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pixabay.com | AlexAntropov86

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Nagasaki: Der Mythos der entscheidenden Bombe

Die zweite Atombombe – Warum sie noch weniger wichtig war denn die erste! Erstveröffentlichung von Rupert Neudeck am 09. August 2015

„Die Haare, die Haut, alles an den Toten war verbrannt Ihre Augen hingen ihnen aus den Augenhöhlen. Die Lippen waren nach oben und unten gestülpt, sogar die Zähne nach außen gebogen. Ihre ganzen Körper, die Bäuche waren aufgebläht und fast doppelt so groß wie zuvor“. So sagt es einer, der die Katastrophe als sechsjähriger am 9. August überlebt hat, Michiaki Ikeda, der in den Trümmern des Universitätskrankenhauses die krachende Feuersbrunst hörte. Als er erkannte, dass die Flammen auf ihn zurasten, wusste er, dass er fliehen muss. Er rannte zu einem Teil des zerstörten Gebäudes. Alles war von Glassplittern übersät.

„Vor der Wand krümmte sich eine Krankenschwester am Boden, die von Blut überströmt war. Ich ging auf sie zu. Sie sagte nur: ‚Ruf die Feierwehr!‘“ Eine andere, die der deutsche Korrespondent Klaus Scherer in den Jahren seines Tokio Aufenthaltes sprach, war Sakue Shimnohira mit ihrer jüngeren Schwester. Der Bunker war nach der Entwarnung der Luftabwehr schon fast wieder leer, aber die beiden Mädchen blieben im Bunker. Dann erst geschah das Unglaubliche durch die beiden Flugzeuge Bockstar und Great Artiste und durch den US-Elitesoldaten William Barney, der Abwurf der zweiten Atombombe auf Nagasaki.

Dass sie im Bunker blieben, hat ihnen das Leben gerettet. Denn in dem Moment, das Sakue das Baby auf den Boden legte, das bis dahin auf ihrem Rücken geschnürt war, blitzte es. „Obwohl wir tief im Bunker waren, wurde es plötzlich furchtbar hell. Das ist alles, was ich davon weiß. Und danach von draußen ein so heftiger Windstoß zu uns hereindrängte, dass der Druck uns gegen die Wand schleuderte und wir ohnmächtig wurden“. Alles war ein Alptraum. „Plötzlich kamen Menschen in den Raum gekrochen, die halb verkohlt waren und denen die Eingeweide aus offenen Wunden gingen. Sie baten ausgerechnet uns zwei kleine Kinder, ihnen zu helfen. Es waren viele es wurden immer mehr“. Wenn man später mal einen Text suchen sollte, der uns in unserer eigenen Sprache die Apokalypse beschreibt, dann sind es Stellen wie diese in dem Buch von Klaus Scherer.

Das Buch heißt nicht zufällig, sondern ausdrücklich Nagasaki. Es geht nämlich der Frage nach, die man in dem ganzen furchtbaren und bis heute nicht aufgearbeiteten Grauen der Verwüstung des ersten Abwurfs einer Atombombe über Hiroshima am 6. August 1945 vergisst: Warum musste es denn noch eine zweite Bombe geben, warum nach der Uran noch die Plutoniumbombe? Und stimmen die Begründungen für den Abwurf der einen wie der anderen Bombe?

Sie stimmen nicht. Die Bomben leisteten nicht das, was die US-Kriegsführung unter dem neu ernannten Präsidenten Harry S. Truman erwartete. Die Abwürfe beider Bomben waren nicht nötig im Sinne des Erreichens der bedingungslosen Kapitulation. Dass die japanische Politik und Kriegführung zwar immer noch von unbelehrbaren Hardlinern durchsetzt war, macht der Autor deutlich. Er war hintereinander fünf Jahre in Tokio. Damm in Washington in den USA als ARD-Fernsehkorrespondent stationiert. Er konnte damit diesen Fragen nachgehen.  Warum die eine Bombe auf Hiroshima und warum, zu allem Unglück – drei Tage später die zweite auf Nagasaki?

