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bundesregierung.de | Screenshot von Bundesregierung-Video | Bundeskanzlerin Merkel zur Coronakrise am 18.03.2020..

© bundesregierung.de | Screenshot von Bundesregierung-Video | Bundeskanzlerin Merkel zur Coronakrise am 18.03.2020..

Bundeskanzlerin Merkel: „Es ist ernst“

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gestern in einer Ansprache an die Deutschen auf dramatische Weise auf den Ernst der Lage hingewiesen. Es sei die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, sagte sie: „Es kommt ohne Ausnahme auf jeden Einzelnen und damit auf uns alle an.“

Die Bundeskanzlerin fordert eindringlich den Gehorsam der deutschen Bürger im Kampf gegen den Virusfeind, weil die Regierung noch keine Ausgangssperren anordnen will. 

Frankreichs Präsident Macron hat in einer großen Geste den Krieg gegen das neue Coronavirus erklärt, um den Ausnahmezustand, auf bayerisch: den Katastrophenfall zu erklären. Aufgrund unterschiedlicher Experteneinschätzungen haben die Regierungen weltweit per Dekret unterschiedliche, viele Bürgerrechte aussetzende Maßnahmen, inklusive bedingten Ausgangssperren, zur nationalen oder regionalen Bekämpfung der Pandemie beschlossen.

Die dringliche Lage würde schnelle Entscheidungen erfordern, was sowohl demokratische Prozeduren wie auch einen gesellschaftlichen Diskurs ausschließt. Die Menschen sollen den Regierungen und Experten vertrauen und sich den Einschränkungen beugen, die nur von der Gesundheitsfürsorge bestimmt sind.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gestern in einer Ansprache an die Deutschen ebenfalls auf dramatische Weise auf den Ernst der Lage hingewiesen. Es sei die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, sagte sie: „Es kommt ohne Ausnahme auf jeden Einzelnen und damit auf uns alle an.“ Jetzt müssten alle zusammenstehen, solidarisch sein und dem staatlich angeordneten Shutdown sowie dem Aufruf, die sozialen Kontakte zu minimieren, gehorchen.

Disziplin sei gefordert. Mehrmals wiederholte sie, dass jeder einzelne gefordert sei. So dick wie Macron trug sie nicht auf, aber man sah sich schon in einer Art Kriegsaufruf, gemeinsam und diszipliniert gegen den Feind zu Felde zu ziehen und die Reihen geschlossen zu halten.

Dabei geht es allerdings nicht um den Sieg über den unsichtbaren Virenfeind, der überall bedrohlich herumschwirrt und nach Wirten sucht, sondern nur um eine Verlangsamung der Ausbreitung. Mehrfach betonte die Kanzlerin, dass es sich um eine „dynamische“ Situation handelt, die sich also schnell verändern kann. Während man bis vor kurzem noch „disruptive“ Ereignisse feierte, setzt man nun, wenn ein solches eintritt, lieber auf das Dynamische, um zu vermeiden, von Ungewissheit sprechen zu müssen.

Die propagierte Verlangsamung in dynamischen Verhältnissen bedeutet aber eigentlich, keinen wirklichen Schutz erlangen zu können, sondern nur darauf zu hoffen, dass das Gesundheitssystem nicht zusammenbrechen wird, wenn vermehrt schwer Erkrankte in die Krankenhäuser eingeliefert und auch auf Intensivpflege angewiesen sein werden. Denn wir müssen damit rechnen, dass nach Schätzung von Virologen 60-70 Prozent der Bevölkerung über die Zeit hinweg infiziert werden, was je nach Mortalität zu Hunderttausenden von Toten führen könnte – wenn die soziale Distanzierung von der überwiegenden Mehrheit nicht befolgt wird.

