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Rupert Neudeck: Großer Gott, wir loben dich? Großer Gott, wir handeln!

Was für ein Exot! Zyniker und Medienfreaks würden ihn einen „Gutmenschen“ schimpfen. Der Mann sagt doch tatsächlich: „Die Begegnung mit Gott geschieht in dem armen Schlucker, dem ich ein Nachtquartier in einer die ganzen Woche leerstehenden Kirche mache. Oder in dem großen schönen Bischofspalast in Limburg.“ Von Mathias Jung

Rupert Neudeck konstatiert das in seinem jüngsten Buch Radikal leben. Natürlich kennen wir den Dr. Dr. h. c. Rupert Neudeck alle. Er gründete, mit Unterstützung des Nobelpreisträgers Heinrich Böll, 1979 das Komitee Ein Schiff für Vietnam. Daraus entstand drei Jahre später die Hilfsorganisation Komitee Cap Anamur / Deutsche Notärzte e. V. Namensgeber war der Frachter Cap Anamur, die Rettungsplanke für die „boat people“. Neudeck: „Die schönste Tat hat meine deutsche Gesellschaft vollbracht, als sie 11.340 vietnamesische Bootsflüchtlinge gerettet hat. Wir werden am 9. August 2014 in Hamburg zusammen mit den Vietnamesen-Deutschen den fünfunddreißigsten Jahrestag ihrer Rettung feiern. Sie werden wieder ihre alte und auch die deutsche Nationalhymne singen.“

Im April 2003 wurde Neudeck zum Mitbegründer und Vorsitzenden des Internationalen Friedenkorps Grünhelme e. V. Man kann kaum aufzählen, was Rupert Neudeck, seine Frau Christel und ihre leidenschaftlichen Helfer aus dem Wohnzimmer seines Troisdorfer Reihenhaues heraus für die Hilfsbedürftigen in aller Welt getan haben. Neudeck selbst berichtet: „Zurzeit betreut Cap Anamur zahlreiche Projekte in elf Ländern rund um den Globus. Dazu zählen neben anderen auch die Sanierung des Krankenhaues im Kongo sowie die Betreuung einer Kinderklinik in Sierra Leona. Zudem betreiben wir z. B. ein Internat mit Ausbildungswerkstatt in Angola und schulen Frauen in Afghanistan im Beruf der Hebamme.

In Haiti bauen wir durch das Erdbeben zerstörte Schulen wieder auf. Auch in Pakistan engagieren wir uns im Wiederaufbau. Rund 35.000 „boat people“ wurden an Bord der Cap Anamur medizinisch versorgt.“ In fünfzig Ländern in Afrika, Asien aber auch Europa konnten durch die umfangreichen Spendengelder Hilfsprojekte verwirklicht werden. Der Israelfreund Rupert Neudeck engagierte sich aber auch  für die berechtigten Anliegen der durch den Mauerbau eingeschlossenen Palästinenser. Er unterstützt den geplanten Marathonlauf in einer der geschundensten und geschichtsträchtigsten Gegenden der Welt: an der Küste des Gaza-Streifens. „Aber wann werde ich die Gelegenheit dazu haben?“, fragt er und hofft doch zugleich: „Wann wird Israel so vernünftig sein zu begreifen, dass es unendlich viele Freunde in der Welt hat, die sich für das kleine Land begeistern?“ Neudeck will sich selbst einsetzen: „Eine Strecke von 42 Kilometern bin ich noch nie gelaufen. Doch für die Freiheit der Palästinenser und für die Gründung des Staates Palästina neben einem Staat Israel muss es doch möglich sein, diesen Lauf zu machen.“

Christlicher Humanist

Doch warum will der langjährige Rundfunkjournalist Neudeck Asylanten im Bischofspalast des unseligen Tebartz-van Elst, des „Protzbischofs“, unterbringen? Man muss wissen, Neudeck studierte katholische Theologie und Philosophie. Er war sogar kurzfristig Mitglied der Societas Jesu, des Jesuitenordens. Promoviert wurde Neudeck mit der Dissertation Politische Ethik bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Er stellt also die Synthese eines christlichen und säkularen Humanisten dar. Religion ist für ihn tätige Menschenliebe: „Es reicht nicht, mit voller Inbrunst am Sonntag zu schmettern ›GROßER GOTT WIR LOBEN DICH‹ und dann zu meinen, man habe den Willen des Vaters im Himmel erfüllt. Das ist falsch. Man erfüllt diesen Willen nur, indem man realistisch und praktisch diese Arbeit in den Kirchen verteilt.“

