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30 Jahre Leben mit Tschernobyl: Überblick über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe

Vor 30 Jahren, am 26. April 1986, fand die Mär von der „sicheren Atomkraft“ mit dem Super-GAU von Tschernobyl ein abruptes Ende. Millionen Menschen wurden zu Opfern radioaktiver Verstrahlung. Riesige Territorien wurden unbewohnbar. Von Dr. Angelika Claußen

Die radioaktive Wolke zog um die ganze Erde und in den Köpfen zahlloser Menschen wuchs die Erkenntnis von den Gefahren der Atomenergienutzung. Auch in Deutschland erkrankten und starben Menschen aufgrund der mit Nahrung und Atemluft in den Körper aufgenommenen radioaktiven Partikeln.

Bereits 1991 stellten MedizinerInnen als eine der ersten gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl eine erhöhte Zahl von Schilddrüsenkrebsfällen fest. Von den Organisationen der Atomlobby wie UNSCEAR oder der IAEO wurden diese jedoch trotz erdrückender Beweise zunächst nicht der Kernschmelze von Tschernobyl zugeschrieben. Dies änderte sich erst 1996.

Die Analyse der gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl wird bis heute durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Sachverhalte erschwert: Wesentliche Daten zum Ablauf der Tschernobyl-Katastrophe und zu den gesundheitlichen Folgen sind nicht frei zugänglich und unterliegen der Geheimhaltung. Bis heute besteht unter Wissenschaftlern keine Einigkeit darüber, wie viel an radioaktivem Inventar durch die Explosion im Reaktor ausgetreten ist. Die unterschiedlichen Schätzungen reichen von 3,5 % bis 95 % des ursprünglichen Reaktorinventars.

In den ersten Jahren nach der Katastrophe sprachen das Ministerium für Gesundheitswesen der UdSSR und der KGB zudem zahlreiche Verbote aus, die zur Folge hatten, dass für die Beurteilung der Lage wesentliche Informationen nicht gewonnen, geheim gehalten oder verfälscht wurden.

Der Super-GAU von Tschernobyl betrifft noch immer Millionen von Menschen, darunter schätzungsweise 830.000 Liquidatoren, mehr als 350.000 Evakuierte aus der 30 km-Zone und weiteren sehr stark kontaminierten Regionen, ca. 8,3 Millionen Menschen aus den stark strahlenbelasteten Regionen in Russland, Weißrussland und der Ukraine sowie ca. 600 Millionen Menschen in anderen Teilen Europas, die geringeren Strahlendosen ausgesetzt wurden.

Rund 36 % der Gesamtradioaktivität ging damals über Weißrussland, Russland und der Ukraine nieder, etwa 53 % über dem Rest Europas. 11 % verteilten sich über den restlichen Globus. Die Angaben zur Kollektivdosis bewegen sich von 2,4 Millionen Personensievert (Quelle: Sowjetunion 1986, weltweit, Zeitraum 70 Jahre) bis zu 55.000 Personensievert (Quelle; IAEO/WHO 2005, nur Weißrussland, Russland und Ukraine, Zeitraum 20 Jahre).

Und die gesundheitlichen Folgen zeigten sich anders als von den Wissenschaftlern der Atomindustrie und ihrer Lobby prognostiziert.

Krebserkrankungen

Unerwartet schnell zeigte sich schon 3-4 Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe ein rasanter Anstieg von Schilddrüsenkrebsen bei Kindern, besonders in der hoch belasteten Zone von Gomel, Weißrussland. IAEO und WHO erkannten den Zusammenhang zum Super-GAU erst 10 Jahre später an. UNSCEAR gab 2008 6.848 behandelte Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Menschen an, die 1986 unter 18 Jahre alt waren. Auch in Russland und der Ukraine stiegen die Schilddrüsenkrebszahlen bei Kindern. Und nicht nur Kinder, auch Erwachsene und ganz besonders Frauen zeigen in den betroffenen Gebieten zunehmende Schilddrüsenkrebsraten.

In Weißrussland kam es laut Daten des nationalen Krebsregisters zu einem generellen Anstieg diverser Krebsarten neben Schilddrüsenkrebs. Besonders betroffen waren dabei die Prostata, die Haut, die Nieren, der Darm, das Knochenmark, das lymphatisches System und die weibliche Brust. Auch stellten die MedizinerInnen einen signifikanten Anstieg von Brustkrebs und Kinderleukämien sowohl in Weißrussland als auch in der Ukraine fest. Ivanov et al. berichteten 2002 zudem von einem erhöhten Auftreten von Krebserkrankungen in den besonders strahlenbelasteten russischen Gebieten von Kaluga und Bryansk. Vor allem in der Gruppe der Liquidatoren wurden vermehrt Leukämien und Schilddrüsenkrebs diagnostiziert.

