‹ Zurück zur Übersicht
Pattloch Verlag

© Pattloch Verlag

Im Namen Gottes: Religion und Gewalt

Geht Religion auch ohne Krieg? Maschinengewehre und DROHNEN sind schlimmere Gewalttäter. Zu einer Phänomenologie von Religion und Krieg in menschlicher Geschichte. Von Rupert Neudeck

Ein großes Buch, denn es bringt so vieles zusammen auf den Tisch der unglaublich aktuellen Frage, dass der Leser trotz der unverschämten Dicke des Buches einen großen Nutzen hat. Die alle Gesellschaften und Systeme umtreibenden Frage: Trägt Religion zur Friedlosigkeit, zu den kriegerischen Konflikten, der unermesslichen und nicht zu stoppenden Waffenproduktion in der Welt nicht andauernd bei? 

Die Autorin hat das Format, die Fragen durch den Gang der Geschichte mit einer stupenden Kompetenz durchzuackern. Vor und nach unserer Zeitrechnung. Da es eben nicht nur um die Herkünfte und Beziehungen der aktuellen Frage zu den drei großen abrahamitischen und monotheistischen Religionen geht, sondern durchaus auch um die Religionsphänomene des Buddhismus in Indien und weit darüber hinaus in Süd-Asien und Süd-Ostasien, aber auch um den Hinduismus in Indien, die religiösen Herkunftsphänomene in China, das alles macht das Buch dem Leser zu einem Erkenntnis-Gewinn. 

Auch durch die Beachtung moderner biologischer und medizinischer Forschung. „Die frühesten Formen von Religion wurzelten in der Anerkennung der tragischen Tatsache, dass alles Leben von der Zerstörung anderer Geschöpfe abhängig ist.“. Die religiösen Rituale werden entwickelt, um den Menschen in ihrem Kampf mit diesem unauflösbaren Dilemma zu erleichtern. Jahrtausende des Kampfes gegen unendlich große und aggressive Tiere führten letztlich zur Keimzelle unserer modernen Armeen. „Sie waren bereit, alles für das Gemeinwohl zu riskieren und ihre Kameraden vor Gefahr zu bewahren“. 

Die Aussicht auf das Töten erregt bis heute unser Mitgefühl. Aber während wir dann jagen, verfolgen, kämpfen, werden diese Mitgefühl-Emotionen vom Serotonin weggespült. Und wörtlich: Dieser Neurotransmitter sei für das ekstatische Gefühl verantwortlich, das wir auch mit bestimmten Formen religiöser Erfahrung in Verbindung bringen.“ So habe es immer wieder geschehen können, dass Gewalthandlungen als religiöse Aktivitäten galten, so bizarr uns das heute erscheinen mag. 

Die Autorin kennt sich in den modernen Zeitfragen des Pazifismus und Bellizismus gut aus.  Die Gewalt in vielerlei Form, so berichtet sie mehr als dass sie das gutheiße, sei immer noch Teil unserer menschlichen Natur. 

Das beschreibt der Kriegsreporter der einflussreichen New York Times, den sie mehrmals zitiert: „Krieg macht die Welt verständlich. Er lebt uns ein Schwarz-Weiß Bild vor. Sie und wir. Er setzt das Denken außer Kraft, vor allem das selbstkritische Denken.“ Die meisten von uns würden den Krieg bereitwillig akzeptieren, solange wir ihn in ein Glaubenssystem integrieren können, das das zwangsläufige Leiden als notwendig im Interesse eines höheren Guts darstellt. Denn Menschen seien nicht nur auf der Suche nach Glück, sondern nach Sinn. Und tragischer Weise sei der Krieg „manchmal die mächtigste Form der Sinnstiftung in der menschlichen Gesellschaft“. 

Es sind drei Bücher in einem. Im ersten behandelt sie die Anfänge von Religion in Indien, in China und das „hebräische Dilemma“. Im zweiten Teil geht es unter dem Oberbegriff „Den Frieden erhalten“ um Jesus, ob der auch von dieser Welt sei?, dann um die Tragödie des Byzanz Reiches. Dann auch um das, was die Autorin das muslimische Dilemma nennt. Zum Schluss dieses kompakten zweiten Teiles behandelt sie die Kriegsapotheosen religiöser Provenienz: den Kreuzzug und den Dschihad. 

