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Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft

Was wird aus der Arbeit, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst – oder nicht mehr wachsen soll? Das ist das Thema eines Buches, dessen Herausgeberinnen die Antwort wissen: aus der Erwerbsarbeit muss ein Tätigsein werden. Was Tätigsein ist oder sein kann, erfährt der Leser, wenn er dieses Buch liest. Eine Einschätzung dazu von Professor Udo E. Simonis

Die beiden Herausgeberinnen hatten vor zehn Jahren im selben Verlag ein Buch mit einem ähnlichen Titel veröffentlicht: „Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft“. Warum nun dieses neue Buch mit dem seltsam klingenden Titel? Sie begründen es auf geschickte Art und Weise: In dem schon länger andauernden Transformationsdiskurs käme das Arbeits- und Sozialsystem kaum vor; das sei ein schwerwiegendes Defizit, denn die ökologisch notwendige Transformation in den vor allem fokussierten Sektoren Energie, Mobilität, Industrie und Ernährung werde durch mächtige Wachstumsinteressen gebremst, die vorgeben, Arbeitsplätze zu erhalten beziehungsweise zu schaffen und die soziale Absicherung zu gewährleisten. Es gelte deshalb die Dominanz der Erwerbsarbeit zu relativieren und viele neue Möglichleiten des Tätigseins zu fördern und zu entwickeln. Und dazu bedürfte es einer ernsthaften Auseinandersetzung um institutionelle Reformen und Visionen einer besseren Zukunft.

Dem entsprechend werden die beiden zentralen Begriffe des Buchtitels sorgfältig definiert: „Postwachstumsgesellschaft“ heißt, dass (1) keine Politik zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums mehr stattfindet; (2) dass wachstumsabhängige und wachstumstreibende Sektoren, Institutionen und Strukturen umgebaut werden; (3) dass Energie- und Ressourcenverbrauch auf ein nachhaltiges Niveau reduziert und der Verlust der Biodiversität gestoppt werden. Unter dem Begriff Arbeit wird üblicherweise bezahlte Erwerbstätigkeit in einem Normalarbeitsverhältnis mit sozialer Absicherung verstanden. Dem stellen die Herausgeberinnen den zweiten zentralen Begriff, das „Tätigsein“, entgegen, als Oberbegriff für (1) die große Vielfalt möglicher Arbeit, inclusive Erwerbsarbeit; (2) für den Umstand, dass Menschen verschiedene Formen von Arbeit nach- oder nebeneinander wahrnehmen; und (3) für die Arbeit, die den Anspruch beinhaltet, für den tätigen Menschen wie für die Gesellschaft insgesamt auch sinnvoll zu sein.

Tätigsein kann bezahlt oder unbezahlt sein; Tätigsein entspricht dem Konzept der Mischarbeit; Tätigsein findet in einem Kontext statt, in dem Menschen ihre Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen auch verwirklichen können. So zentral das Tätigsein für Menschen also ist oder sein sollte, so braucht es aber auch der Zeit für ein Nichts-Tun, für Muße, Nachdenken und Kontemplation.

Auf dieser Definitionsbasis entwickeln die Herausgeberinnen im einleitenden Beitrag die relevanten Ansatzpunkte für das Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Sie fokussieren dabei auf drei solcher Punkte: 1. Erwerbsarbeit relativieren und Erwerbsarbeitssystem umbauen; 2. Sozialsystem weiterentwickeln; 3. Förderlicher Kontext für die Transformation des Sozial- und Erwerbsarbeitssystems.

In der Literatur zu diesem Beitrag wird unter anderem auf ein Buch von T. Rosswog verwiesen, das einen passenden Untertitel trägt: „Sinnvoll tätig sein statt sinnlos schuften“. Die vier folgenden Teile des Buches werden von insgesamt 17 weiteren Autorinnen und Autoren bestritten.

  • In Teil 1 geht es um „Grundlegendes“: um die geschichtliche Entwicklung der Arbeit; um die Orientierung an sinnvollen Werten für das (erweiterte) Tätigsein; und um die daraus folgenden Neubewertungen von Arbeit.
  • In Teil 2 geht es um die Frage, was die relevanten Akteure zum zukünftigen konkreten Tätigsein beitragen könnten: die Konsumenten; die Unternehmen; die Gewerkschaften; und die Menschen, die auf ein Frei-gemeinnütziges Tätigsein setzen.
  • In Teil 3 geht es um verschiedene konkrete Bereiche des Tätigseins: um formelle und informelle Sorgearbeit; um Ökolandbau und Agrarkultur; und um die weitere Digitalisierung der Lebenswelt.
  • In Teil 4 wird dann der optimale sozio-ökonomische Kontext des Themas vorgestellt: die soziale Sicherung in der Postwachstumsgesellschaft; ein neues Abgabensystem, das ein breites Tätigsein fördert und die Umweltzerstörung bestraft; sowie die Frage, ob die Thematik des Buches auch schon für Entwicklungs- und Schwellenländer relevant ist.

Die entsprechenden 13 Einzelbeiträge sind alle in höchstem Maße lesenswert. Sie zeigen viele Projekte und eine große Breite dessen, was in Zukunft möglich ist oder werden könnte. Und sie wurden von den Herausgeberinnen in hervorragender Weise organisiert: Die 9 Autoren und 10 Autorinnen werden umfassend und gut erkennbar vorgestellt, die einzelnen Beiträge beginnen alle mit einer kurzen Zusammenfassung und enden mit sehr ausführlichen Literaturangaben.

Und dennoch ist hier auch ein Manko zu benennen: Es gab in den letzten Jahren verschiedene wichtige Publikationen zum Kern des Themas, auf die leider nicht hingewiesen wird. Im Jahr 2000 erschien beispielsweise das Buch von Frithjof Haber und Werner Schenkel: „Schrumpfungen. Ideen aus den Natur- und Kulturwissenschaften“, in 2012 das Buch über Suffizienz von Manfred Linz: „Weder Mangel noch Übermaß“ und in 2016 den Bericht an den Club of Rome von Jorgen Randers und Graeme Maxton: „Ein Prozent ist genug“. Auch im „Jahrbuch Ökologie“ ist seit 1991 Einiges zum vorliegenden Basis-Thema publiziert worden.

Fazit: Das von Irmi Seidl und Angelika Zahrnt herausgegebene neue Buch ist in höchstem Maße empfehlenswert. Es ist voll anregender Ideen zur Art und Weise, wie Wirtschaft und Gesellschaft sich in Zukunft entwickeln werden beziehungsweise entwickeln sollten. Der Begriff „Tätigsein“ könnte im allgemeinen Sprachgebrauch heimisch werden, der Begriff „Postwachstumsgesellschaft“ wohl eher nicht.

Irmi Seidl | Angelika Zahrnt | „Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft“

Quelle

Udo E. Simonis 2016 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)

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