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Ullstein Verlag | Heiner Geißler "Was müsste Luther heute sagen?"

© Ullstein Verlag | Heiner Geißler "Was müsste Luther heute sagen?"

Was müsste Luther heute sagen?

Ein neuer Luther-Geißler und kein bisschen weniger radikal. Von Rupert Neudeck

Das ist ein echter Geißler, so wie wir ihn kennen, kritisieren und mögen. Er hat immer etwas Gewaltiges im Sinn, aber er vergisst nicht, dabei schelmisch zu sein. Manche Übertreibungen sind ironisch gemeint: Weil er bei einer so gewaltigen Institution wie der Katholischen Kirche nur meint, mit dem Preßluftbohrer kommt man zu den ersten notwendigen Schritten der Änderung. Geißler ist ja ein Politiker-Theologe, der sich traut, Fragen zu stellen, bei denen feinsinnige Wissenschaftler die Nase rümpfen. Schon mit dem Titel „Was würde Jesus dazu sagen?“ haben wir uns gefragt: Wie kann sich der Geißler trauen, solch eine unbescheidene Frage zu stellen? Da ist die neue Frage nicht annähernd so unbescheiden, denn was Luther heute sagen müsste, ist eher analytisch und kirchenpolitisch herauszufinden. Wenn der Geißler, wie wir ihn lieben, dann zur Höchstform aufläuft, hört und liest sich das so: Nach Gottes Ratschluss sei es ja ausgerechnet die Frau und nicht der Mann gewesen, die die Frucht vom Baum der Erkenntnis nahm, um sie dann anschließend dem offenbar debilen Adam, der von nichts eine Ahnung hatte, zu übergeben.

Dann zitiert er noch aus dem Alten Testament Buch Sirach die berühmte Stelle: “Von einer Frau nahm die Sünde ihren Anfang, ihretwegen müssen wir alle sterben“ (Sir 25.32). Wohin das Weiberregime hinführe, das habe sich an Eva gezeigt, echote Luther anderthalb Jahrtausende später. Die Behauptung ist ein bis heute unverrückbarer Bestandteil der prophetischen Weltreligionen, Christentum, Judentum, Islam. Dann kommt es: „Diese Dämonisierung der Frauen ist eine schwere, nicht wiedergutzumachende Sünde des Christentums, aber auch der anderen beiden Weltreligionen. Die Frauen mussten diese theologische Verirrung über die Jahrhunderte bis heute bitter büßen“. Noch ‚schöner‘ sagen es nur die Taliban in Afghanistan. „Die Ehre des Mannes ist die Demut seiner Frau“. Tolldreister geht es nicht. Luther sagte in einem seiner Tischgespräche: Falls Katharina ihm über den Mund fahren wollte – was er also für möglich hielt – würde er ihr eine kleben. So tat das noch die vereinigte Evangelische Kirche 2005, wie Geißler herausbekam; das ist eine richtige Fundstelle. Die Kurie hatte auf dem Weltjugendtag in Köln die Evangelische Kirche, die EKD zu einem Gespräch mit Papst Benedikt XVI. eingeladen. In dieser Delegation befand sich die Bischöfin von Hannover Margot Käßmann. Auf Wunsch des Papstes wurde sie als Mitglied der Delegation abgelehnt, also ausgeladen. Der Papst wäre damals in Ohnmacht gefallen, deshalb konnte sie nicht dabei sein.

Und an dieser Stelle noch mal ein unerbittlich aufräumender Geißler. Auch bei den Taliban darf man ja nicht den Frauen die Hand geben. Es sei zu befürchten, dass Joseph Ratzinger und die Taliban deshalb beim Jüngsten Gericht in Schwierigkeiten kommen. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern wurde von jungen Christen in Köln ganz anders gesehen als vom Papst. „Morgens waren die Plätze und Wiesen in und um Köln, auf denen die Hunderttausende campten und übernachteten, übersät von Kondomen“. Und Martin Luther wäre, so Heiner Geißler, entweder mit Margot Käßmann einfach erschienen und hätte den Ohnmachtsanfall des Papstes ausgestanden, lächelnd, oder er wäre einfach nicht hingegangen. Geißler hat den damals Ratsvorsitzenden der EKD, Bischof Huber nach dem Käßmann Debakel um Aufklärung gebeten. Der habe ihm geschrieben: „Der Vorgang müsse ein einmaliges Ereignis bleiben“.