Nichtkrebserkrankungen

Bei allen hochbestrahlten Populationen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken findet sich zudem ein deutlicher Anstieg von Nichtkrebserkrankungen wie z.B. benignen Tumoren, kardiovaskulären, zerebrovaskulären, respiratorischen, gastrointestinalen, endokrinologischen und psychischen Erkrankungen, Katarakten und Störungen der Intelligenzentwicklung. Die Anzahl dieser Erkrankungen übersteigt die Anzahl der Krebserkrankungen bei weitem. Es dauerte 23 Jahre, bis UNSCEAR kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie Katarakte bei Liquidatoren als strahlungsbedingt anerkannt hat. Frühe Studien aus Weißrussland, Russland und der Ukraine an belasteten Evakuierten und Kindern zeigen zudem einen Anstieg von Veränderungen der Blutzellen und daraus resultierender Abwehrschwäche sowie von obstruktiven und nichtobstruktiven Lungenerkrankungen.

Störungen des Erbguts

Fehlbildungen, chromosomale Aberrationen und die Erhöhung der perinatalen Sterblichkeit (Totgeburten, Fehlgeburten) wurden bereits in den ersten Jahren der Atomkatastrophe in Weißrussland, der Ukraine und in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern registriert. In Weißrussland und in West-Berlin stieg die Anzahl von Neugeborenen mit Down-Syndrom. Alfred Körblein und Hagen Scherb wiesen in verschiedenen Untersuchungen eine erhöhte Perinatalsterblichkeit in Deutschland, Polen, Ungarn und in den skandinavischen Ländern nach und stellen eine Relation zur Cäsium-Belastung her. Scherb und Sperling haben die Anzahl der zusätzlichen Tot- und Fehlgeburten in Deutschland auf 1.000 – 3.000 geschätzt. Für drei skandinavische Länder schätzte Körblein die Zahl der zusätzlichen Tot- und Fehlgeburten auf ca. 1.200. In neuen Studien konnten Scherb und Weigelt zeigen, dass sich auch das Geschlechterverhältnis zwischen weiblichen und männlichen Neugeborenen zugunsten des männlichen Geschlechts veränderte. 220.000 Mädchen fehlen demnach in West-Europa. Diese Studien sowie die ausführlichen weißrussischen Arbeiten zu Fehlbildungen, Tot- und Fehlgeburten werden allerdings bisher von den internationalen Institutionen (UNSCEAR, IAEO, ICRP) nicht in Betracht gezogen. Deren Wissenschaftler halten an einer Schwellendosis für teratogene und chromosomale Schäden fest. Diese Annahme wurde inzwischen von zahlreichen Studien widerlegt .

Gesundheit der Liquidatoren

Die Liquidatoren stellen die am schwersten betroffene Gruppe im Rahmen der Atomkatastrophe von Tschernobyl dar. Bezüglich des Ausmaßes der Morbidität und Mortalität bei den Liquidatoren existieren zwar unterschiedliche Zahlenangaben, aber über die Tatsache, dass die meisten von ihnen an mehreren verschiedenen schweren Krankheiten leiden (Multimorbidität) und deshalb arbeitsunfähig sind, herrscht in den medizinischen Studien Einigkeit. Yablokov schätzt aufgrund verschiedener Studien, dass bis 2005 schon 112.000-125.000 Liquidatoren verstorben sind. Die Hauptursache sind Schlaganfälle und Herzinfarkte, die zweithäufigste Todesursache sind Krebserkrankungen. Die Tschernobylforscher Burlakova und Bebeshko identifizierten viele somatische Veränderungen als strahlenbedingte, vorzeitige Alterungsprozesse.

Die medizinisch-biologische Bewertung von Strahlenfolgen ist bis heute eine kontroverse Angelegenheit. Es geht um den Streit, wie viel radioaktive Kontamination eine Gesellschaft aus industriepolitischen Gründen heraus ertragen muss – ähnlich wie bei der Bewertung von chemisch und toxisch bedingten Umweltschäden. Doch jenseits des alten Streits zwischen den Befürwortern der sogenannten friedlichen Nutzung von Atomenergie und deren Gegnern um das Ausmaß der gesundheitlichen Schäden nach Atomunfällen und die Folgen langfristiger Strahlenexposition, mehren sich die von beiden Seiten anerkannten Forschungsergebnisse, die nachweisen, dass ionisierende Strahlung gefährlicher ist als bislang angenommen.

Fotolia.com | bptuippnw.de | Gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima
Quelle

IPPNW | Dr. Angelika Claußen 2016

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