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Sarah Wiener Stiftung | photothek.net | Ronny Hartmann

© Sarah Wiener Stiftung | photothek.net | Ronny Hartmann

Ernährungsbildung: Schlüssel für die Wertschätzung von Lebensmitteln

Was ist uns unser Essen wert? – Gesund und nachhaltig genießen. Sarah Wiener macht sich mit ihrer Stiftung für regionale und saisonale Küche stark, frei nach dem Motto: Landschaft schmeckt. Bewusst essen wird zur Basis für ein selbstbestimmtes und gesundes Leben, nicht nur von Kindern und Jugendlichen, sondern auch von Erwachsenen.Ein Gastbeitrag von Sarah Wiener 

Als Kind hatte ich Glück. Kulinarisches Glück. Weil Fertigprodukte in den 60er Jahren noch etwas Besonderes und damit viel teurer als heutzutage waren, gab es bei uns zu Hause nur Selbstgekochtes. Und da der Typ „Helikopter-Eltern“ noch nicht erfunden war, hatten wir Kinder viel Zeit umher zu streunen und den köstlichen Geschmack von Äpfeln und Beeren, die auf den umliegenden Wiesen und Feldern wuchsen, zu kosten.

Ein halbes Jahrhundert später haben sich die Voraussetzungen unserer Ernährung radikal gewandelt. Im Discounter gibt es immer mehr Fertiggerichte zum Billigpreis zu kaufen. Und an jeder Straßenecke lauern Pizza, Döner und Currywurst. Wenn es heute um Ernährungskompetenz geht, sind also auch die Fähigkeiten gefragt, den ständigen Verlockungen zu widerstehen und den natürlichen Geschmack unserer Nahrungsmittel überhaupt wieder kennen zu lernen. Nur wer weiß, was Qualität und guter Geschmack ist, kann auch eine Sehnsucht danach entwickeln. Wer schon als Kind nur überzuckerten Erdbeer-Joghurt mit künstlichem Aroma zu essen bekommt, dem schmecken die „echten“ Erdbeeren womöglich nicht süß genug.

Eine weitere Entwicklung ist ebenso entscheidend für unsere neuen Ernährungsgewohnheiten: Während früher die Hausfrauen-Ehe das meistgelebte Modell in Westdeutschland war, sind heute (zum Glück!) immer mehr Frauen erwerbstätig. Wenn beide Elternteile arbeiten, bleibt aber oft nur noch wenig Zeit, um mit den Kindern eine gemeinsame Mahlzeiten einzunehmen. Mittags isst nur noch etwa die Hälfte der 6- bis 9-Jährigen zu Hause. Bei Kindern im Kindergartenalter ist der Anteil noch geringer. Und da viele Schulkinder Ganztagsschulen besuchen, bleibt in vielen Fällen nur der Abend für ein gemeinsames Essen. Eltern haben so immer weniger Einfluss, welche Lebensmittel ihre Kinder zu sich nehmen. Umso wichtiger ist es, dass die Kinder möglichst früh eine eigene Ernährungskompetenz entwickeln.

Es berührt mich, dass immer mehr Kinder an ernährungsmitbedingten Krankheiten leiden und viele Kinder kaum eine selbstgekochte Mahlzeit bekommen. Ein Kind, das ohne Frühstück in die Schule kommt, kann sich noch so sehr anstrengen. Die wichtigste Grundlage, um etwas zu lernen, fehlt: Es ist nicht genügend genährt und kann sich so nicht auf den Unterricht konzentrieren. Ebenso sehr empfinde ich es als untragbar, dass immer mehr Kinder an Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht und Diabetes Typ 2 leiden, weil sich ihre Eltern und damit auch die Kinder falsch, also mit zu viel Zucker und Fett ernähren. An dieser Stelle setzt die Sarah Wiener Stiftung an, die versucht, möglichst vielen Kindern praktische Ernährungskompetenz für den Alltag beizubringen und sie für die Vielfalt unserer Nahrungsmittel zu begeistern. Wir verfolgen dabei einen Multiplikatorenansatz, das heißt, wir richten uns mit unseren Programmen an die Personen, die mit Kindern leben und arbeiten.

