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Suhrkamp Verlag

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Über das Meer: Mit Syrern auf der Flucht nach Europa

Ein neuer Markt und ein neuer globaler Beruf: Fluchthelfer. Und was dem Flüchtigen dabei alles geschehen kann bis zum Verlust seines Lebens. Von Rupert Neudeck

Das ist die bisher beste Darstellung des illegalen Fliehens von Menschen, die alles hergeben, um nur in persönlicher Sicherheit für sich selbst, ihre Familie und ihre Kinder zu leben. Die Schilderungen des ZEIT-Reporters Wolfgang Bauer lassen es nicht an atemberaubender Dramatik fehlen. Der Autor hat sich mit einem Fotografen selbst in größte Gefahr gebracht, das ist schon fast die Wallraff-Methode, den Flüchtlingen so nah zu sein, dass man Ihre Gefahren und Risiken mit auf sich nimmt. Sie wurden von der ägyptischen Polizei eingelocht, kamen aber auf Grund der Bemühungen der deutschen Botschaft dann zwar nicht gleich frei, wurden aber mit dem Privileg ausgezeichnet, gleich in die Türkei abgeschoben zu und in ein Flugzeug gesetzt zu werden.

Das Buch bestätigt, dass es gut ist Reporter wie Wolfgang Bauer und Fotografen wie Stanislav Krupar zu haben, denn kein Think Tank und keine Stiftung für Wissenschaft und Politik kann so etwas in der erschütternden Dichte und Detailtreue herausarbeiten wie der eigene Augenschein in einem Fluchtboot, mit Schleusern bei Verhandlungen, bei der Übergabe von Menschen an ein anderes Boot auf der Überfahrt.

Wolfgang Bauer und sein Fotograf werden am Ende der erzählten Geschichte noch einmal verhaftet, nämlich ausgerechnet auf dem Weg von Italien durch Österreich nach Deutschland. Alaa und Hussan machen eine wahnsinnige Reise über das Mittelmeer durch, bei der es andauernd an den Rand von Herzinfarkt oder Gewaltanwendung geht. Das Boot, das die Syrer mit sehr viel Geld besteigen können, soll sie eigentlich nach Italien bringen, aber es nimmt dann erst mal Kurs auf Griechenland, weil es da noch mehr Flüchtlinge aufnehmen soll, dann soll es nach Italien fahren, nimmt aber Kurs auf Bengazi und kommt gefährlich nah in die Nähe der libyschen Küste.

Nach einer Odyssee, die das Buch in dramatischen Details beschreibt, werden sie schließlich von der italienischen Marine gerettet. Ein Italienischer Marineoffizier sagt ihnen: „Ihr habt so großes Glück gehabt, dass ihr für den Rest eures Lebens nur noch ein Lächeln auf einem Gesicht tragen solltet“, denn die Italiener hätten am Vortag einen SOS Ruf erhalten. Ein Flüchtlingsboot sei in Seenot geraten und gekentert. Nur deshalb seien sie in dieser Gegend. Alaas Glück gründet sich auf das Unglück der anderen. Gestern habe er zwei Männer und eine Frau tot aus dem Wasser gezogen.

Der Reporter Wolfgang Bauer sitzt 2000 km entfernt, jenseits der Alpen, er hat gerade mal  nach der Haft in Ägypten und der Abschiebung in die Türkei Urlaub genommen. Das Telefon  klingelt bei ihm. Er nimmt den Hörer ab, da sagt ihm Alaa. „Wir sitzen auf einem italienischen Kriegsschiff. Neben mir ist Hussan. Du müsstest ihn sehen, er grinst von einem Ohr zum anderen“.

Dann kommt es in dem Buch zu einem Bekenntnis des Journalisten Bauer. Der Reporter wird nämlich plötzlich selbst zum Schmuggler und Schleuser, allerdings nicht bezahlt. Er begründet diesen Schritt geradezu feierlich: „Unsere Gesetze dienen dazu, die Menschen zu schützen und die Gesellschaft besser zu machen.“ Es käme aber vor, dass unsere Gesetze Menschen gefährden und die Gesellschaft schlechter machen. Soll man sich dann an diese Gesetze halten? Sie hätten dem Brüderpaar versprochen, dass sie ihnen helfen, wenn sie es schaffen sollten, nach Europas zu kommen. Und pathetisch und wahrhaftig geht es weiter im Text: „Wir wollten verhindern, dass sie íhr Leben abermals Kriminellen anvertrauen, verhindern, dass Alaa, Hussan und Maschar erneut ihr Leben riskieren. Wir verstoßen mit diesem Versprechen gegen geltendes Recht“. Wir werden Menschen ohne gültige Einreisepapiere, ohne gültiges Visum durch Europa transportieren. Mit Heldenmut habe das alles wenig zu tun, viel aber damit, den Respekt vor sich selbst nicht zu verlieren.