Die Aussicht, trotz Befolgung der Vorgaben zur Verhaltensveränderung erkranken und sterben zu können, macht den Appell schon schwieriger, weil er auf der freiwilligen Einsicht beruht, nun möglichst auf nicht wirklich absehbare Zeit und völlig darin ungeübt möglichst weitgehend auf soziale Kontakte zu verzichten, räumliche Distanz oder Abstand zu wahren und sein Leben mit Telearbeit, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Herunterfahren des Konsums, Einschluss in die Kleinfamilie und stärkerer Nutzung der (digitalen) Medien und Fernkommunikation umzuorganisieren.

Es wird ein gewaltiger Schritt in das Leben im Virtuellen sein, das sich zwar schon lange angebahnt und ausgebaut hat, aber in Zeiten der Epidemie und der verordneten sozialen Distanzierung die letzten Hürden durchbrechen wird.

Die Bundeskanzlerin und ihre Regierung waren mitsamt den beratenden Experten nicht entschlossen, wie in anderen Ländern auch Ausgangssperren anzuordnen. Man will einen Mittelweg zwischen den drastischen Maßnahmen und dem laschen Vorgehen wie in Großbritannien gehen, wo die Regierung allerdings auch nach und nach anzieht und gestern auch schon mal die Schulen geschlossen hat (Britische Regierung verfolgt nicht mehr die Strategie der Herdenimmunität).

Berlin setzt weiterhin auch darauf, dass die Menschen sich freiwillig einschränken, dass man die Ausbreitung in den Griff bekommen kann, dass die Wirtschaft nicht zu stark einbricht. Das ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang – und auch riskant, wenn man sich die Entwicklung in Italien ansieht, wo zwar spät, aber doch auch eine Ausgangssperre angeordnet wurde (Warum Herr Wodarg Unrecht hat). Denn um zu bewerten, ob die jetzt eingeschlagenen Maßnahmen greifen, muss man mindestens ein oder zwei Wochen abwarten. Dabei könnte wertvolle Zeit vergangen sein.

Merkel versucht, ihre Forderung nach Einhaltung der Regeln zu unterstreichen, indem sie schon mal androht, dass die Regierung jederzeit zu neuen Maßnahmen greifen wird, letztlich zur Ausgangssperre und einer massiven Überwachung mit Strafandrohung, vielleicht auch zur Zwangsverpflichtung von medizinischem Personal und Hilfskräften. Wir stehen noch am Beginn der Coronakrise und den staatlich verordneten Zwangsmaßnahmen.

Gut möglich, dass die Menschen nach ein oder zwei Wochen, wenn es nicht fruchtet, aufbegehren oder den „Tanz auf dem Vulkan“ vorziehen, was weitere Kontrollen und Zwangsmaßnahmen mit sich bringen könnte.

Und wenn die Ermahnung nicht greift?

Gestern noch war zu beobachten, dass viele Menschen die Gefahr recht lässig sehen, die von sozialen Kontakten und räumlicher Nähe ausgehen. Bei schönem Wetter saß man mitunter mittags draußen im Restaurant recht eng beieinander, die Tische standen wie eh und je. Gemeinsam ging man auch in größeren Gruppen herum und setzte sich etwa auf Bänken zusammen. Vor Ampeln oder in Lebensmittelgeschäften wurde der Mindestabstand von 1,5 Meter nicht eingehalten. Mundschutz gibt es hierzulande praktisch nicht, Plastikhandschuhe werden auch nicht gerne angezogen.

Der Bundesregierung dürfte bewusst sein, dass freiwillige Einschränkungen in unserer Kultur im Unterschied zu asiatischen Kulturen, die durch drastische Maßnahmen die Epidemie relativ schnell eindämmen konnten oder gar nicht zum Ausbruch kommen ließen, kaum funktionieren wird. Die jüngeren Menschen sehen sich sowieso als nicht wirklich gefährdet an, dazu kommen viele, die Verlautbarungen der Regierung grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen und stets andere Interessen hinter Regierungshandeln am Werke sehen als die verlautbarten.

