulag Systems aufzuarbeiten. Der Machthaber in Moskau wüßte gar nicht, wovon wir sprechen, wenn wir das so anfragen. Aber auf Schritt und Tritt begegnet uns dieses Bedürfnis, das sich bis heute nur dunkel artikulieren kann und meist einfach weggedrückt und unterdrückt wird.

Diese Unfähigkeit wird man diesen Menschen nicht zum Vorwurf machen können, denn sie haben nicht die Gelegenheit gehabt, ein Reeducation Programm wenigstens in Ansätzen zu erleben, wie wir Deutschen es sowohl 1945ff wie auch 1989ff durchgemacht haben. Die Eltern der Journalistin Tetjana Tschornowol werden in dem Buch zitiert. Sie sind Rentner und haben als Mathematiker gearbeitet: „Unsere Familie hat die sowjetische Zeit durchlitten. Ich habe in Sibirien gelebt, bevor ich zum Studium nach Kiew geschickt wurde“. Tränen kommen der Mutter Natalya in die Augen: Ihre Eltern waren im Lager. „Mein Vater stammte hier aus Kiew und nach dem Krieg haben die Sowjets ihn als Widerstandskämpfer in den Gulag gebracht. Sechs Jahre blieb er dort, meine ältere Schwester wurde im Lager geboren“.

Das System in der Ukraine hat den ungeschützten Übergang in die Wildwest-Privatisierung erlebt. Dadurch ist es zu der Vielzahl von Oligarchen gekommen, die auf natürliche Weise die Korruption angeheizt haben bis zu einem System, das mehr auf Bestechung und Korruption angewiesen ist denn auf Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Transparenz und Demokratie. Deshalb gibt es im Lande soviel Misstrauen und wird auch von den wirklich demokratischen Kräften jetzt der „3. Maidan“ angedroht.

Das Buch behandelt die Geschichte der verspäteten Nation, die wir als Deutsche ja auch gewesen sind (nach dem berühmten  Buch von Helmut Plessner). Wir müssten auf Grund unserer Geschichte sehr viel mehr Verständnis für die Ukraine haben. Sie war wie Polen durch die Polnischen Teilungen ähnlich zerrissen wie eben der Nachbar im Westen. Aus dem zur k.u.k Monarchie gehörenden Galizien wurde später die westukrainische Republik. Die im Südwesten des Landes gelegene Karpatenukraine wurde am 10. September 1919 an die neu gegründete Tschechoslowakei gegeben. In der heutigen Zentral- und Ostukraine setzte sich die sowjetische Herrschaft durch.

Politisch nicht unabhängig, aber als sowjetische Nation akzeptiert, entsprachen die Grenzen der Sowjetrepublik den heutigen Landesgrenzen und de facto stellten die Ukrainer (außer der Krim) in dieser Zeit auch die Mehrheit der Bevölkerung. Als die Sowjetunion und der Kommunismus für immer das Zeitliche segneten, kam es am 1. Dezember 1991 zu einem Referendum in der Ukraine. 91,3 Prozent der Bevölkerung stimmten für die Unabhängigkeit. Auch in den heute von pro-russischen Separatisten beherrschten Gebieten Donezk und Luhansk waren es 84 Prozent, die dafür waren. Es hat sich dann aber eine bis heute andauernde und auch noch nicht beendete Enttäuschung der Menschen breitgemacht, die ein durch und durch korruptes System erleben mussten, das es zudem nicht mal schaffte, die Minima eines Gehalts oder eine Rente für die Menschen zu garantieren.

Die Tragödie der Unabhängigkeit geht aber auch noch einen Schritt weiter zurück. Als die Ukraine am 22. Januar 1918 unabhängig wurde im Verlauf der gewaltigen tektonischen Änderungen im geopolitischen Korsett Osteuropas, wurde diese Unabhängigkeit am 3. März 1918 schon wieder kassiert durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der von russisch-sowjetischer Seite die Ukraine erst mal unter ein deutsches Kommando brachte.

Es kam zur Unabhängigkeit wie in einem Staatsstreich und das Land hatte wenig Zeit, die eigene Geschichte zu verarbeiten. Es kam zu einer „Wildwestprivatisierung des ehemaligen sowjetischen Staatsguts“, woraus sich ein oligarchisch korruptes System ergab. Die Autorin zitiert Ihren Gewährsmann Valerij Grischtschuk: Der für ihn größte Fehler war 1991 angelegt: „Das ehemalige Staatseigentum ging mit der Privatisierung an einige wenige Superreiche!“ Die Ukraine hat auf das Recht verzichtet, eigenes Gas durch die russischen Pipelines zu transportieren. Viel klüger wäre es gewesen, eine Beteiligung an den russischen Gasleitungen zu verhandeln.

