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Das C verpflichtet

Die derzeit geführte Asyldebatte hat viele Facetten, die sprachliche stört mich bis zum ekelhaften Überdruss: „Asylanten“ sind keine Kartoffel- oder Mehlsäcke, über deren sachgemäße Lagerung man streitet. Es handelt sich bei den „Obergrenzen“ nicht um die Kapazitätsgrenze eines Kühlhauses für tropische Südfrüchte. Wir reden über Flüchtlinge wie über Sachen und verstecken den Skandal der Herzlosigkeit in kalten Statistiken. Von Norbert Blüm

Es sind aber Menschen, um die es geht, Verzweifelte, die Zuflucht suchen und nicht Sachen, die gestapelt oder zurückgeschickt werden müssen. „Asyl-Touristen“ ist ein Wort des kalten Zynismus. War Aylan, das tote Kind, dessen Bild um die Welt ging, ein „Asyltourist“? Friedlich lag der kleine Aylan im Ufersand, ein rotes Shirt, neue Schuhe, seine Haare wie frisch gekämmt. Aylan, geflohen aus Syrien, war ertrunken. Das Schlauchboot war zu klein, die Wellen zu hoch. Aylan wollte mit Mutter und Vater dem Gemetzel in seiner Heimat Syrien entfliehen und bei der Tante in Kanada Zuflucht suchen.

War jene Mutter, die nur eines ihrer drei Kinder solange über Wasser halten konnte, bis das Rettungsboot sie auffischte, eine „Asyltouristin“? Waren die Flüchtlinge, die im Volvo-Transporter erstickten und deren Leichen, darunter vier Kinder, an einer Haltebucht der Autobahn A 4 zwischen Budapest und Wien gefunden wurden, „Asyltouristen“? Und sind „Ärzte ohne Grenzen“ eine Filiale der „Anti-Abschiebungsindustrie“? Sie sind  Lebensretter, die für das Versagen der Staaten einspringen. Die Zyniker, die aus der Flüchtlingsmisere politisches Kapital schlagen wollen, müsste man zwingen, in die Augen halb verhungerter Kinder zu sehen, und den Stammtischbrüdern sollte man erst erlauben, die nächste Maß zu bestellen, nachdem sie zuvor eine kalte Nacht in einem Flüchtlingslager im Zelt verbracht haben. Ich empfehle Lesbos.

Wenn 500 Millionen Europäer keine fünf Millionen oder mehr verzweifelte Flüchtlinge aufnehmen können, dann schließen wir am besten den Laden „Europa“ wegen moralischer Insolvenz. Mehr als ein Geschäft mit einer eigenen Währung ist dann von der Europäischen Gemeinschaft nicht mehr übrig. Ein Einwanderungsgesetz, welches als das neue Heilmittel angepriesen wird, löst weder das Elendsproblem noch das Flüchtlingsproblem. Es bietet Rettung nur für die Qualifizierten und raubt den armen Herkunftsländern zusätzlich die letzten Einheimischen, die sie wieder aufbauen könnten. Wir, die Bewohner der Wohlstandinsel Europa, sind die Hehler und Stehler des Reichtums der sogenannten Dritten Welt. Auf deren Kosten und Knochen haben wir uns bereichert. Die Bodenschätze Afrikas haben wir ausgeraubt. Westliche Agrarkonzerne kaufen ganze Landstriche auf und entwurzeln so eine Jahrhunderte alte Subsistenzkultur, die ihre Menschen ernährte. Landflächen, so groß wie halb Europa, sollen sich bereits im Besitz westlicher Agrarkonzerne befinden. Die Spekulation mit Ackerboden verspricht hohe Rendite; Nahrung wird Aktie.

Nestlé, Danone und Konsorten mitsamt anderen globalen Wassersaugern legen das Land trocken, indem sie einheimische Quellen aufkaufen und ausnutzen, um profitsichere Monopole aufzubauen, die in den kommenden Zeiten der Wasserknappheit zu westlichen Geldmaschinen mutieren sollen. Die erste Welt zerstört die dritte und wundert sich, dass die Zerstörten sich auf den Weg zu den Zerstörern machen.