Als Aufforderung an die beiden Kirchen zitiert Geißler unerbittlich den Auftritt der russischen Punkband Pussy Riot vor der Ikonenwand der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale. Diese Band hatte dort ein Punkgebet vorgetragen: „Mutter Gottes, Jungfrau, vertreibe Putin“. Und: Der Chef des KGB sei der oberste Heilige der russischen Kirche. Die drei jungen Frauen wurden zu zwei Jahren Arbeitslager wegen Rowdytums verurteilt. Die Lutherstadt Wittenberg wollte diese Band auszeichnen mit dem Preis für das „unerschrockene Wort“. Doch wurde nach vielen heftigen Einreden von evangelischen Theologen, die Geißler aber nicht nennt, der Vorschlag zurückgezogen. Die Band habe die „Gefühle von Gläubigen“ verletzt. Geißler argumentiert aber, dass das Gegenteil der Fall wäre. Die jungen Sängerinnen protestierten gegen die politische Allianz der orthodoxen Kirche mit dem Putin Regime. Der russisch orthodoxe Patriarch Kyrill I. erklärte, Putin sei von Gott gesandt und bestätigte damit die Verflechtung der russischen Orthodoxie mit der russischen Staatsführung. Ein Vorgang, der eigentlich zum Herauswurf aus dem Ökumenischen Weltrat der Kirchen führen müsste, wenn es mit rechten Dingen zugehen würde.

Das Buch ist auf eine höchst erfrischende Weise ganz unordentlich. Denn Geißler versucht alles, was er seit seiner Zeit unter Kohl und in der Katholischen Kirche erlebt hat, in dieses Buch über Luther hineinzustopfen. So, wenn ihm der Kirchenlehrer Augustinus zwischendurch im VI. Kapitel „Luther und die Frauen“ begegnet. Selbst der eheliche Geschlechtsakt galt bei Augustinus und Thomas von Aquin als „immundicia“, als Dreck. Augustinus glaubte, die Vielweiberei sei moralischer als eine einzige Frau nur um ihrer selbst willen zu lieben und zu begehren. „Nun hat ein Sklave niemals mehrere Herren, aber ein Herr mehrere Sklaven. So haben wir auch nie gehört, dass die heiligen Frauen mehreren Ehemännern dienten, aber wir lesen, dass viele heilige Frauen einem Ehemann dienten“. Das – so unser Heiner Geißler – hätten die Dschihadisten des IS nicht besser sagen können. Und dann kommt der schallende Trompetenstoß in Richtung Vatikan. „Was Augustinus über die Frauen geschrieben hat, ist so schändlich, dass man ihm den Titel Kirchenlehrer entziehen müsste“.  Das Buch könnte eben auch heißen: Was Heiner Geissler zur Kirche und der religiösen Verkündung noch gerne sagen würde.

Aber die beiden letzten Kapitel zeigen dann, dass der alte Kämpfer Geißler immer noch ein sprühender junger Spund ist. Das Buch erscheint natürlich zeitig genug vor den großen Reformationsfeiern im Jahre 2017. Geißler möchte zweierlei. Er möchte, dass die große gewaltige Leistung des Reformators gewürdigt, aber zugleich diese Leistungen auch in ihren Übertreibungen kritisiert und gebrandmarkt werden. Der kompromisslose Luther wird parallel zu den Schwierigkeiten der Katholischen Kirche von gestern beschrieben, die mit der Befreiungstheologie nicht zurande kam. Luther hatte eine theologische Revolution auf den Weg gebracht. Er hatte den Papst entthront. Jetzt braucht er Unterstützung. Es gab vier Möglichkeiten: Den Kaiser, den Adel, die Fürsten, das Volk. Ursprünglich strebten die Bauern eine friedliche Lösung ihres Problems mit dem Adel an. Aber als klar wurde, dass das nicht ausreichen würde, entschlossen sie sich zur Gewalt. Luther lehnte Gewalt zur Durchsetzung einer neuen Gesellschaftsordnung ab. So blieben ihm als Unterstützer nur die Fürsten übrig.

Die Folge: Luther stand auf der Seite der Mächtigen und nicht auf der Seite der Unterdrückten. Er sah sich, so Geißler, dem Problem gegenüber, mit dem die katholische Kirche 400 Jahre später zu kämpfen hatte, der Befreiungstheologie. So parallelisiert Geißler diese beiden Fälle, das kann ein freier Politiker und Christ tun. Wie die katholische Kirche, genauer der polnische Papst das tat, war schändlich. Angst beherrschte diese Kirche, Angst vor den Marxisten. Als der Wojtyla Papst nach Nicaragua kam, machte er – so Geißler – „den Schriftsteller, Minister und Mönch Ernesto Cardenal zur Sau vor den Kameras der Weltmedien“. Es kam zum Mord an dem Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, am Altar wurde er niedergeschossen. Erst im Mai 2015 wurde Oscar Romero dank des Papstes Franziskus Initiative endlich seliggesprochen. Der Riss ging damals durch die katholische Kirche, die 30 Prozent ihrer Gläubigen in Brasilien verlor. Kardinal Kaspar habe Geißler geschrieben, der Papst Johannes Paul II habe auf den Tisch geschlagen und gesagt: „Wir brauchen eine Theologie der Befreiung, aber keinen Marxismus“.