Nach Gründung der Stiftung im Jahr 2007 haben wir ein Fortbildungsangebot für pädagogische Fach- und Lehrkräfte kreiert und in den letzten Jahren knapp 3.000 Pädagoginnen und Pädagogen zu sogenannten Genussbotschaftern fortgebildet. Sie geben ihr Können und Wissen an Kinder in Kitas und Grundschulen weiter und zeigen ihnen auf ganz niedrigschwellige Weise, wie einfach sich etwas Köstliches aus frischen Lebensmitteln zaubern lässt. Dass über 60 Prozent der Einrichtungen dauerhaft dabei bleiben, zeigt uns, dass das Programm wirkt.

Wir wollen, dass Kinder mit Freude und Genuss frische Lebensmittel entdecken – und dies mit allen Sinnen. In den Genussbotschafter-Schulungen stellen wir den Teilnehmern daher beispielsweise vor, wie sie mit den Kindern Geschmacksschulungen machen können. Ich liebe es, den Kindern die vielen tollen Kräuter schmackhaft zu machen und sie sehen, hören, tasten, riechen und schmecken zu lassen. Es ist wunderbar, wie achtsam sie nach einer solchen Schulung mit den Kräutern umgehen und wie stolz sie sind, wenn sie im Anschluss ihren eigenen selbstgemachten Kräuterquark mit nach Hause nehmen dürfen. Wenn Kinder sich mit den Lebensmitteln verbinden können, wenn sie sich ohne Verbote einfach einmal ausprobieren dürfen und hinterher ein eigenes kleines Werk geschaffen haben, dann werden aus den größten Kräuter- und Gemüsemuffeln kleine Feinschmecker, die zu Hause voller Stolz berichten: „Ich kann kochen!“

Mich freut, dass auch die Politik erkennt, wie dringend wir etwas für unsere Kinder und ihre Alltagskompetenz Ernährung tun müssen. Durch das neue Präventionsgesetz kann die Sarah Wiener Stiftung nun gemeinsam mit der BARMER GEK noch mehr Kinder erreichen und mit der Initiative für praktische Ernährungsbildung „Ich kann kochen!“ bundesweit Fortbildungen für ErzieherInnen, LehrerInnen und Pädagogen/ Pädagoginnen anbieten. Wir haben das ehrgeizige Ziel, in den nächsten fünf Jahren über eine Million Kinder zu erreichen. Unser Ansatz ist, die Kinder dort abzuholen, wo sie sind: In der Kita, in der Schule und ihnen das beizubringen, was vielleicht zu Hause nicht (mehr) weitergegeben wird.

Zu unserem Programm für praktische Ernährungsbildung gehört auch, mit den Kindern zum Ursprung der Lebensmittel zu gelangen. Auf den Bauernhoffahrten, die meine Stiftung organisiert, lernen Mädchen und Jungen, woher die Milch kommt, wie Käse gemacht wird oder wie überhaupt eine Kartoffelpflanze aussieht. Wichtig ist, dass sie nicht nur schauen, sondern selbst mitmachen dürfen und so durch ihr Tun eine direkte Verbindung zu den Lebensmitteln, zum Boden und den Tieren bekommen.

Auch wenn die Politik sowie Kitas und Schulen sich verstärkt um die Gesundheit der Kinder kümmern, entlässt das die Eltern nicht aus ihrer Verantwortung. Denn ob wir ein Vorbild sein wollen, oder nicht, wir sind es. Die Kinder orientieren sich an uns. Dieser Verantwortung sollten wir gerecht werden und unseren Kindern ein möglichst ausgewogenes Essverhalten vorleben und sie neugierig machen auf die wunderbare Welt der Kulinarik. Die gute Nachricht ist: Das ist gar nicht schwer.

Schon in der Schwangerschaft bekommt das Kind eine erste Prägung seines Geschmacksinns. Ist das Baby auf der Welt, nimmt es über die Muttermilch die kulinarischen Vorlieben der Mutter auf. So lernt es früh: Was ich zu mir nehme, schmeckt immer ein bisschen anders. Flaschennahrung hingegen schmeckt immer gleich.