Freilich, der Westen ist nicht der Alleinschuldige am Elend. Die neuen Herrscher haben sich viel von den alten abgeschaut. Die neokolonialen Eliten scheffeln das Geld in die eigene Tasche, leben in Saus und Braus, während ihr Volk darbt. Sie kennen Ausbeutung noch besser als die alten Kolonialherren, die sie abgelöst haben. Korruption wird zum Geschäftsmodell. Doch zur Korruption gehören mindestens zwei: einer, der sich bestechen lässt, und einer, der besticht. Die Bestochenen sitzen in Afrika, die Bestecher im Westen. Die Ausbeuter tragen Firmennamen mit hoher Reputation, topfite und gestylte Manager gelten in der neuen und alten Welt als bewunderte Leitfiguren. Diese Herren sind ausgestattet mit Jahreseinkommen, von denen ganze Dörfer in Afrika leben könnten.

Wer sich nur einen Funken menschlichen Mitleids bewahrt hat, kann über die Flüchtlinge nicht so kaltherzig schwadronieren, wie es in der übergroßen Koalition zwischen altem Stammtisch und neuem rechten Establishment gang und gäbe ist. Wer sich ihre großspurigen Reden anhört, gewinnt den Eindruck, als handele es sich bei den Flüchtlingen um vergnügte „Nassauer“, die uns auszunutzen versuchen. Doch wer sich an nordafrikanischen Ufern in die Schlauchboote begibt, muss viel erlitten haben, um das Risiko einzugehen, im Mittelmeer zu ersaufen.

Die CDU, „meine“ Partei, war eine originale politische Innovation des Jahres 1945. Es war die Zeit des Zusammenbruchs: Millionen Tote, Millionen Kriegsversehrte, Millionen Frauen, deren Männer aus dem Krieg nicht mehr heimkamen, Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, Trampelpfade über Trümmerberge, wo heute wieder Prachtstraßen sind. Ich war damals nur Kind. Wir hatten wenig zu essen, hausten in zerbombten Wohnungen und wussten nicht, wie wir über den Winter 1945/46 kommen sollten.

Und was machten damals die Leute: Sie sind nicht nur auf die Suche nach Überlebensmitteln gegangen, sondern auch nach dem Sinn und Zweck des Lebens. In dieser Zeit wurden die CDU und die CSU gegründet. Sie sind auch aus Heimweh nach christlichen Werten entstanden. Freiheit und Gerechtigkeit sind die Grundlagen der christlichen Soziallehre, die das Fundament der CDU/CSU ist.

Wo, „C“, bist Du geblieben? Mich schreckt der kaltschnäuzige Ton, den die CSU in der Asyldebatte angeschlagen hat. Dabei waren die Bayern das herzlichste Volk beim Empfangen der Flüchtlinge. Die Bayern waren die Vorreiter einer neuen Willkommenskultur, auf die ich stolz war. Mir bleiben die Bilder der hilfsbereiten Menschen in Erinnerung, welche auf den Bahnsteigen und an der Landesgrenze Bayerns die Gestrandeten in die Arme nahmen. Bayern ist seit dieser Zeit für mich nicht nur das Land der Wiesn, der Zugspitze und des Hofbräuhauses, sondern auch das Land barmherziger Gastfreundschaft.

Eine Volkspartei ist etwas anderes als eine „Sammlungsbewegung“, der es vor allem auf die Maximierung der Massen ankommt. Und das „C“ im Partei-Namen ist kein Besitzanspruch an Wähler, sondern eine Selbstverpflichtung der Partei, ihre Politik an der Botschaft des Christentums zu messen.

Quelle

Mit freundlicher Erlaubnis von Norbert Blüm 2018 | Erstveröffentlichung „Süddeutsche Zeitung“ | 12. Juli 2018

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