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Rüstungskritiker nennt Waffenhandel als Hauptursache für Flucht und Vertreibung

Jürgen Grässlin: Bundesregierung trägt schwerste Schuld durch Exportgenehmigungen in Kriegsgebiete

Deutsche Waffenexporte tragen nach Ansicht des Freiburger Rüstungskritikers Jürgen Grässlin maßgeblich dazu bei, dass Millionen von Menschen in die Flucht getrieben werden. Vor allem der Export von Kleinwaffen erweise sich immer wieder als Fluchtursache, erläutert Grässlin in einem Interview, das die Zeitschrift Publik-Forum in ihrer aktuellen Ausgabe (vom 10. November) verbreitet hat. Es befindet sich in einem 16 Seiten umfassenden Dossier, das sich mit den Ursachen der weltweiten Flüchtlingsströme auseinandersetzt.

Deutschland sei im weltweiten Vergleich der drittgrößte Exporteur von Kleinwaffen, betont Grässlin, der als einer der profiliertesten Rüstungskritiker gilt. Er ist Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft / Vereinigte Kriegsgegner (DFG/VK), der „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ sowie des RüstungsInformationsBüros (RIB) e.V. Von den Folgen der Rüstungsexporte besonders betroffen sei derzeit Syrien.

Der dortige Krieg sei der mit den meisten Opfern und den meisten Flüchtlingen, betont Grässlin. Sowohl das Assad-Regime als auch die Rebellengruppen seien „bis an die Zähne mit Waffen hochgerüstet“ worden: Assad von Russland und anderen befreundeten Staaten, die Rebellen von den USA und weiteren Nato-Staaten. Das habe dazu geführt, „dass das Land in Schutt und Asche liegt und Millionen Menschen in die Flucht getrieben wurden“.

Ein anderes Beispiel sei das militärische Vorgehen der Türkei gegen die Kurden. Auch aus der Türkei seien „mehr als eine Million Kurden vor dem Einsatz gerade deutscher Kleinwaffen geflohen, die allermeisten nach Deutschland“, hebt Grässlin hervor.

Mit ihrer Einwilligung in die Waffenexporte hätten alle Bundesregierungen „schwerste Schuld“ auf sich geladen, weil sie den Export an menschenrechtsverletzende und kriegsführende Staaten in Milliardenhöhe genehmigt hätten. Die tödlichste Rüstungsexportentscheidung in dem noch jungen 21. Jahrhundert sei allerdings die 2008 erfolgte Genehmigung zur Errichtung einer Fabrikanlage für das Sturmgewehr von Heckler & Koch in Saudi-Arabien, betont der Rüstungskritiker in dem Gespräch.

Das Dossier wird von elf renommierten Friedens- und Menschenrechtsorganisationen getragen. Darin enthalten ist auch ein Aufruf der Initiative „Fluchtursachen bekämpfen“, die von 140 Persönlichkeiten getragen wird, die mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurden. Sie fordern mit ihrer Initiative den neuen Bundestag auf, eine Enquete-Kommission zum Thema einzusetzen. Initiatoren sind Angelika Zahrnt. Ralf-Uwe-Beck und Klaus Töpfer.

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Publik-Forum Dossier „Damit sie bleiben können – Flucht und Vertreibung“

Mehr als 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Die Wenigsten von ihnen wollen nach Europa. Dennoch wird intensiv darüber gestritten, wie die Fluchtursachen zu bekämpfen sind. Das neue Publik-Forum-Dossier »Damit sie bleiben können«, erstellt mit elf Kooperationspartnern, geht der Frage nach, was die Menschen fliehen lässt. Es will zur Debatte über die wirklichen Fluchtursachen anregen. Online bestellen!

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„Fliehen, um zu überleben“ Sind auch deutsche Waffen ein Fluchtgrund? Fragen an den Rüstungskritiker Jürgen Grässlin

Publik-Forum: Herr Grässlin, welche Anteile haben Waffenexporte an den Fluchtursachen weltweit?
Jürgen Grässlin: Waffenexporte der reichen Industriestaaten an Diktatoren und Repressoren in den Krisen- und Kriegsgebieten im Nahen und Mittleren Osten, dem Maghreb und den Entwicklungsländern des Südens sind ein absolut zentraler Fluchtgrund.

Welches Beispiel haben Sie vor Augen?
Grässlin: Topaktuell den Syrienkrieg, der zurzeit der Krieg mit den meisten Opfern und Flüchtlingen ist. Dabei hat Russland mit befreundeten Staaten das Assad-Regime bis an die Zähne mit Waffen hochgerüstet und damit an der Macht gehalten, während die USA mit befreundeten Nationen in der Nato über Jahre Rebellengruppen mit Kriegswaffen ausgestattet haben. Was dazu geführt hat, dass das Land in Schutt und Asche liegt und Millionen Menschen in die Flucht getrieben wurden.