Der dritte Buchteil ist einfach der Neuzeit gewidmet und behandelt den Aufstieg der Religion, auch im Mittelalter, auch in der Luther Reformation bis zum 30jährigen Krieg. Dann gibt es ein langes Kapitel über den „Triumph des Säkularen“, der vermeintlich Religion außer Kraft setzt, das aber eigentlich nicht tut. Deshalb ist das nächste Kapitel der Wiederkehr der Religion gewidmet. Die beiden Schlusskapitel ertrinken dann in den Phänomenen des Heiligen Terrors und des globalen Dschihad. 

Die Autorin behandelt die Probleme der Religionen, die alle immer die Neigung hatten, imperial zu werden. Sie beschreibt kenntnisreich und detailliert das „Hebräische“ und das „Muslimische Dilemma“, lässt das christliche Dilemma aber nicht aus. Konstantins Bekehrung im Römischen Reich war ein Staatsstreich zugunsten seiner imperialen Macht gewesen. Der Pax Romana kam jetzt verstärkend die Pax Christiana hinzu. Schon bald heiligten Theologen wie Eusebius den Bund: Konstantins Eroberungen, so Eusebius, bildeten den Höhepunkt der Heilsgeschichte. Jesus habe seinen Jüngern alle Macht gegeben, im Himmel wie auf Erden und der christliche Kaiser Konstantin habe das ratifiziert. Schon hört man damals 312 etwas von einem „heiligen Krieg“. Armstrong: „Weder Jesus noch die ersten Christen hätten sich ein größeres Paradoxon vorstellen können als einen christlichen Kaiser“. 

Konstantin hatte sehr wenig mitbekommen von den Elementen des neuen Glaubens. Es war deshalb wahrscheinlicher, dass das „Christentum zur imperialen Gewalt“ bekehrt wurde. Konstantin erkannte seine Lage und verschob seine Taufe, bis er auf dem Sterbebett lag. Der später sogenannte Cäsaropapismus (die Identität von Kaiser und Papst) begann damals schon, immer wenn Religionen sich an der Macht festklammerten. Als in Nordafrika eine Häresie begann, wollte Konstantin ihr als Kaiser ein Ende setzen: „Ich bin von Gott als Aufseher über die äußeren Angelegenheiten der Kirche eingesetzt.“ Häresie war nicht nur eine Sache der Theologie, sondern auch der Politik. Die Autorin bestätigt, was für alle Religionen gilt: „Staatliche Unterdrückung hinterlässt eine Spur der Verletzung, die eine religiöse Tradition nur zu oft radikalisiert und selbst eine friedliebende Vision in einen Feldzug verwandeln kann“. 

Die Autorin ist der Ansicht, dass der hl. Augustinus in der nordafrikanischen Stadt Hippo der Theorie und Praxis christlich-staatlicher Gewalt „den stärksten Segen“ gegeben habe. Als damals donatistische Mönche die ländlichen Gebiete und Tempel in Nordafrika zerstört hatten, hatte der Bischof Augustinus jegliche Gewalt gegen sie verboten. Dann hatte er gesehen, dass die kaiserlichen Edikte die Donatisten in die Kirche zurücktrieben. Kein Zufall sei es, dass von Augustinus die Theorie des „gerechten Krieges“ ausgegangen ist. Als Jesus seinen Jüngern befahl, die andere Wange hinzuhalten, wenn sie angegriffen würden, habe er nicht verlangt, dass sie eine Übeltat passiv hinnehmen müssten. Ein Einzelner kann aus Eigenem nicht richtig handeln, weil er unweigerlich eine falsche Begierde spüre, seinem Angreifer Schmerz zuzufügen. Aber der professionelle Soldat befolge nur Befehle und handle leidenschaftslos. So konnte es denn später zu der Tragödie der Kreuzzüge kommen, in denen Rücksichtslosigkeit und aggressive Selbstgerechtigkeit sich in Massakern und Massenmorden äußerten.

