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Spiel des Lebens

Wie hat der Mensch die wilde Natur gezähmt – und sich selbst auch? Zu dieser historisch wichtigen ökologischen und politischen Frage gibt es ein neues, umfangreiches Buch. Eine erste Einschätzung dazu von Professor Udo E. Simonis

Um zu überleben waren unsere Vorfahren für hunderttausende von Jahren von wilden Pflanzen und Tieren abhängig. Sie waren Jäger und Sammler, waren Experten der Nahrungssuche und nahmen die Welt so, wie sie sie vorfanden. Dann aber kam die „neolithische Revolution“, mit der sich die Interaktion unserer Vorfahren mit anderen Arten ganz wesentlich veränderte: Sie zähmten die wilden Arten, wurden zu Hirten und Bauern, wurden sesshaft, vermehrten sich rasch, und es entstanden die ersten Kulturen.

Alice Roberts will in diesem Buch die Geschichten von zehn Arten historisch umfassend und zugleich amüsant und anregend erzählen, die das Leben der Menschen – wie sie meint – auf den Kopf stellten. Der deutsche Titel nennt es das „Spiel des Lebens“; der englische Originaltitel beschreibt etwas genauer, worum es geht: “Tamed. Ten Species That Changed Our World“. Die Autorin verfolgt dabei eine strategische Absicht: „Wir müssen hoffen, dass es eine grünere Zukunft für uns gibt – und für unsere Verbündeten… Mehr über die Geschichte der domestizierten Arten zu wissen, wird uns dabei helfen, diese Zukunft besser zu gestalten“ (S. 13).

In zehn Essays von jeweils rund 30 Seiten zeigt sie, wie sich Tiere und Pflanzen verändert haben, nachdem der Mensch sie zu einem konstitutiven Teil seiner Welt machte – und wie ihre Entwicklung mit der Entwicklung des Menschen verflochten ist. Jedes dieser Kapitel ist integrativ angelegt, wird mit grundlegender Literatur fundiert und kann durch ein Register leicht erschlossen werden.

Die Autorin beginnt ihre Reise (1. Kapitel) weit in der Vorgeschichte, einer Welt ohne Städte, ohne Siedlungen, ohne Gehöfte – einer Welt im kalten Griff der Eiszeit. Denn dort treffen wir auf den ersten unserer Verbündeten – den Hund. Unsere heutigen Hunde sind die Nachkommen des Eurasischen Wolfs; sie teilen sich über 99,5 % ihrer Gensequenzen mit dieser Unterart (die auch Grauwolf genannt wird). Die traditionelle Geschichte der Domestizierung des Hundes verortete diesen Prozess vor rund 15 000 Jahren. Die neuere Debatte über den Ursprung der Hunde führte jedoch zu weitreichenden Abweichungen von dieser Annahme. Genetiker kamen auf einen Divergenz-Zeitpunkt von Wölfen und Hunden, der 37 000 bis 42 000 Jahre in der Vergangenheit liegt. Wie es dazu kam, dass eiszeitliche Jäger und Sammler sich mit Wölfen zusammentaten, darüber ist viel spekuliert worden – und darüber berichtet Alice Roberts in faszinierender, romanhafter Art und Weise.

Im Laufe der Zeit hat sich die Beziehung zwischen dem zahmen Wolf und dem Menschen aber sehr verändert, resümiert sie. Nun lebten nicht mehr zwei Arten einfach nebeneinander und tolerierten sich gegenseitig; es war vielmehr eine Symbiose entstanden, der „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ (S. 39). Die uns bekannten Hunderassen entstanden aber erst sehr spät, sind sehr junge Züchtungen: Die meisten der heutigen rund 400 Hunderassen existieren in ihrer wunderbaren Vielfalt erst seit dem frühen 19. Jahrhundert.

Ähnlich informativ und assoziativ sind die Kapitel über die anderen Tierarten: die Rinder, die uns Milch und Fleisch liefern (3. Kapitel), die Hühner, die uns bis morgens träumen lassen (6. Kapitel) und die Pferde, die uns Kraft und Beschleunigung geben (8. Kapitel). Jeweils dazwischen platziert sind die von der Autorin in gleicher Intensität untersuchten und präsentierten Pflanzenarten: der Weizen (2. Kapitel), der die wachsende Bevölkerung mitversorgt, der Mais (4. Kapitel), der zum „Treibstoff für Imperien“ wurde, der Reis (7. Kapitel), der eine goldene Zukunft versprach, die Äpfel (9. Kapitel), die mit dem Menschen von Ost nach West reisten. Dann aber sind da noch zwei höchst spektakuläre Essays über die Kartoffeln (5. Kapitel), die Fluch wie Segen zugleich waren und den Menschen (10. Kapitel), der alle diese Arten zähmte – und von allen diesen Arten selbst gezähmt wurde.