Neudecks utopisches Projekt ist atemberaubend. Neudeck kritisiert, dass die meisten Kirchen wochentags geschlossen sind. Sie sind sozusagen, wie der Philosoph Nietzsche es nannte, „Sarkophage Gottes“. Das bringt unsern Mann aus Troisdorf auf eine revolutionäre Idee: „Die kleinen Herden, zu denen die Gemeinden geschrumpft sind, werden künftig den Gottesdienst auch woanders einrichten. Er wird in Wohnhäusern stattfinden mit Diakonen, auch verheirateten Diakonen, mit Priestern, die auch verheiratet sind, und solchen, die das nicht sind. Sie werden den Gottesdienst immer so abschließen, dass die Gemeinde – zumal, wenn der Gottesdienst noch an einem Sonntag stattfindet –, immer hinterher etwas Zusätzliches, das konkrete Non plus ultra tut, um eine Suppenküche für Asylbewerber oder einen Unterricht für Kinder aus einem Obdachlosengebiet anzubieten. Oder mit Behinderten auf den Drachenfels in Königswinter gehen oder die nächste Aktion mit einem LKW nach Lampedusa oder Malta machen. Vielleicht brauchen wir demnächst keine Kirchen als Gebäude mehr, weil wir, die Kerngemeinde, sich irgendwo anders trifft und dabei den Gottesdienst in einem Wohnraum oder einer Schulklasse macht.“

Panzer gegen Minen

Hilfe ist immer konkret und muss schnell erfolgen. „Bis dat qui cito dat, zwei Mal gibt, wer schnell gibt“, sagten schon die Römer. Neudeck: „Es geht nicht nur oder in erster Linie darum, die Bedingungen der Möglichkeit der Hilfestellung zu analysieren, sondern es ist die sofortige Hilfestellung und Pflege des Menschen gefordert, der da zwischen Aleppo und dem Tal Refaat unter die Räuber gefallen ist.“ Und: „Darin wird die solidarische Grundlage aller, von Gläubigen und Ungläubigen, deutlich, von Christen und Laizisten, von Muslimen und Säkularen, die alle nicht in einer Kirche leben, sondern in der konkreten Lage der Pest (der sozialen oder kriegerischen Not – M. J.), in der sie aufgerufen sind, etwas für ihresgleichen, für das Leben der Mitmenschen zu tun.“

In der losen Textsammlung, in Anekdoten, Reflexionen und Maximen dieses mutigen Buches gibt der Autor Beispiele für seine Forderung nach positiver Radikalität. Er definiert sie so: „Nein, radikales Leben, das ist das, was der neue Papst uns aufgibt: Wir sollten unbedingt protestieren. Wir sollten uns bei dem, was vorherrscht, nicht beruhigen. Immer da, wo die Menschen sagen: Das geht aber doch nicht, da müssen wir uns fragen: Warum denn nicht?“ Nun hat er sich 1994 gegen die berüchtigte Waffenschmiede Dynamit Nobel in Troisdorf angelegt. Er gewann nicht nur den Prozess in zwei Instanzen gegen die berüchtigte Firma, welche Minen für den weltweiten Export herstellte, sondern er ging den „Teufelsdingern“, wie der damalige Außenminister Klaus Kinkel die Mordinstrumente bezeichnete, direkt an den Leib. Er und seine Helfer schmiedeten sozusagen die Schwerter zu Flugscharen um. Sie erbaten kurzerhand vom Verteidigungsministerium Panzer, Kranpanzer, Kettenfahrzeuge, Panzerwerkstattwagen, Stromaggregate, LKWs mit Minenräumgerät, Tankwagen, Zugfahrzeuge für Tieflader, Elektroaggregate, Funkgeräte, Gabelstapler, Jeeps, Batterie-Ladegeräte, Minenräumschutz-Anzüge, Schutzhelme, einhundertzwanzig Zelte, einhundert Feldbetten, achthundert Decken und noch vieles mehr, um die Landminen professionell zu zerstören und Menschen zu evakuieren. Sie bekamen alles. Neudeck: „Diese Zeit war die größte visionäre Zeit für uns, eine biblisch visionäre: Wir hatten wirklich vor, möglichst viele Panzer in Minenräumgeräte umzuwandeln. Diese Vision wurde Wirklichkeit. Wir haben drei ganze Jahre in Angola gearbeitet, um tödliche Waffen als Flugscharen zum Minenräumen zu gebrauchen. Das war eine totale Umkehrung des Gebrauchszwecks. Waffen wurden zu Anti-Waffen.“

