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Bastei Lübbe (Quadriga)

© Bastei Lübbe (Quadriga)

Michail Gorbatschow „Das neue Russland“

Die Tragödie eines Großen Politikers, der in seinem Land nichts gilt: Gorbatschow. Von Rupert Neudeck

Es ist das Buch eines tragischen Politikers und Menschen, denn es behandelt kaum das, was im Titel angesagt wird. Es geht auf quälend hundert Seiten um Gorbatschows Zeit des Abgehalftertwerdens von Jelzin. Es geht um die unwürdige Art, wie er als Störfaktor in Russland von Jelzin behandelt wurde, was bis zu einer Ausreisesperre ging. Es geht um die lange Zeit danach, in der er vielleicht international, aber nie national eine wirkliche Rolle spielt.

Das ganze Buch lebt von der Tragik eines Menschen, der mal ein ganz großer Weltpolitiker war und ein Russland und Sowjetunionpräsident dazu, der aber in seinem eigenen Volk nicht annähernd die Anerkennung gefunden hat, die er – wir als Deutsche zumindest sagen würden – verdient hat.

Es ist deshalb auch nicht der Rückblick wie eine vergleichbaren alten ex-Staatsmannes vom Schlage Helmut Schmidt, der sich ja bis zu seinem Tode im November 2015 in der wohltuenden allgemeinen Bewunderung und Zustimmung seines Volkes sonnen konnte. Nichts davon bei Michail Gorbatschow. Deshalb weiß man auch nicht genau, was jetzt der Antrieb war, dieses neuerliche Buch zu schreiben, das ihn ja eben auf unzähligen Reisen zeigt, auf Sitzungen seiner Stiftung und in Ermangelung von eigenem Zutun in der Gesellschaft in vielen Interviews zeigt, die seitenlang nur kopiert und abgedruckt werden. Als sich Gorbatschow wirklich in einer ganz schwierigen Situation unter dem fast rachsüchtigen Boris Jelzin befindet, als Jelzin mit seinem unsäglichen Ukas Nr. 1400 über die „Beendigung der Vollmachten der Volksdeputierten-Kongresse und des Obersten Sowjets“ das Parlament zu eigenen Gunsten den Präsidenten abschaffen möchte, muss Gorbatschow konstatieren, dass die westlichen Staats-Männer nicht auf seiner Seite sind. Sie unterstützen Jelzin bedingungslos. „Sie taten das, weil sie die Lage nicht überschauten“. Das Wichtigste, was Jelzin tun musste, war: Er durfte nicht „als Vertreter einer politischen Gruppe auftreten, sondern als Führungsfigur der Nation. Das war damals seine letzte Chance. Er hat sie nicht genutzt“.

Es gab ganze Verleumdungskonvolute, die Gorbatschow nach seiner wertvollen Zeit als Generalsekretär der KPdSU und der ersten Präsidentschaft in der sich auflösenden Sowjetunion hinnehmen musste. Er weigerte sich manchmal, spürte aber, dass die Gerichte in Rußland fest in der Hand der Mächtigen sind.

Man hätte dem großen Staatsmann wirklich eine Biographie gewünscht, die anders ist und nicht von so viel eingestandener und uneingestandener Bitterkeit erfüllt und durchzogen ist. So wirkt das Ganze wie ein Versuch, die eigene  politische Bedeutungslosigkeit im eigenen Land mit der weitergehenden Begeisterung bei seinen Auftritten in der westeuropäischen und US-Amerikanischen Welt zu kompensieren. Das ganze Buch ist eine Kompensation des zu Unrecht (nach Meinung des Autors und auch des Lesers) verfemten Autors. Da hat dann Weltpolitisches neben Kleinkariertem seinen Platz. Während er im Kölner Dom auf Einladung der Stadt Köln den 750. Jahrestag des Baubeginns feiern will, ist er schon früher in dem Dom und setzte sich in die Vordere Reihe, er sieht einige Sozialdemokraten, wie Johannes Rau. Sein Freund Helmut Kohl kommt später, war offenbar über seine Anwesenheit nicht informiert und hält ihm eine Standpauke: „Michail, wenn du nach Deutschland kommst, dann gib mir zumindest Bescheid, damit wir ein Treffen ausmachen können“.