Es gibt für Heiner Geißler einen realistischen Pazifismus des Evangeliums. Wäre der Samariter eine halbe Stunde früher an den Ort des Überfalls gekommen, hätte er dem Überfallenen beistehen müssen, im Zweifel auch mit einem Prügel in der Hand, um den Räuber zu vertreiben. Wie der ehemalige Limburger Bischof Kamphaus mal gesagt hat, wir müssen auch die Räuberei bekämpfen und beenden. Nothilfe ist eine Pflicht der Nächstenliebe. Und – Geißler ist da erfrischend klar, nicht der ist ein guter Christ, der vor jeder Kabinettssitzung aus der Bibel vorlesen läßt, wie das der verhängnisvolle George W. Bush tat.

Geißler wäre nicht der, den wir alle kennen, wenn er nicht ein ganz großes Ziel anstreben würden mit dem Buch: 2017 müssen wir gemeinsame Gottesdienste haben, müssen die zwei Milliarden Katholiken eine politische Kraft darstellen, müssen in Deutschland die katholische Caritas und die protestantische Diakonie zusammengebunden werden, müssen gemeinsame Gottesdienste mit dem gemeinsamen Nicänischen Glaubensbekenntnis stattfinden. Der jetzige Papst Franziskus sei für Geldmagnaten, Spekulanten, Devisenhändler gefährlicher, denn er sagt: „die Wirtschaft tötet“.

Die Einheit der Kirchen muss kommen, nicht nur wegen der Theologie, auch wegen der dringenden Notwendigkeit, die die Kapitalorientierung, die Ökonomisierung, den religiösen Fundamentalismus zu bestreiten. Geißler zitiert den „Sermon von dem Wucher“ von Martin Luther: darin wandte er sich gegen den Geiz als moralische Untugend (von wegen geil?!) und gegen die Praxis, Geld für Zins zu verleihen, was eigentlich nur den Juden erlaubt war, weil man ihnen sonst jede wirtschaftliche Betätigung verboten hatte. Wo, fragt Geißler, bleibt der Aufschrei der Kirchen und der Gläubigen gegen die Parole vom „geilen Geiz“? Die zwei Milliarden Christen könnten eine bessere Welt erzwingen. Diese zwei Milliarden seien die „größten Global Player auf der Erde“. Wenn man jetzt die Einheit der Christenheit nicht als Aufgabe sieht, ist das verantwortungslos und die kirchlich Verantwortlichen werden beim Jüngsten Gericht – so der drohende luthergleiche Geißler – ins Schwitzen und ins Zittern kommen.

Das Buch ist im besten Sinne des Wortes eine schneidende Streitschrift geworden ist, vor dessen Schärfe und unerbittlicher Konsequenz die Bischöfe beider Kirchen sich schwertun werden, ihr nicht zuzustimmen. Er berichtet von dem ökumenischen Gottesdienst im Dom zu Speyer, in dem am 21. November 2014 die anwesenden neun geistlichen Oberhäupter gemeinsam das Glaubensbekenntnis sprachen, und am Ende (Geißler: „Ich war gespannt“!) auch die Schlussformel beteten: „Wir glauben an den Heiligen Geist und die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“. Katholisch, darauf verweist der Autor, ist mehr als das, was wir heute darunter verstehen. Es ist die „allgemeine Kirche“, vom Griechischen Kat’holon. Auf das Ganze bezogen, meint die Weltkirche. Durch die Bindestrich-verbindung mit römisch wurde das Katholische verniedlicht und versaubeutelt.

An einer Stelle würde ich nicht widersprechen, aber mit dem Autor gern diskutieren. Er deklariert den Islam als eine Weltreligion, die als moralische Kraft für die Ökumene ausfällt, „weil in seinem Namen die schlimmsten und grauenhaftesten Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen begangen werden“. Der Islam leiste keinen Beitrag zu einer Verbesserung der ökonomischen Situation. Abgesehen von den mittelalterlichen Vorstellungen einer Diktatur der Scharia. Das ist in der Analyse fast richtig, übergeht aber den Umstand, dass man die Kirchen in den letzten beiden Weltkriegen auch sehen konnte als die, die die Waffen segnen, die die Menschen in die Schlachtfelder und Massaker hineingejagt haben. Ich werde den Moment nicht vergessen, als ich mich mit der Frau eines bekannten bosnischen Muslims und Schriftstellers bei einem Raketenangriff der christlichen Serben von den Igman Bergen in einen Hauseingang drückte und sie mit klarer Stimme mir sagte: „Was ist an uns Muslimen, dass man uns verfolgen muss? Sind wir keine Menschen? Stinken wir?“ Ich habe das Krachen der Rakete, die irgendwo einschlug, nicht vergessen.  Immerhin zitiert Geißler den syrischen Dichter Adonis alias Ali Ahmad Said Esber, der erklärte: Der Westen sei kein Vorbild mehr. „Ich glaube, dass der Westen keine Ethik mehr hat.“ Vielleicht liege es an der Wirtschafts- und Finanzkrise, „aber der Westen redet von Werten und denkt an seine Interessen“.

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