In der späteren Geschichte dieses so herangewachsenen Papsttums wurde die Lehre Christi geradezu systematisch geleugnet. Das zeigte sich in den Katharer Feldzügen, in denen diese mystische Gruppe von Gläubigen, die dem Glauben an Jesus Christus besonders nahe sein wollten, die Vernichtung angesagt wurde: 1209 führte der Abt von Citeaux, Armand Amalric eine große Armee gegen die Katharer und belagerte die Stadt Beziers. Als seine Soldaten ihn fragten, wie sie orthodoxe Katholiken und Ketzer unterschieden sollten, habe er geantwortet: „Tötet sie alle, Gott wird die Seinen erkennen!“ Die Kreuzzüge werden immer ein schwarzes dunkles Kapitel in der Geschichte der christlichen Kirche bilden, denn sie waren verbunden mit Eroberung, Plünderung, Landraub und Massenmorden. Viele nahmen das Kreuz, schreibt Armstrong, um in der Fremde Reichtum zu finden, Wohlstand für Ihre Nachkommen und Ruhm und Ehre für sich selbst. Papst Urban hat dieses schreckliche Kapitel der Kirchengeschichte am 27. November 1095 bei einer sog. Friedensversammlung in Clermont in Südfrankreich eingeläutet: Urban II rief zum Ersten Kreuzzug auf. Die Folgen sind bekannt. 

Das war auch schon das hebräische Dilemma unter Manasses Enkel Josiah, 640 bis 609 v.u.Z. Schon die Ausschließlichkeit der Verehrung Jahwes wird mörderisch, wenn sie wie bei Mose so begründet wird: „Hört Ihr Israeliten, der Herr ist unser Gott, der Herr allein.“ Er habe den Israeliten nicht nur verboten, einen anderen Gott zu verehren, er habe ihnen auch befohlen, die „Urbevölkerung des Gelobten Landes auszurotten“. So schildert es die Autorin in Ihrem Buch und mündet nur ganz selten in umso eindrucksvollere Schlussfolgerungen: „Religiöse Traditionen entwickeln in einer symbiotischen Verbindung mit exzessiver staatlicher Macht oft einen gewalttätigen Zug.“ 

Vieles an diesen Phänomenen entfaltete sich auch in den Vereinigten Staaten. Als Alexis de Tocqueville 1830 die USA besuchte, beschrieb er die „zwei vollkommen getrennten Elemente“, die an anderen Orten oft im Krieg miteinander lagen: „Ich spreche vom Geist der Religion und dem Geist der Freiheit“. Die Gründungsväter seien von den gemäßigten Aufklärern beeinflusst gewesen: von Isaac Newton und John Locke. Aber es gab die Versuchung des Fundamentalismus zunächst bei den evangelikalen Christen. 1840ff schuf Charles Finney diese Bewegung auf der Basis einer buchstabengetreuen Lesart der Evangelien. Das war ja immer bei den Weltreligionen die Gefahr, wie später auch beim Islam und beim Judentum. 

In der Bill of Rights von 1791 stand es dagegen glasklar: „Der Kongress wird keine Gesetze in Bezug auf die Einführung einer Religion erlassen oder die freie Religionsausübung verbieten“. Thomas Jefferson antwortete auf die Bitte von Baptisten in Connecticut, einen Fastentag staatlicherseits zu erlassen, mit der klaren Devise: „Ich bin mit ihnen der Ansicht, dass Religion eine Sache ist, die ausschließlich zwischen dem Menschen und seinem Gott liegt, dass er niemandem sonst für seinen Glauben Rechenschaft schuldet, dass die Legislative einer Regierung nur die Taten betrifft, nicht die Meinungen“. 

Bei der französischen Revolution war der antikatholische Effekt sehr stark. Die Revolutionäre nahmen die Erklärung der Menschenrechte für ein politisches Evangelium, „die französische Verfassung zu einer Religion, für die die Menschen zu sterben bereit sind“. Tocqueville hatte prophetisch vorausgesagt, was bis heute gilt: „Eine neue Form der Religion entstand, eine unvollkommene Religion fürwahr, ohne Gott, ohne Ritual und ohne ein Leben nach dem Tod, aber wie der Islam überflutete sie die Erde mit ihren Soldaten, Aposteln und Märtyrern.“ 