Es geht um die Europäische Union und Russland und ob nicht beide einmal Mitglieder der EU werden können? Da hüpfte Kohl mit seinem Gewicht aus seinem Sessel und sagte: „Das wird nicht geschehen, den es kann nicht geschehen, niemals!“

Es fehlt andauernd die zeitgeschichtliche Dimension in dem, was sich unter den Augen von Gorbatschow entfaltet. An keiner Stelle ist der Gulag Thema, Aufarbeitung noch in weiter Ferne. Wenn es um die Tschetschenien und den Tschetschenienkrieg geht, keine Erwähnung, was dieses Volk durch die Deportation nach Sibirien wegen angeblicher Kollaboration mit dem deutschen Feind gelitten hat. Und auch vorher schon. Das Einzige, was uns vor unserer Arbeit in Tschetschenien von Lew Kopelew, dem leider zu früh gestorbenen Dissidenten aus Russland, empfohlen wurde als Vorbereitung war die unglaublich einfühlsame Erzählung „Hadji Murad“ von Leo Tolstoi. Man stellt sich immer wieder vor, dass das ja der russischen Gesellschaft noch bevorsteht. Im letzten Teil geht es um die Ratschläge, die Gorbatschow der Welt nach dem Fall der Mauer gibt. Die meisten kann man sehr gut finden und begrüßen. Wenn er in Fulton, an dem Ort, an dem Winston Churchill seine berühmte Rede über den Eisernen Vorhang gehalten hat, erklärte: „Die Schlussfolgerung, dass eine militärische Aggression durch die Sowjetunion wahrscheinlich sei, war unhaltbar und gefährlich, Denn eine solche Aggression war ausgeschlossen“

Gorbatschow ist in der Lage, die USA als ein großes vielseitiges Land zu sehen. „Ich sah ein Amerika, das nicht selbstgefällig ist, nicht arrogant und selbstsicher auf die Welt um sich herumblickt, sondern ein Amerika, das nachdenkt, analysiert“. Aber es wird uns über dieses Buch auch klar, dass der Alleinanspruch auf die beherrschende Weltmacht der USA der ganzen Welt, und damit auch Moskau gehörig auf die Nerven gehen kann. Amerika will Anführer sein, „ein alleiniger, monopolistischer“-

Nostalgisch und auch tragisch nachzulesen, wie gut dem Gorbatschow und seiner Frau Raissa die Begeisterungsstürme, Ovationen, Gorbi-Rufe taten, die ihnen auf allen Plätzen Westeuropas entgegengebracht wurden und die alle nicht organisiert werden mussten. Diese Stimmung erreichte Ihren Höhepunkt in Deutschland. Die beiden Gorbatschows reisten von Bonn nach München. „Am Flughafen erwarteten uns Hunderte von Menschen, nur um uns die Hand zu schütteln oder uns ein kleines Souvenir zu schenken“. Sie werden vom Bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl empfangen. Schon auf dem Wege ins Aquarium „von den Dächern und Fenster wurden die Gäste begrüßt, mit wehenden Fahnen. Dann geht es vom Rathaus zum Marienplatz, wo Gorbatschow eine kleine Rede mit einigen deutschen Worten hält: „Liebe Münchener!“ Sie fuhren nach Neuschwanstein, dachten an eine Atempause. Aber der Hubschrauber, der sie nach Neuschwanstein bringen sollte, landete, so schien es dem russischen Gast, an einem verborgenen Ort. „Doch schon ein paar Minuten später tauchten wie aus dem Nichts Dutzende, dann Hunderte von Menschen auf, skandierten das uns schon vom Vortag vertraute ‚Gorbi‘“. Wie schwer muss es dem einst wegweisenden Weltpolitiker geworden sein, das immer nur im westlich-europäischen Ausland, nie in seiner Heimat zu erleben.