Um zu sehen, ob die angeordneten Maßnahmen und Empfehlungen befolgt werden und Wirkung zeigen, muss natürlich das Geschehen kontrolliert und beobachtet werden. Das Robert Koch Institut (RKI) greift beispielsweise auf Handydaten der 46 Millionen Telekom-Kunden zurück, um zu kontrollieren, ob die von der Bundesregierung erlassenen Anordnungen auch befolgt werden.

Ob Vodafone und Telefonica Deutschland auch liefern, ist noch unbekannt. Angeblich sind die übermittelten Daten anonym, und angeblich will man nur überprüfen, ob sich die Mobilität verändert hat, also weniger wurde. Aber man wird durchaus sehen können, wo die Regeln eher befolgt werden und wo die Menschen eher ihr Verhalten im öffentlichen Raum nicht geändert haben. Kontrollmaßnahmen könnten dann an den „hot spots“ verstärkt werden.

Vielleicht landet man auch dabei, die Mobilität von einzelnen Infizierten anhand von Lokalisierungsdaten zu überwachen, die wie in Südkorea oder Singapur aus GPS-Daten der Smartphones, Kreditkarteninformationen und Überwachungskameras extrahiert werden. Und möglicherweise sollen dann auch Kontakte zwischen Infizierten und Noch-Nicht-Infizierten nachverfolgt oder eruiert werden.

Unwohl wird einem auch dann, wenn man einsieht, dass Einschränkungen der Kontakte und größere Hygiene vorübergehend notwendig sind, um die exponentielle Verbreitung des Virus zu verlangsamen, gegen das es noch keine Immunität gibt, obgleich es noch keine gesicherten Erkenntnisse über dessen Mortalität gibt. Die war bei den vorhergehenden Epidemien Sars, H1N1 und Mers höchst unterschiedlich. Aber soll man darauf vertrauen, dass Maßnahmen, die jetzt eingeführt werden, auch nach dem Ende der Pandemie auch wieder restlos außer Kraft gesetzt werden? Zumal es ja heißt, dass das Coronavirus unter uns bleiben und die Menschheit wie Influenza begleiten wird.

Bedenken kann man haben, wenn man sich die Reaktionen auf einen anderen, einen ideologischen Virus oder ein Mem ansieht, auf den internationalen oder internationalen Terrorismus nach 9/11. In aller Hast wurden damals ganze Batterien von Anti-Terror-Paketen beschlossen, beispielsweise der Patriot Act in den USA oder in Deutschland die Antiterrorgesetze von Schily („Otto-Katalog“). Auch als die Gefährdung sich nicht wirklich in den USA und in Deutschland einstellte, sah sich keine Regierung und kein Parlament imstande, die Gesetzgebung wieder zurückzufahren.

Gemeinsam mit dem Coronavirus hatte der Terror auch, dass die Gesellschaft zur Wachsamkeit und Geschlossenheit aufgerufen wurde, weil jeder, zu jeder Zeit und am beliebigen Ort bedroht war, auch hier waren die bevölkerten Orte am gefährlichsten. Zudem sollte die Gefahr anhalten würde, weswegen man auch von einem langen Krieg sprach.

Anders als im Antiterrorkrieg sollten die Parlamente der demokratischen Staaten höchst wachsam sein, möglichst schnell den Katastrophenfall oder Ausnahmezustand im Anti-Viruskrieg wieder zurückzufahren und dafür zu sorgen, dass keine Maßnahmen auf vagen Verdacht hin und weil eine Gefährdung immer möglich sei, beibehalten werden, die die Bürgerrechte noch weiter einschränken. 

Quelle

Der Bericht wurde von
der Redaktion „TELEPOLIS“ (Florian Rötzer)
2020
 verfasst – der Artikel darf nicht ohne
Genehmigung von Florian Rötzer 2020 weiterverbreitet
werden! 

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