Die Autorin macht nicht den Fehler aller Journalisten, nur über die schwarzen Katastrophen zu berichten. Sie stellt Menschen vor, die die Hoffnung der Ukraine hochhalten. Eine Rechtsanwältin, Valentyna Telytschenko, die seit 15 Jahren versucht, Recht und Rehabilitation für den am 16. 09. 2000 ermordeten 31jhrigen Journalisten Gongoze zu erreichen, was eine Sisyphos-Arbeit ist, wenn das Wort nicht zu schwach dafür ist. Sie beschreibt die Journalistin Tetjana Tschornowol, die wegen ihrer Furchtlosigkeit am 25. Dezember 2013 auf der Straße aus dem Auto geholt und krankenhausreif geschlagen wurde. Sie war einem Korruptionsskandal im Innenministerium auf der Spur. Ihr Mann hat sich bei dem Asow-Freiwilligen-Bataillon gemeldet und starb vier Wochen später.  Luzenko ist die dritte Lichtgestalt für Ute Schaeffer, der eine NGO gegründet hat für die Erhaltung des alten Kiew. Es wird mit dem alten ehrwürdigen Bausubstanz der wunderbaren Hauptstadt Kiew durch die räuberischen Investment-Kapitalisten nicht pfleglich umgegangen. Deshalb muss man durch eigene Hand außerparlamentarisch Bauzäune wegreißen und selbst Hand anlegen. Die Justiz in der Ukraine ist durch die Korruption total gelähmt.

Die Autorin beschreibt die Erwartungen an die neue Führung des neuen Präsidenten Poroschenko. Poroschenko ist belastet durch die Qualität als Millionen schwerer Schokoladenkönig und durch eine dauernde Chamäleon-Haltung. Er hat sich im Laufe der letzten 25 Jahre durch alle Parteien gezappt. Auch hat er seine Versprechungen nicht eingehalten. Er hatte versprochen, den von ihm finanzierten Fernsehsender in andere Hände zu legen. Vor seiner Wahl hatte Poroschenko angekündigt, er werde seinen Süßwarenkonzern „Roschen“ im Falle seiner Wahl verkaufen. Die Autorin meint, der amtierende Präsident werde sich an diesen Ankündigungen messen lassen müssen.

Er tauschte mehrmals die Lager. Anfangs war er in der Sozialdemokratischen Partei, 2001 trat er der „Partei der Regionen“ bei, die damals die Basis von Präsident Leonid Kutschma war. Dann wechselt er zu Viktor Juschtschenko, dem Hoffnungsträger der „Orangenen Revolution“. Dann war Poroschenko im Kabinett der gescheiterten Ministerpräsidentin Tymoschenko Außenminister. In der Amtszeit von Janukowitsch war er ein Jahr Wirtschaftsminister. Würden Sie bei diesem Mann, sagt man im kapitalistischen Westen, einen Gebrauchtwagen kaufen?

Die Autorin verweist auf das massive Misstrauen, das durch die wirtschaftskriminellen Netzwerke entstanden ist, die den Staat auf demokratische Weise herunter und in den afrikanischen Armutsalltag stürzten. Sie macht auf S. 104 mit einigen Ukrainerinnern und Ukrainern bekannt, um das Ausmaß der neoliberalen Verwüstung im Lande darzustellen: Oles J., Polizist in Odessa, Jahreseinkommen ca. 2.400 Euro,

Rinat A., Unternehmer (dahinter verbirgt sich der Klarname Achmetow), Jahrgang 1966 geschätztes Jahreseinkommen: 16 Mrd. US Dollar (12,3 Mrd. Euro);

Mykola S. Rentner in Kiew, Jahreseinkommen 1.600 Euro;

Viktor P. Unternehmer und Schwiegersohn des ex-Präsidenten Leonid Kutschma, Jg. 1960, Jahreseinkommen ca. 4,2 Mrd. US-Dollar… Vor der Krise und den Auseinandersetzungen waren die Einkommen in der Ukraine etwa so hoch wie in Indien, Brasilien, Südafrika.