Das Buch beschreibt an diesem selbst erlebten Fall, wie ausgetüftelt diese verbrecherischen, aber auch Leben-rettenden (so widersprüchlich bleibt das) Schlepperbanden arbeiten, die auf dem Schleusermarkt Ägypten sich gegenseitig den Schneid und das große Geld ablaufen. Vier große Menschenschleuser teilen sich den ägyptischen Markt unter sich auf, erzählt Abu Hassan den Syrern und den zwei Reportern. Abu Hassan sei einer, dann gebe es noch den „Doktor“, den Hanafi und Abu Amed. Sie alle machen glänzende Gewinne und Geschäfte mit den Flüchtlingen. Abu Hassan habe 2013 allein 35 Schiffe nach Italien geschickt. Die Fahrt mit den drei Syrern und den beiden aus Deutschland soll die diesjährige Saison eröffnen. 30.000 Euro bezahlt Abu Hassan den Soldaten und dem Offizier der Küstenwache. Der Offizier erhalte die Hälfte, die Untergebenen den Rest. 100 Euro pro Passagier fordere die Küstenwache pauschal. Sie erhielten die Gelder erst, wenn der Transport es in internationale Gewässer geschafft habe.

Die Schmuggler, so erfährt Wolfgang Bauer, seien sich gegenseitig die größten Feinde. Sie machen sich den Markt kaputt. Vor zwei Tagen, so erfährt der Reporter es auf den Nelson Island in der Nähe der Küste bei Alexandrien, sei der Kapitän eines voll besetzten Schiffes zurück in den Hafen gefahren, weil konkurrierende Schmuggler ihn dafür bezahlt hätten. Der Verlust des einen sie der Gewinn des anderen. „Sie beschädigten den Ruf des Konkurrenten, um den eigenen zu polieren“. Die großen Vier würden sich jetzt auf einer Konferenz in Alexandria treffen und sich aussöhnen.

Dramatische Stunden erleben die Reporter bei der tagelangen Wartezeit in immer neuen engen Quartieren.  Der Autor gibt zwischendurch knappe Einschätzungen des Krieges in Syrien, den er als Reporter der Zeit immer wieder mitbekommen hat. Die beiden Fluchtgeschichten enden in Deutschland und in Schweden, Bauer nennt sie Elysium I und II. Die eine Gruppe um Hussan und Alaa macht mit den Reportern den Beginn der Fluchtreise über das Mittelmeer und bis zur Rettung durch die italienische Marine mit. Der andere Amar heißt plötzlich auf Grund einer guten Passfälschung Rani Kastier und ist Franzose. Er bekommt das Geld für einen Flug um ganz Afrika in die Türkei geschickt, besteigt eine Linienmaschine der Turkish Airlines nach Tansania. Dann soll er mit dem Bus nach Sambia und von dort aus ein Flugzeug nach Frankfurt nehmen. Soweit der Plan. Um in den Norden – in das gelobte Land Europa zu kommen, muss er siebentausend Kilometer in den tiefsten Süden. 

Zwischendurch ist die Angst immer groß, das Buch könnte auch einfach „Angst“ überschrieben sein. Die Flüchtlinge können sich manchmal in das Schlafmittel Xanax retten. Die beiden werden von Wolfgang Bauer in Italien abgeholt, als sie dort gelandet sind oder in Frankfurt, um mit der Flughafenpolizei zu sprechen. Er nimmt die drei Syrer, die von der Italienischen Marine gerettet wurden, über Österreich mit nach Deutschland. Bauer wurde in Österreich festgenommen als mutmaßlicher Schleuser. Aber er hatte bei der Österreichischen Fremdenpolizei natürlich nichts zu befürchten. Spannend für alle, die hierzulande mit Flüchtlingen zu tun haben, vielleicht sogar für Politiker. Die beiden Syrer kommen auf die Polizeidirektion Innsbruck. