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2017: Von Symbol- zu Systempolitik!

Warum Symbolpolitik scheitert und wie wir zu Systempolitik kommen. Ein Bericht von Peter Spiegel

Wenn wir ehrlich sind, wird die Kluft zwischen Handlungsbedarf und Handlungsfähigkeit der Politik immer größer. Fast jedes große Problem bleibt ungelöst. Die Bühne wird mit wortstarker, aber lösungsarmer Symbolpolitik bespielt. Der Mut zu gestaltungsstarker Systempolitik, die unsere Politiksysteme weiterentwickelt an die Erfordernisse der heutigen Welt, fehlt. Was tun?

Eine Erkenntnis aus der bisherigen Geschichte: Irgendwann macht Not wendig, offen für notwendige Schritte, was bedeutet: für systemische und damit systempolitische Schritte. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall mit der Gründung der Vereinten Nationen, die immerhin das erste Forum für alle Länder schuf. Das war der Fall mit der Einführung der sozialen Marktwirtschaft und einer Politik eines „Wohlstands für alle“. Das war der Fall mit der Ostpolitik, mit der Perestroika, mit der Einführung von Umweltpolitik und einigem mehr.

Doch dann gewann der Neoliberalismus an Boden, der im Kern nichts anderes ist als eine Abrissbirnenpolitik von politischer Handlungsfähigkeit. Das Ergebnis: Wirtschaftslobbyisten schreiben unsere Gesetze, globalisierte Konzerne verabschieden sich aus unseren Steuersystemen, außerstaatliche Gerichtssysteme werden etabliert, Nationen treten in Wettbewerb miteinander um die „beste Wirtschaftspolitik“ für die Interessen jenes Teils der Weltwirtschaft, der sich längst weitgehend aus nationalstaatlicher Steuerbarkeit verabschiedet hat. Das systemische Ergebnis: Politik hat sich inzwischen so weit selbst ausgehöhlt, dass alle unsere Systeme – Sicherheit, sozialer Zusammenhalt, gleiche Zukunftschancen, Frieden und sehr viel mehr – in existenziell bedrohliche Gestaltungsohnmacht geraten sind.

Mut zu einer Systempolitik für das 21. Jahrhundert

Die entscheidende Aufgabe im Jahr 2017 muss daher sein: die Neugestaltung politischer Handlungsfähigkeit durch beherzte Weiterentwicklung von Demokratie. Damit ist jedoch nicht eine Demokratie als Delegation der Macht an Autokraten gemeint. Gewählte Autokratien sind keine Demokratien mehr. Und Autokraten sind keine Demokraten, sondern Nationalegoisten oder sonstige Sondergruppenegoisten – und damit hochgradig systemgefährdend für alle längst durch und durch gesamtplanetarischen und gesamtmenschheitlichen Systeme. Die Zukunft kann nur in einer Politik der „Zukunft für alle“ liegen und in politischen Systemen, die gleichzeitig sowohl basisdemokratischer als auch globaldemokratischer werden. Eine mündige Gesellschaft gibt es nur mit mündiger Demokratie – auf allen Ebenen.

Wie kommen wir möglichst schnell, effektiv und essenziell dorthin? Indem wir systempolitisch wegweisende Vorschläge exemplarisch aufgreifen und diese zur Umsetzung bringen und, wenn nötig, dorthin treiben. Wenn dies bei einem offensichtlich not-wendigen Thema gelungen ist, kann dies mit weiteren systempolitisch guten Vorschlägen in weiteren zukunftsentscheidenden Themenfeldern fortgeführt werden und die Wiederherstellung systempolitischer Handlungsfähigkeit auf der Höhe heutiger Anforderungen gewinnt grundsätzlich Kontur.

Exemplarisches Musterprojekt: Globaler Mindestlohn

Ein konkreter Vorschlag, der geeignet ist im Sinne einer exemplarischen Initiative in Richtung handlungsfähiger Systempolitik, ist jener für einen Globalen Mindestlohn – nicht nur, weil er gleich ein ganzes Bündel an bisher sträflich vernachlässigten globalen Herausforderungen systemisch auf eine völlig neue Lösungsqualität bringt, sondern auch aus einem zweiten Grund: An diesem Vorschlag und dieser konkreten Initiative wirkte und wirke ich gemeinsam mit Georgios Zervas unmittelbar mit. So kann ich die fortlaufenden Erfahrungen auf dem Weg zur Durchsetzung dieses systempolitischen Konzepts transparent machen. Dies ist hiermit zugesagt.

Der Vorschlag in Kürze: Ein Globaler Mindestlohn soll von den Vereinten Nationen als Menschenrecht anerkannt werden. Parallel soll ein Prozess gestartet werden, einen Globalen Mindestlohn über die einschlägigen internationalen Organisationen zu etablieren. Da der Weg dorthin aber wohl nicht gerade wenig Zeit in Anspruch nehmen dürfte, erging gleichzeitig der Vorschlag an die Europäische Union, einen Globalen Mindestlohn in Höhe von einem Dollar pro Stunde zu einem Standard zu erheben, der von allen Produkten und Dienstleistungen, die in die EU eingeführt werden sollen, nach einer definierten Übergangszeit erfüllt werden muss. Der Effekt einer solchen EU-Verordnung wäre schon nahezu flächendeckend weltweit, da es sich Unternehmen nicht leisten können, den EU-Markt aufzugeben und da es für sie kaum lohnend und vertretbar wäre, mit zwei Lohnniveaus produzieren zu lassen. Da ein solcher Globaler Mindestlohn als weltweite Lohnuntergrenze in der vorgeschlagenen EU-Verordnung festgeschrieben wäre, hätte kein Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil, da diese Lohnuntergrenze alle Unternehmen einhalten müssten, wenn sie nach Europa exportieren wollten. Ausführlich ist dieser Vorschlag in dem Buch „Die 1-Dollar-Revolution“ beschrieben.