Diese beiden Kapitel mögen sich Leserinnen und Leser besonders sorgfältig ansehen. Die Kartoffel-Geschichte beginnt mit der Reise der Autorin zu den Hazda, einer Gruppe heutiger Jäger und Sammler in einem abgelegenen Gebiet von Tansania, bei denen eine spezielle Wurzelknolle den Großteil des Speiseplans ausmacht, als Grundnahrungsmittel, das das ganze Jahr über verzehrt wird, aber besonders in Notzeiten, wenn andere Nahrungsmittel knapp werden. Der Umstand, dass Jäger und Sammler in tropischen Breiten auch heute noch Wurzeln und Knollen ausgraben und essen, kann bedeuten, dass die Menschen das schon sehr lange tun – vielleicht schon so lange, wie es den heutigen Menschen gibt, also rund 200 000 Jahre.

Doch wann und wo entwickelten sich Kartoffeln vom gesammelten, wilden Nahrungsmittel zu einer kultivierten, domestizierten Art? Im frühen 20. Jahrhundert stellten russische Botaniker die These auf, dass es zwei Hauptzentren der Kartoffeldomestikation gegeben habe: auf der Hochebene zwischen Peru und Bolivien in der Nähe des Titicacasees und im Tiefland von Chile. Die frühesten Belege für diese These fanden sich in der „Höhle der drei Fenster“ im Hochland von Peru.

Wo auch immer die Domestikation zuerst begann, sie verwandelte die Wildkartoffel in etwas für Menschen wesentlich Nützlicheres um. Als die Europäer mit Amerika in Kontakt kamen, wurden solche Kartoffeln überall im Westen von Südamerika angebaut. Wer aber glaubt, dass Kolumbus sie nach Europa gebracht hätte, der irrt: Er kam ja nicht bis zum Westen des Kontinents.

Es gibt keine verlässlichen historischen Aufzeichnungen über die erste Ankunft von Kartoffeln in Europa. Der erste Verweis auf etwas, das eine Kartoffel zu sein schien, taucht in der spanischen Literatur im Jahr 1552 auf. Die erste Erwähnung von Kartoffeln, die als Import, nicht als Saatgut nach Europa kamen, findet sich 1567, als sie von Gran Canaria nach Antwerpen verschifft wurden. Dann begann der Siegeszug: Die Kartoffel wurde zu einem Grundnahrungsmittel in Europa, ergänzte die Versorgung durch Getreide und half so, die Ernährungssicherheit der Bevölkerung zu verbessern. Diese und viele anderen Details machen das 5. Kapitel des Buches besonders lesenswert.

Das 10. Kapitel ist von anderem, schwierigeren Kaliber. Es beginnt mit einem Blick auf die Entwicklung der Geschichte vom Ursprung des Menschen – mit der Entdeckung eines Schädels am Felsen von Gibraltar 1848 und der Entdeckung der Überreste eines Menschen 1856 in einem anderen Steinbruch, in der Feldhofer Grotte im Neandertal. Seit diesen ersten Entdeckungen und der Erkenntnis, dass es mehrere Menschenarten gegeben hat, wurden immer mehr Namen für die Zweige hinzugefügt, die mit dem heutigen Menschen verwandt sind. Inzwischen gibt es über zwanzig benannte Hominini-Arten, die innerhalb der letzten zwei Millionen Jahre existierten, sodass sie in unsere eigene Gattung Homo aufzunehmen sind.

Diese historische Sicht der Menschenwelt, die neolithische Revolution und die Koevolution zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen bilden den Fokus des letzten Kapitels. Es mündet in der Erkenntnis, dass die Geschichte der Menschheit einen ganz anderen Verlauf genommen hätte, wenn die anderen Arten, mit denen der Mensch interagiert (darunter die in diesem Buch behandelten), sich anders verhalten hätten oder sich nicht hätten domestizieren lassen.

Die Autorin endet mit warnenden Worten. Manchmal gingen wir an Geschichte und Urgeschichte so heran, als wären wir Menschen so sehr „Herr über unser eigenes Schicksal“, dass äußere Einflüsse keine Rolle spielten. Doch die Geschichte einer Art könne niemals für sich genommen erzählt werden. Jede Art existiere in einem Ökosystem; wir seien alle miteinander verbunden und von einander abhängig. Und alle Interaktionen, die sich im Laufe unserer verflochtenen Geschichten abgespielt haben, seien durchsetzt von vielen Glücksfällen oder Zufälligkeiten.

Die Autorin schließt mit einer stolzen Behauptung: „Während wir die Geschichten unsrer Verbündeten aufdeckten, beleuchteten wir auch die Evolutionsgeschichte unsrer eigenen Art. Wie sie, sind wir Hybride“ (S. 356).

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Quelle

Udo E. Simonis 2019 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)

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