Das Buch erklärt, welche verbrecherischen Eingriffe die westlichen Kolonialmächte in ganz anderen Kulturen begingen. Die neuen Kolonialmächte verhalfen ihren Kolonien ja nicht zu einer eigenen Industrialisierung, sondern eigneten sich nur ihre Rohstoffe an. Die britischen Innovationen hatten auf das religiöse und politische Leben in Indien drastische Auswirkungen. Die „Demokratisierung, die die britische Herrschaft durchsetzte, war der indischen Gesellschaft fremd“, sie war immer hierarchisch gewesen und hatten die „Synergien zwischen getrennten Gruppen betont“. Sie teilten nach ihrem Gutdünken die Bevölkerung in Hindus, Muslime, Sikhs und Christen ein. Diese Neigung, unterschiedliche Glaubensgemeinschaften stereotyp zu betrachten, führe zu einer Radikalisierung der Sikh-Tradition. 

Sie stellte die Sikh Tradition, die ganz mystisch und friedlich war auf den Kopf: sie waren nun kriegerisch und heroisch. Diese Vorstellung der Sikhs als einer eigenen Ethnie hatte auch woanders desaströse Folgen. Zuletzt war das der Auslöser des Völkermords in Ruanda, als die Tutsis in einer Art Endlösung vernichtet werden sollten, die auch zu Unrecht als eigene Ethnie von der belgischen Kolonialmacht eingeführt wurden. Koloniale Demütigung war das schlimmste Produkt der imperialen Mächte. Sie raubten den Religionsgemeinschaften ihre Tradition und wurden zu Katalysatoren der Gewalt. Diese Demütigung führte dazu, dass die Deobandis sich vom Westen und der Moguldynastie zurückzogen. Der Islam der Deobandi plädierte für eine allzu strenge wortwörtliche Auslegung der Scharia. Die Autorin resümiert: Die britische Unterwerfung Indiens hatte einige Hindus, Sikhs und Muslime in eine defensive Haltung getrieben, die nur allzu leicht in Gewalt ausartete. 

Das Buch beantwortet die Frage nicht schlüssig, denn Religionen wie Kulturen haben das Zeug, in Gewalttätigkeit umzukippen, wie menschheitsbeglückende Bewegungen und Revolutionen. Wie weit aber ein säkulares Ethos sich, wenn es ganz emanzipiert ist von einem transzendenten Glauben, verirren kann, macht die Autorin an mehreren Stellen ihres wertvollen Buches mehr als deutlich. Die Entwicklung der Waffen führt heute zu den Drohnen, die ja das weiterführen, was mit den Minie- Vorderlader-Gewehren begonnen hatte. Die britischen Schützen stellten damals  fest, dass sie die Bantu im Sudan auf eine Entfernung von 1200 Metern treffen konnten, ohne die verheerenden Folgen ihres Tuns mit ansehen zu müssen. 1898 mähten die sechs Maxim Maschinengewehre mit sechshundert Schuss pro Minute tausende von Gefolgsleuten des Mahdi in Omdurman im Sudan nieder. Die Einhegung dieses Triebs durch das säkulare Ethos allein gelang und gelingt nicht. Noch 1927 konnte der Captain Elbridge Colby von der US Army berichten: Zerstörung und Vernichtung seien die Methoden der Kriegführung. Und es sei ein Fehler, „auf Grund exzessiver humanitärer Vorstellungen“ den Einsatz überlegener Feuerwaffen zu verbieten. 

Noch schlimmer: Ein Befehlshaber, der „unangebrachtes Mitgefühl zeigt, ist einfach unfreundlich seinen eigenen Leuten gegenüber.“ Wenn einige Nichtkombattanten durch Kollateralschäden getötet würden, gäbe es „weniger Verluste als bei einer längeren Operation mit höflicherem Charakter. So könne ein inhumaner Akt sich tatsächlich als human erweisen“. Deshalb wird man nicht sagen können, dass wir von der Gewalt wegkommen, wenn wir uns ganz von den Religionen emanzipieren.

Weitere Information:

Quelle

Rupert Neudeck 2014 | Grünhelme 2014

Diese Meldung teilen

‹ Zurück zur Übersicht

Das könnte Sie auch interessieren