Dass er das Buch auch als Korrespondent des Fernsehens schreibt, wird an einer Stelle mit einem Lob für eine Cutterin deutlich. Dass es die US-Propagandisten mit dem historischen Ablauf nicht so genau nehmen, konnte man im Schneideraum des Norddeutschen Rundfunks erleben und feststellen. Der Cutterin fiel dort auf, dass in der Rückschau von 1946 die Bombardierung Hiroshimas mit jenem Atompilz bebildert war, der erst drei Tage später über Nagasaki aufstieg. Der Grund dafür, dass Bilder eben auch lügen können, war einer der Triftigkeit der Propaganda. Die Filmaufnahmen über Hiroshima waren verwackelt aufgenommen und die Rauchsäule erschien weniger symmetrisch. Scherer: „Die neue Wunderwaffe sollte den Amerikanern auch optisch, wenn nicht gar ästhetisch makellos in Erinnerung bleiben“.

Das Buch beschreibt die beiden Bomben in ihrer unauslöschlich grauenhaften Wirkung. Die Titelfrage des Buches wird dadurch noch bebender, warum es nach der ersten drei Tage später die zweite Bombe geben musste. Die erste war vorbereitet in den Tagen der Potsdamer Konferenz, als die Großen der Welt – eben Harry S. Truman, Josef Stalin und Winston S. Churchill sich im Schloß Cecilienhof trafen. Am 4. August versammelte Oberst Paul Tibbets seine Crew, man legte den Start für den 6. August fest. Der Name von Tibbets Mutter „Enola Gay“ wurde auf den Cockpit des Flugzeugs gepinselt. Dann um Mitternacht traf sich die Mannschaft zur Besprechung und zu einer Mahlzeit. Zu allem Unglück musste auch noch ein vermaledeiter Militärpfarrer seinen Segen geben: „Der Herr möge mit denen sein, die nun in seinen heiligen Himmel aufsteigen, um die Schlacht zu Amerikas Feinden zu tragen“. Um 08.15 Uhr warf die Crew die Bombe über Hiroshima ab. Truman erfuhr davon auf dem Kriegsschiff USS Augusta und „bebte“ vor Freude: „Das ist die größte von Menschen ausgelöste Zerstörung der Weltgeschichte“, jubelte er und begann Hände zu schütteln. Es gab eine Erklärung, die die Rache für Pearl Harbor in den Vordergrund stellte. Die Zerstörung der Stadt Hiroshima mit einer Bombe von der Sprengkraft von 20.000 t TNT habe bewirkt. Dass die Stadt vom Feind nicht mehr habe genutzt werden können. Am Ende eine Warnung: „Das Ultimatum von Potsdam war veröffentlicht worden, um das japanische Volk vor völliger Zerstörung zu bewegen. Ihre Führer wiesen es prompt zurück. Wenn sie unsere Bedingungen auch jetzt nicht akzeptieren, dürfen sie einen warmen Regen der Vernichtung erwarten, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat“.

Scherer geht durch diese Abschnitte der Kriegs-Ende-Geschichte immer wieder in Gesprächen mit einem Historiker, den er uns schätzen läßt, einem Japaner namens Hasegawa, der genau über die Kapriolen der verblendeten Japan Politik der Führung um den Kaiser wie auch um die Fallstricke der US-amerikanischen Politik Bescheid weiß. Man weiß aus den Schilderungen, dass der Jubel an Bord der Augusta hemmungslos war. Das würde späteren Darstellungen widersprechen, die uns sagen, dass die Entscheidung für die Bombe für den US-Präsidenten Truman schmerzlich gewesen sei. Allerdings habe damals Truman auch noch keine Informationen über das Ausmaß der Zerstörung erfahren. Hagesawa: „Es braucht sicher etwas Zeit, um die Sprengkraft der Bombe in 100.000 Tote zu übersetzen“. Man hatte manche Nachrichten auch noch etwas frisiert, so die Einwohnerzahl von Hiroshima mit 60.000 Einwohnern dem Präsidenten angegeben. Truman habe dann vorgerechnet, „dass es besser sei, 60.000 Japaner zu töten, als 250.000 Amerikaner fallen zu sehen“.