Die Autorin macht über ihre intensiven und langfristigen Recherchen deutlich, wie verfahren die Lage durch die gezielte staatliche Desinformation der russischen Medien geworden ist. Es gibt keine wirkliche neo-faschistische Gefahr. Aber es gibt natürlich, wenn eine Gesellschaft im Maidan zu sich findet und ihre Demokratie und Reformen will, die Bereitschaft das Heft in die Hand zu nehmen und auch Gewalt anzuwenden. Der „Rechte Sektor“ wurde stark, nicht weil ihm Faschisten angehören, sondern weil er nicht mehr nur Reden hören wollte, sondern etwas zur Verteidigung des Staates auch mit Waffen tat. Die „Freiheitspartei“ bekam noch 4,71 Prozent, der „Rechte Sektor“ im Mai 2014 nur noch 1,3 Prozent. Auch Julia Tymoschenko hatte die Zeichen der Zeit nicht verstanden, als sie im Wahlkampf mit Luxusschlitten durch das Land brauste.

Aber das Land hat im Unterschied zu den Erfolgsgeschichten im Nachbarland Polen und Estland nicht annähernd eine wirkliche Rechtsstaatsform bekommen, die auch Investoren anlockt. Der Staat erweist sich seinen Bürgern als „bestohlener Staat“. 1,2 Mio. sind Arbeitsemigranten, und der IOM (International Organisation für Migration) schätzt insgesamt 6,5 Mio Emigranten.

Der Maidan und die radikaldemokratischen Kräfte haben Europa bewiesen, zu was ein Volk noch fähig sein kann. Sie haben, so Ute Schaeffer, die Apathie der ukrainischen Gesellschaft beendet. „Die Willkür der korrupten Beamten und die Selbstbedienung der Politiker sind allerdings nicht beendet“, sagt ihr ihre Gewährsfrau. Reale Veränderungen seien nicht so schnell zu erwarten, auch nicht durch die 17 Mrd. US-Dollar des Internationalen Währungsfonds. Sie zitiert ihren Gewährsfrau Laryssa Chrsystyna: „Meine Tante sagte einst, wir hätten das sowjetische System 70 Jahre eingesaugt und jetzt müssen wir es 100 Jahre von uns abwaschen. Immerhin: 25 Jahre davon sind bereits verstrichen.“

Die Autorin begreift, wie die Nachbarn im Westen durch die kriegerischen Eingriffe von Putin in der Ostukraine belastet sind.

Das Buch klärt uns auf, dass die Verbrechen sich wiederholen. Wir dachten, über die private Vermögenskorruption eines Sese Seko Mobutu im Kongo würde niemals ein anderer Staatschef gehen können. Und erfahren durch dieses Buch, dass der Präsident Janukowitsch sich bis zu seiner schändlichen Flucht aus dem Amt am 22. Februar 2014 hundert Milliarden Dollar unter den Nagel gerissen hat. Für Transparency Internation steht das Land mittlerweile auf Platz 144 von 177 Ländern.

Auch darauf macht das Buch aufmerksam. Gegen eine merkwürdige neue deutsche Sicht, die besonders vom ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt inszeniert wurde, gilt ja Russland als unser unmittelbarer Nachbar. Dazwischen, das wird auch von Schmidt zugegeben, gibt es noch ein kleines Land, wie heißt es noch? Ach ja Polen. Aber das ist so klein, dass es nur die Rolle als mittelbarer Nachbar spielen darf. Nein, die Ukraine ist ein wertvoller Nachbar für die Europäische Union, für die Mitglieder der EU wie Polen, Estland, Litauen, die Tschechoslowakei ist sie ein wertvolles Land, das sowohl zum Westen wie zum Osten gute Beziehungen haben soll.

Die Autorin sieht Hoffnungen, trotz allem. Die pro-europäische und demokratische Zivilgesellschaft im Parlament sei jetzt in neuer Stärke vertreten. Dass so viele ehemalige Aktivisten jetzt in der Politik und im Parlament sind, ist ein gutes Zeichen, obwohl ihnen Erfahrung fehlt. „Aus Aktivisten werden Realpolitiker werden müssen, die hart arbeiten“. Denn es lauern die Gefahren, manchmal sind sie offenbar. Eine Gefahr, dass Russland seinen hybriden Krieg in der Ukraine fortsetzt und die Abspaltung der Regionen im Osten vorantreibt. Und die andere Gefahr, dass es den Verantwortlichen erneut am politischen Willen fehlt, den Neustart zu wagen und die Schlüsselthemen der politischen Stagnation aufzugreifen.

Ute Schaeffer „Ukraine – Reportagen aus einem Land im Aufbruch“

Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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