Wächst das Kind heran, ist die Vorliebe für Süßes für viele Eltern eine Herausforderung. Während Brokkoli, Spinat oder Paprika verschmäht werden, können Kinder Unmengen an Süßigkeiten verspeisen. Das sollte Eltern nicht gleich zur Verzweiflung bringen, denn es gibt einen genetisch bedingten Grund für diese Vorliebe: Süßes ist in der Regel nicht giftig und hat einen hohen Nährstoffgehalt, während Gemüse mit einem bitteren Geschmack potentiell giftig sein könnte.

Kinder sind durchaus offen, auch neue Geschmäcker zu probieren, wenn sie sehen, dass es ihrem „Vorbild“ – also den Eltern oder anderen engen Bezugspersonen – sichtbar schmeckt. Wichtig ist, nicht gleich aufzugeben, sondern es immer einmal wieder anzubieten. Denn auch hier spielen unbewusste „Vorsichtsmaßnahmen“ des Kindes eine Rolle: Sehe ich als Kind wiederholt, dass etwa mein Vater ein Stück grünes Gemüse mit Genuss isst, kann ich daraus schließen, dass es nicht giftig ist.

Was Kinder wirklich nicht brauchen, sind als „Kinderlebensmittel“ vermarktete Produkte. Damit bekommen sie das Bild vermittelt, Kinder bräuchten spezielle auf sie zugeschnittene Lebensmittel. Zudem sind ausgerechnet die Kinderlebensmittel in der großen Mehrheit keine ausgewogenen Kinderlebensmittel, sondern enthalten viel zu viel Zucker.

Und auch wenn in den Familien der Alltag hektisch ist, für eine gemeinsame Mahlzeit am Tag sollte Zeit sein. Gemeinsam essen bedeutet so viel mehr, als nur satt zu werden. Als Köchin möchte ich eine Lanze brechen für dieses schöne Ritual. Wenn wir unseren Kindern bei einem guten Essen Aufmerksamkeit schenken, können wir ihnen neben unserer Liebe auch die Wertschätzung für gute Lebensmittel und Achtsamkeit beim Essen vermitteln. Wenn unsere Kinder wissen, was sie essen und wie ihr Essen zubereitet wird, macht sie das stark und unabhängig. Sie können lernen, dass es eine Jahreszeit für jedes Obst und Gemüse gibt und dass die Wurst auf dem Brot von einem Tier stammt und diese Tiere für uns sterben. So werden sie zu verantwortungsvollen, genussvollen Essern und aufmerksamen Verbrauchern, die mit viel Selbstvertrauen als junge Erwachsene die Welt der Kulinarik weiter für sich entdecken können.

Und wenn Sie mich zum Abschluss fragen, wie ich es mit der Ernährung halte, dann kann ich Ihnen meinen recht einfachen Grundsatz mit auf den Weg geben: Möglichst oft frisch kochen und dabei saisonale und regionale Zutaten verwenden. Am besten aus biologischem Anbau. Ab und zu eine Leckerei ist vollkommen in Ordnung. Und wenn es mal ein Stück Kuchen mehr geworden ist, geht die Welt auch nicht unter. Wichtig ist die Wertschätzung und Achtsamkeit den Lebensmitteln gegenüber.

Infokasten zur Sarah Wiener Stiftung
„Für gesunde Kinder und was Vernünftiges zu essen“ ist seit 2007 die Mission der Sarah Wiener Stiftung. Antrieb für Stiftungsgründerin und Köchin Sarah Wiener ist das schwindende Wissen der Kinder über Zubereitung, Herkunft und Vielfalt unserer Lebensmittel. Kern der Stiftungsarbeit sind Fortbildungen für pädagogische Fach- und Lehrkräfte, damit diese in ihren Einrichtungen praktische Koch- und Ernährungskurse für Kinder anbieten können. In einer Partnerschaft mit der Barmer GEK will die Stiftung mit ihrer Initiative Ich kann kochen! in den kommenden fünf Jahren bundesweit 56.000 Genussbotschafter fortbilden und damit 1,4 Millionen Kindergartenkinder und Schüler erreichen. Darüber hinaus bietet die Stiftung Exkursionen zu Bauernhöfen an und zeigt Kindern damit, wo die Zutaten für unser Essen ihren Ursprung haben.

Infos:

Beltz VerlagGoldmann Verlag
Quelle

Ein Gastbeitrag von Sarah Wiener für die GV Praxis

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