Zur See

Was heute so unersetzlich wichtig wäre für die zehntausenden afrikanischen Flüchtlinge, die unter Lebensgefahr von Schleusern an die Küsten Lampedusas und Maltas verfrachtet werden und vielfach den Tod finden, hat die Cap Anamur-Aktion seit 1979 und in den Folgejahren im südchinesischen Meer vorbildlich und unbeirrt von allen bürokratischen Schikanen praktiziert. Neudeck ließ sich nicht entmutigen von so genannten Experten und „Seerechtreferenten“: „Damals wurde mir blitzartig und radikal klar: Wer auf dieser Welt, aus welchen Motiven auch immer, etwas für die Menschen, vielleicht sogar etwas Großes tun wolle, der darf sich nicht von Zuständigen abhalten lassen. Sonst kann er sein Unternehmen gleich drangeben … Jedenfalls muss die humanitäre Aktion immer bereit sein, an den Zuständigen vorbei zu gehen und schnurstracks das Ziel der Lebensrettung anzupacken.“

Der Rebell Neudeck ist jedoch kein Anarchist, der blind um sich schlägt. Er weiß sehr wohl aus eigener Erfahrung, zwischen hilfsbereiten Realpolitikern und bloßen Schwätzern zu unterscheiden. Er betreibt keine kleinbürgerliche pauschale Kritik gegen „die da oben“. Ausdrücklich erwähnt er die Hilfe von Politikern wie Kinkel, Schäuble, Angela Merkel, dem NRW-Innenminister Herbert Schnoor, Norbert Blüm oder Wolfgang Thierse. Das ist nicht unwichtig. Denn es zeigt uns, dass wir, wenn wir gehörig Druck machen, „die da oben“ tatsächlich in Bewegung setzen können. Wer hätte je gedacht, dass ein so aberwitzig erscheinendes Projekt wie die Rettungsfahrten der Cap Anamur ins Werk gesetzt und jahrelang finanziert werden könnten!

Ähnlich „radikal“ argumentiert der Humanist Robert Neudeck in Sachen der afrikanischen Flüchtlinge. Wir können von diesem Ansturm weder wegsehen noch es polizeilich lösen. Neudeck: „In diesen Tagen könnte bei Nacht und Nebel ein großer Seelenverkäufer mit ca. 13.000 Migranten aus Dakar und Bamako, Accra, Lagos und Nouadhibou in Hamburg anlegen, und das Geschrei wäre groß. Es hat keinen Sinn, jetzt eine Vogel-Strauß-Politik zu beginnen. Der Marsch hat schon begonnen. Es kann mal der eine oder andere Zugang gesperrt sein, aber eine große Zahl dieser Menschen wird es zu uns nach Europa schaffen.“ Er plädiert für eine ganz große „Partnerschaftsaktion“, in der die Asylanten in Deutschland Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten, menschenwürdige Wohnungen und soziale Kontakte mit deutschen Bürgern und karitativen Organisationen erhalten. Neudeck wehrt sich gegen die Klischee-Vorstellungen „von den wilden, ungebildeten, geschichtslosen und primitiven Afrikanern. Den Negern, wie man früher sagte und den man sich in die Kirche stellte als so genannten Nick-Neger, der dafür danken sollte, dass da wieder was zusammenkam..“ Vielfach bildeten die vorkolonialen Afrikaner „eine Gesellschaft auf hohem Niveau mit ausdifferenzieren moralischen Codices, Traditionen, Glaubensriten, mit Initiations- und Hochzeitsriten.“

Rupert Neudeck informiert als progressiver Christ, der zu Gebet und Gottesdienst auffordert, aber kein Frömmler ist. Er ist ein Ökumeniker im weitesten Sinne, ein „militanter“ Idealist, der Religiöse und Atheisten, Muslime und Christen in der Tat vereinigt sehen will. Wir dürfen nicht aufhören zu widerstehen, fordert er und deutet das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter in einer so aktuellen Weise, dass es einen Eugen Drewermann freuen würde.

Der UN-Beamte, der Blauhelm, der barmherzige Samariter

Rupert Neudeck: „Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho, dann von Aleppo nach Tal Refaat, dann von Grozny nach Tiflis, dann von Malina Arcachon, von Bamako nach Timbuktu und fiel unter die Räuber. Sie zogen ihn aus, schlugen ihn wund und ließen ihn halb tot liegen. Zufällig zog ein UN-Beamter des Weges, sah ihn und ging vorüber: Nicht mein Mandat. Ebenso kam ein Blauhelm vorbei, erkannte, dass seine Richtlinien ihm nicht befahlen zu helfen, und ging vorüber. Ein Samariter aber hatte, als er ihn erblickte, Mitleid mit ihm. Er trat hinzu, versorgte seine Wunden, hob ihn auf sein Reittier und führt ihn in eine Herberge.

Am anderen Tag nahm er einige Syrische Lira (oder Rubel oder Euro oder Dollar) gab sie dem Wirt und sprach: ›Sorge für ihn, und so du etwas darüber hinaus verwendest, will ich bei meinem Wiederkommen bezahlen.‹ Wer von den Dreien war also dem, der unter die Räuber gefallen war, der nächste? Antwort: ›Der, der ihm geholfen hat‹.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Quelle

Mathias Jung 2014

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