Welchen Anteil hat die Bundesregierung an dem Drama von Waffen und Flucht?
Grässlin: Alle Bundesregierungen vor 2015 haben schwerste Schuld auf sich geladen, weil sie Waffenexporte an menschenrechtsverletzende und kriegführende Staaten in Milliardenhöhe genehmigten. Frank-Walter Steinmeier war 2008 Außenminister und Angela Merkel Bundeskanzlerin, als die Bundesregierung die Lizenz zur Produktion von G36-Gewehren nach Saudi-Arabien genehmigt hat. Diese tödlichste Rüstungsexportentscheidung des noch jungen 21. Jahrhunderts hat zur Errichtung einer ganzen Waffenfabrikationsanlage für das Sturmgewehr von Heckler & Koch geführt. Aber immerhin hatten sich bis dato alle Bundesregierungen an die Waffenembargos der UN gehalten. Die zuletzt regierende Große Koalition hat mit Waffenlieferungen an die Peschmerga über die irakische Zentralregierung das Völkerrecht gebrochen und damit auch das Grundgesetz.

Hat das nicht auch Flucht verhindert?
Grässlin: Genauso lautete die Begründung der Bundesregierung. Sie sagt bis heute, sie musste diesen finalen Rechtsbruch aus moralischen und ethischen Gründen eingehen: Die Peschmerga hätten die Christen und Jesiden vor der Verfolgung gerettet. Was faktisch falsch ist. Maßgeblich die PKK hat die Jesiden und Christen gerettet. Die Folgen dieser Waffenlieferungen sind bis heute bedrohlich, weil akut die Gefahr besteht, dass es zu einem neuen Bürgerkrieg kommt – nunmehr zwischen den Peschmerga, die einen eigenen Staat gründen wollen, und der irakischen Regierung. Neue dramatische Fluchtbewegungen wären die Folge.

Menschen fliehen auch und vor allem vor dem IS. Müssen nicht die, die ihn bekämpfen, mit Waffen unterstützt werden?
Grässlin: Auf den Waffenmärkten im nordirakischen Kirkuk und Erbil konnte nachgewiesen werden, dass G3-Waffen aus Bundeswehrbeständen – die Herkunft ist in den Schnellfeuergewehren eingestanzt – vom IS gekauft und eben gegen die Peschmerga eingesetzt wurden. Meine Erfahrung lautet: Waffen wandern; sie bleiben nie dort, wo man sie hinliefert, sondern dort, wo man am meisten zahlt.

Menschen fliehen vor Krieg. Wo ist da das Problem der Kleinwaffen?
Grässlin: Der Export von Kriegswaffen – allen voran von Kleinwaffen – ist vielfach Fluchtgrund Nummer eins. Von zehn Kriegstoten dort sterben neun durch den Einsatz von Kleinwaffen. Wer überleben will, muss fliehen. Deutschland ist im weltweiten Ranking der drittgrößte Exporteur von Kleinwaffen. Aber auch aus der Türkei sind mehr als eine Million Kurden vor dem Einsatz gerade deutscher Kleinwaffen geflohen, die allermeisten nach Deutschland.

Was erwarten Sie von der neuen Regierung?
Grässlin: Die FDP und die Bündnisgrünen haben ihren Wählern im Wahlprogramm versprochen, dass sie ein Rüstungsexportgesetz verabschieden wollen. Dieses Gesetz soll den Waffenhandel wesentlich strikter kontrollieren. Wollen diese Parteien wiedergewählt werden, müssen sie im Falle ihrer Regierungsbeteiligung diese zentrale Vorgabe umsetzen.

Die Aktion Aufschrei hat Forderungen an den Bundestag gerichtet. Welche?
Grässlin: Wir fordern: Kein Export von Rüstungsgütern an menschenrechtsverletzende und kriegführende Staaten, Exportverbot für Kleinwaffen und Munition. Keine Hermesbürgschaften zur staatlichen Absicherung von Rüstungsexportgeschäften, keine staatliche Absicherung und keinerlei Lizenzvergabe in andere Länder.

Interview: Bettina Röder | Jürgen Grässlin, einer der profiliertesten Rüstungskritiker, ist Sprecher der DFG-VK und der „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ und Vorsitzender des RIB e. V.

Depositphotos | EditorischesStock-Fotopublik-forum.deHeyne Verlag
Quelle

Interview mit Jürgen Grässlin für das Dossier FLUCHTURSACHEN – Beilage im Publik
Forum
vom 10. November 2017


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