Das Buch ist auch deshalb so dick, weil der Autor Gorbatschow seinem Publikum klar sagen, auch zeigen will, wie groß und übermächtig sein Bild war im Westen. In Hamburg gibt es ein Konzert mit Nina Hagen, Wolf Biermann, man sang das „Lied von Gorbi“, das der große Perestroika Held noch nicht kannte. Es ist ein schönes Lied, aber es muss dem Angesungenen Gorbatschow auch schwer gefallen sein, diese überbordende enthusiastische Verehrung mit der Kahlheit und Leere der Russischen Welt zu vergleichen.

„Michail Gorbatschow / Überall in Ost und West/
haste Freunde, doch auch Feinde/ Und die wünschen Dir die Pest/
Michail Gorbatschow/ Aber ich, ich wünsch Dir Glück/
Dass de weiter Deinen Weg machst/ Ohne Kugel ins Jenick“.

So ist Gorbatschow im dritten Teil seines Buches bei der Frage, wie es mit der Demokratie in Putins Reich aussehe, sehr milde, um nicht zu sagen, geradezu neutral. Das Äußerste an Aufbäumen gibt es im Zusammenhang mit der Justiz. „Ohne gerechte, unparteiische Gerichte, kann es keinen Rechtsstaat geben.“ Dieses Ziel, das sich seine Regierung in den Jahren der Perestojka schon gesetzt hatte, sei noch lange nicht erreicht. Mehr noch: „in diesem Bereich sei es in den letzten Jahren zu ganz großen Unregelmäßigkeiten gekommen.“ Die Glaubwürdigkeit der Gerichte sei zerstört. Es wird gewiss schwierig sein, sie wiederherzustellen. Die Demokratie kommt als zweites, wie Ralf  Dahrendorf gesagt hat: Erst muss es die Herrschaft des Rechts geben. Dann kann sich auch eine gedeihliche Demokratie entfalten.

Man weiß auch nicht, wie das Buch entstanden ist, ob es eine Kollektiv-Redaktion aus seiner Stiftung war, oder eine Art Ghostwriter, der das mit ihm zusammen komponiert hat. Es wirkt manches so zufällig. Statt eine Epoche zu beschreiben, die er ja nun als zumindest Zeitzeuge miterlebt hat, werden ellenlange Interviews, Artikel und Reden einkopiert, die den Lesefluss immer unangenehm unterbrechen. Sie sollen gewiss einen Teil der Bedeutsamkeit, die Gorbatschow im eigenen Land eben nicht mehr hat, für ihn zurückholen. Das gelingt aber auf diese Art nur bedingt, trägt nur zur größeren Dicke des Buches bei. Richtig Persönliches, wie man das in Autobiographien ja erwartet, findet sich in dem Buch ganz selten. Ganz selten stößt Gorbatschow zu einem persönlich-kritischen Verhältnis zu seiner Partei und Studienkarriere in der dunklen Zeit der SU vor. Er berichtet von Gesprächen, die er bis zum Tod des Weggefährten 1997 mit Zdenek Mlynar geführt hat, einem der Architekten neben Alexander Dubcek des Urbilds und der Hoffnung des „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“. Sie hatten sich zu Studienzeiten kennengelernt, studierten beide an der juristischen Fakultät der Lomonossow-Universität in Moskau. Man saß auch abends im Studentenwohnheim zusammen und diskutierte leidenschaftlich über die Themen, die vor allem die Jugend interessierte. Ein Thema ihrer Gespräche sei das Schicksal des Sozialismus gewesen, die Zukunft der sozialistischen Idee.