Erste Erfahrungswerte

Die Publikation dieses Vorschlags stieß schnell auf ein starkes positives Echo bei visionären Vordenkern. Franz Alt schrieb: „Die unerträgliche Ausbeutung kann endlich erfolgreich bekämpft werden.“ Und Ernst Ulrich von Weizsäcker meinte: „Wer da noch sagt, das sei ‚nicht bezahlbar’, ist ein schlimmer Schwindler.“ Eine Petition auf der change.org-Plattform mit der entsprechenden Aufforderung an die EU fand schnell 50.000 Unterstützer. Auch die erste spontane Reaktion des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Gerd Müller, war ausgesprochen positiv. Er meinte: „Genau solche Vorschläge brauchen wir dringend, denn nur systemische Lösungen helfen weiter.“

Daher brachte ich diesen Vorschlag unmittelbar in den Kreativworkshop jenes Team ein, das für sein Ministerium eine Denkschrift für sein ambitioniertes Projekts eines „Marshall Plans mit Afrika“ erarbeitete. Obwohl der Minister in diesem Kreativworkshop ausdrücklich verlangte, visionäre Vorschläge von systemischer Wirksamkeit einzubringen und aufzunehmen, wurde der Vorschlag eines Globalen Mindestlohns nicht aufgenommen. Die Schlussredakteure hatten Sorge, dass dieser Vorschlag als „unrealistisch“ eingestuft werden könnte. Sie beschränkten sich daher auf Vorschläge aus der längst bekannten entwicklungspolitischen Debatte. Der einzige Unterschied: Es wurde sehr viel mehr Geld verlangt für deren Umsetzung, konkret: 120 Milliarden Euro.

Genau daran spießt sich die erwartbare Fundamentalkritik an der vorgelegten Denkschrift auf: Mehr Geld kann nicht kompensieren, wenn nicht bessere Konzepte mit offensichtlich starker systemischer Wirkkraft aufgenommen und umgesetzt werden, meint beispielsweise Bartholomäus Grill im aktuellen „Spiegel“. Staatliche Entwicklungszusammenarbeit ist zwar keineswegs falsch, aber mit bekannten Beschränkungen behaftet: Auf Geberseite reduziert sich der budgetierte Entwicklungsförderbetrag durch teure, aber notwendige Berichts- und Kontrollmechanismen und auf Nehmerseite durch weitere Bürokratiekosten sowie durch weitere Schrumpfung der ankommenden Beträge dank der noch immer weit verbreiteten Korruption. Bei einem Globalen Mindestlohn kämen 100 Prozent an, und zwar direkt bei jenen, die dieses Geld am nötigsten brauchen. Also: bottom-up statt top-down und systemisch, weil die Löhne aller, die für die Märkte der reichen Länder derzeit noch als Sklavenlöhner arbeiten, auf ein menschenwürdiges Niveau angehoben würden.

Eine festgezurrte Lohnuntergrenze von einem Dollar pro Stunde läge um mehr als 100 Prozent höher als der jetzige Mindestlohn in den Billiglohnländern. Für weit mehr als eine Milliarde Menschen würde sich die Lebenssituation unmittelbar und drastisch verbessern. Mit einer derart radikal veränderten Lebensperspektive würden zahlreiche Fluchtgründe in den heutigen Armutsregionen wegfallen und die betroffenen Menschen könnten ihr Schicksal erstmals ernsthaft in die eigene Hand nehmen und selbst gestalten. Gleichzeitig würde sich der Preis für eine Jeans bei uns gerade einmal um weniger als 1 Prozent erhöhen. Effektiver, nachhaltiger und zugleich kostengünstiger geht Entwicklungshilfe nicht.

Eine systempolitische Initiative

Wenn der Minister schon auffordert zu wirklich systemischen Verbesserungen, sollte eine kritische Öffentlichkeit darauf bestehen, dass solche systempolitischen Vorschläge auch an ihn geliefert und von ihm umgesetzt werden.

Die vor wenigen Wochen in Berlin gestartete „Future for all Initiative“ hat sich zum Ziel gesetzt, derartige systemische Lösungen und systempolitische Vorschläge zu sammeln, weitere neue gemeinsam zu entwickeln und solche dann in eine breite öffentliche Diskussion zu bringen. Damit wir nach einem Jahr serienweiser symbolpolitischer Offenbarungseide endlich 2017 die überfällige Wende zu einer überfälligen Systempolitik und wirklichen systemischen Verbesserungen schaffen.

Weitere Infos:

Genisis Institut | MichaelFahrig | Peter SpiegelGütersloher VerlagshausPIPER VERLAG
Quelle

Peter Spiegel 2017GENISIS Institute 2017

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