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AWI - Clara Hoppe | Die Mikroalge Emiliania huxleyi

© AWI – Clara Hoppe | Die Mikroalge Emiliania huxleyi

In größter Hungersnot verdauen sich Mikroalgen selbst

Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) haben in einer aktuellen Studie herausgefunden, welche molekularen Mechanismen Mikroalgen einsetzen, um in Zeiten akuten Nährstoffmangels von schnellem Wachstum auf Stillstand umzuschalten.

In Laborversuchen konnten sie beobachten, dass kalkbildende Mikroalgen bei Nährstoffmangel zunächst ihren Stoffwechsel auf Sparsamkeit und Effizienz trimmen, bevor sie sich notgedrungen sogar teilweise selbst verdauen. Die molekularen Schalter für diese Grundfunktionen von Zellen sind in allen Lebewesen auffallend ähnlich. Es sind offenbar eben diese Schalter, deren Fehlfunktion im Menschen dazu führt, dass Zellen die Kontrolle über ihre Teilungsaktivität verlieren und zu Krebszellen werden können. Die neuen Forschungsergebnisse sind in dieser Woche in der Fachzeitschrift Frontiers in Marine Science erschienen.

„Algen sind wie alle Lebewesen auf die Nährstoffe Phosphor und Stickstoff angewiesen, die in Küstenregionen durch Flüsse eingetragen werden und im offenen Ozean durch Wasserwirbel aus der Tiefe hinaufbefördert werden. Wenn das Oberflächenwasser durch einen solchen Nährstoffeintrag gedüngt wird, beginnt ein Wettlauf um die kostbaren Elemente, in dem die verschiedenen Algen um die Nährstoffe konkurrieren. Dieser Wettlauf endet erst, wenn die zur Zellteilung erforderlichen Nährstoffe verbraucht sind und die Algen plötzlich wieder mit einer Hungersituation konfrontiert sind“ erläutert Dr. Sebastian Rokitta, AWI-Biologe und Erstautor der aktuellen Studie.

Weil die Algen augenscheinlich unterschiedlich auf das Fehlen der verschiedenen Nährstoffe reagieren, sind Wissenschaftler lange davon ausgegangen, dass die Einzeller verschiedene Maßnahmen ergreifen, um die jeweils fehlenden Nährstoffe besonders effizient aufzunehmen. Einen wichtigen Aspekt haben Studien zu diesem Thema in der Vergangenheit jedoch stark vernachlässigt: die molekulare Maschinerie der Zellen.

Bislang wurden in der Regel gezielt Aufnahmemechanismen für die fehlenden Nährstoffe sowie Biomasse- und Kalkproduktion der Algen unter Hungerbedingungen untersucht. Ganzheitliche „Screenings“ aller  Zellfunktionen waren bisher nur sehr begrenzt möglich. „Erst seit kurzem liegen Sequenzdaten über das Genom der weltweit verbreiteten Mikroalge Emiliania huxleyi vor, sodass wir nun unseren molekularen Werkzeugkasten endlich effektiv zum Einsatz bringen können“ erklärt AWI-Mikrobiologe und Co-Autor Dr. Uwe John.

Mit Hilfe sogenannter Microarrays konnten die Wissenschaftler nun die Aktivität von mehr als 10.000 Genen unter verschiedenen Hungerszenarien gleichzeitig untersuchen. Die neuen Ergebnisse zeigen: Die genetischen Programme, die in verschiedenen Hungersituationen ablaufen, sind in Bezug auf das Stoppen der Zellteilung größtenteils gleich und werden je nach fehlendem Nährstoff nur leicht abgewandelt, um spezifische Transporter und Speichermechanismen einzuschalten. Dies ist für die Algen sinnvoll, da es die Steuerung des komplizierten zellulären Apparates stark vereinfacht.

Auffallend ist die enge Verzahnung der Nährstoffverfügbarkeit im Algenstoffwechsel mit der zellulären Energiebereitstellung. „Offenbar beinhalten die ausgeführten genetischen Programme auch molekulare Sensoren, die sozusagen bei niedrigem Nährstofffüllstand die Zellteilung anhalten“ sagt der AWI-Biologe  Dr. Björn Rost, der ebenfalls an der Studie beteiligt war. Dies ist ein Mechanismus, der beispielsweise in menschlichen Krebszellen gestört ist und ihnen entsprechend signalisiert, sich immer weiter zu teilen. Die Studie zeigt außerdem, dass die molekularen Mechanismen, welche die Zellteilung an- und abschalten und sich in der Frühzeit des Lebens vor etwa 2 Milliarden Jahren entwickelt haben, immer noch aktiv sind.

Die Forschungsresultate verdeutlichen zudem, dass die Mikroalgen bei anhaltender Unterversorgung beginnen, ihre eigenen Zellbestandteile zu ‚verdauen‘, um so ihr Überleben möglichst lange zu sichern. Diesen Prozess halten sie aber nicht lange durch. All jene Zellen, die sich durch diese Notfallmaßnahme selbst zerstören, stellen ihre nährstoffhaltigen Bestandteile dann ungewollt anderen Algen und auch ihren Artgenossen zur Verfügung. Dieser bislang unterschätzte Prozess scheint auf Dauer die Evolution besonders genügsamer und durchhaltefähiger Individuen zu begünstigen und ist sicherlich mit verantwortlich für die Robustheit und Widerstandsfähigkeit der Mikroalgen gegenüber Nährstoffmangel.

In den kommenden Jahren werden Sebastian Rokitta und seine Kollegen weiter untersuchen, wie verschiedene Algenarten reagieren, wenn sich ihr Lebensraum verändert; welche Arten profitieren und welche leiden. Ihren Fokus legen die AWI-Wissenschaftler dann allerdings auf die Phytoplanktongemeinschaften des Nordatlantiks und des Arktischen Ozeans. 

Quelle

Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) 2016

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