Und dann kommt eine Wendung, die annähernd persönlich ausfällt: „Ebenso wie Mlynar brauchte ich Zeit, um das dogmatische Verständnis des Sozialismus, das uns schon zu Studienzeiten eingetrichtert worden war (und das unter den Bedingungen einer geschlossenen Gesellschaft) Schritt für Schritt zu überwinden.“ Im Zusammenhang mit dem Tod von Alexander Solschenizyn kommt es dann zu einem überraschenden Hinweis auf den Zuwachs, den es in der Großfamilie gegeben hatte. „Meine Enkelin Xenja brachte eine gesunde Tochter zur Welt. Meine erste Urenkelin Alexandra, mit Kosenname Sascha, wog bei der Geburt 3900 Gramm und war 52 Zentimeter groß“. Xenja schickte ihm ein Foto auf sein Handy. Wie selten solche ganz winzigen Erinnerungen in diesem Buch. Das kleine Mädchen sah seiner Mutter sehr ähnlich, schreibt er an dieser schönen Stelle weiter. Xenia hatte schwarze Augenbrauen – das Baby ebenso. Unvermittelt – das Buch hat eben wenig wirkliche Szenen – kommt die Korrespondentin der „Komsomolskaja Pravda“ auf ihn zu, Olga Wadyschewa, und fragt ihn, ob er wisse, was die Buddhisten glauben? „Wer die eigenen Urenkel erlebt, kommt direkt ins Paradies“. Gorbatschow frech: Was soll ich im Paradies? Er sei es gewohnt zu arbeiten.

Man spürt, dass er natürlich nicht alles gut findet, was sich im neuen Empire von Wladimir Putin abspielt, aber seine Kritik hält sich sprach- und inhaltlich immer an Grenzen, die eine wirklich klares Urteil nicht zulassen. Der Architekt der Perestrojka erklärt zur Parlamentswahl 2003, dass es wieder viele Hinweise gab, dass bei der Wahl die bekannten ‚Technologien‘ zur Sicherstellung der Wahlbeteiligung und zum Zählen der Stimmen angewandt worden waren. „Ich bekam immer mehr den Eindruck, dass die Machthabenden dabei waren, ein unterwürfiges, inhaltsleeres Programm zu schaffen“. Das ist natürlich eine vernichtende Kritik. Aber es wirken die 150 Seiten über die Ära so wie in der berühmten römischen Senatsrede: Doch Putin ist ein ehrenwerter Mann. Gorbatschow hält ihm zugute, wie schwer er es gehabt hat, ein wie schweres Erbe, das Chaos Erbe, er angetreten hat, und er traut ihm jedenfalls immer wieder alles zu. Er wird auch von Putin immer wieder mal zu einem Gespräch empfangen. Nach Beslan, der Tragödie der Geiselnahme durch tschetschenische Terroristen von über tausende Menschen am 1. September 2004 befahl Putin den Sturm auf die Schule in Beslan, es kam zu einer – wie Gorbatschow sagt: „großen Tragödie“: 234 Menschen starben, darunter 186 Kinder. Das Stärkste an Kritik an solchen und ähnlichen Aktionen des Wladimir Putin, findet sich im Anschluss an diese berichtete Geschichte: „Bei mir stießen diese Aktionen auf BEFREMDEN.“ Er erklärt was er damals dachte durch zwei Seiten Zitate eines Artikels in der „Moskowskije Nowosti“. So geht das in dem ganzen Buch. Es ist eigentlich eher eine Zusammenstellung von langen Interviews und Briefen, Artikeln und Reden, verbunden durch einen verbindenden Text.

Das Ganze mindert nicht die überragende Rolle, die dieser Politiker Michail Gorbatschow beim Fall der Mauer und der Beendigung des Kalten Krieges mit überzeugender Souveränität und Mut ausgefüllt hat. Das was er in den Schlusskapiteln zu seiner Sorge über Wiederaufrüstung und das sich Gewöhnen an kleine und größere kriegerische Konflikte sagt, verdient unser aller größte Aufmerksamkeit.

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Quelle

Rupert Neudeck 2015Grünhelme 2015

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