Aufschlussreich, so der japanische Historiker, dass Japan auf die Potsdamer Erklärung gar nicht geantwortet habe, auch das sog. Ultimatum das entscheidend komplementäre Moment nicht gekannt habe, die Frist. Es gab keine Frist. Am 2. August habe Truman noch ein Memorandum erhalten, wonach Japan über Schweizer Kontakte das Ultimatum als Dokument beschrieben habe, das „Auswege aus dem Krieg biete“. Die Potsdamer Alliierten wurden beschworen, die Radiomeldung nicht ernst zu nehmen, wonach Premierminister Suzuke die Kapitulationsforderung zurückgewiesen habe. Wenn Truman oder sein Außenminister Byrnes die Bomben wirklich vermeiden wollten, so fragt der Historiker Hagesawa: „Warum hat Truman dann zuvor die Signale aus Tokio nicht zum Anlaß genommen, um herauszufinden, ob Japan auf der Potsdamer Grundlage verhandeln würde?“

Die Reaktion auf den Abwurf der ersten Bombe mit einer Sprengwirkung von 20.000 Tonnen TNT konnte nicht verhindern, dass der Count Down für den Abwurf der zweiten auf Nagasaki schon lief. Bis heute sind die Folgen dieser unglaublichen Menschheitsgeschichte nicht annähernd aufgearbeitet. Diejenigen, die der Autor interviewt hat, sind als gestandene Männer dabei zu weinen, als sie sich erinnern. Ikedas Augen waren längst tränennass, als er von der Bombe auf Nagasaki erzählt. Dann hebe er die Arme, als taste sich ein Blinder voran: „Wie Geister irrten viele zwischen den Trümmern umher“. Die Hautfetzen hingen ihnen vom Körper. Der Autor versucht sich seinen Interviewpartner als Kind vorzustellen und fragt ihn, wann er an diesem Tag geweint habe. „Erst als ich meine Mutter wiedertraf. Als ich sie im Krankenhaus sah, konnte ich gar nicht mehr als zu weinen. Sie lag bäuchlings auf einem kaputten Bett und konnte sich kaum bewegen.in ihrem Rücken steckt unzählige Glassplitter“.

Der Autor hat in diesem bewegenden Buch, das die Friedensbewegung unbedingt zur Kenntnis nehmen sollte, lange mit dem US-Historiker Martin Sherwan und dem japanischen Forscher Akira Kimura von Friedensforschungsinstitut in Nagasaki immer wieder gesprochen. Für Sherwan sind die „Atombombenabwürfe ein Kriegsverbrechen. Wenn chemische und biologische Waffen gegen internationales Recht verstoßen, dann die Atomwaffen noch mehr, denn sie lassen Menschen zusätzlich zu den Todesopfern auf Jahre hin an der Verstrahlung entsetzlich leiden. Und Kimura wird vom Autor gefragt, was Hiroshima und Nagasaki der Welt heute lehren: „Ich glaube, dass die Entdeckung der Kernspaltung der Menschheit nicht geholfen hat“. Japan habe da s in Fukushima eben noch einmal erlebt. Der Wahn, die Atomspaltung dazu nutzen, habe zu Katastrophen geführt, die uns zeigen, dass es Dinge gibt, die uns überfordern.

Es sei dringend geboten, dass „sich die Welt von dem Mythos verabschiede, die Atombomben seien in irgendeiner Weise gerechtfertigt gewesen“. Das Buch enthält eine genaue Schilderung der letzten irrwitzigen Phase des zweiten Weltkriegs in Südostasien mit dem Entschluss Stalins, einzugreifen am 19. August 1945 und dem Verlangen der Sowjetführung, in Japan auch eine Besatzungszone zugewiesen zu bekommen. Weder der Bombenwerfer William Barney noch der damalige Kriegsminister Stimson haben von der Verklärung der Atombombe sich verabschiedet. Die Bomben hätten klargemacht, dass man nie mehr Krieg führen dürfe. Diese Lektion müssten die Menschheit und ihr Führer lernen. Der reuelose Kriegsminister hatte diese Erkenntnis nicht selbst befolgt, der die furchtbaren Folgen der Bombe in den Kindern wie Sakue Shimohira zu verantworten hat. Er hat diese Erkenntnis nicht nach dem Test in der Wüste befolgt, als ein Stahlturm verglühte, ja nicht einmal nach Hiroshima. Und vor Nagasaki“.

Der Mythos der entscheidenden Bombe und in einer großen ARD-Doku, die am 3.8. im Ersten ausgestrahlt wird, macht Scherer auch deutlich, was der eigentliche Zweck des Abwurfs war: Von Beginn an ging es darum, die neuen Bomben zu testen. Japan, militärisch längst geschlagen, lieferte dazu die Gelegenheit.

 

Hanser Verlag | Nagasaki: Der Mythos der entscheidenden Bombe
Quelle

Rupert Neudeck 2019 | Grünhelme 2019

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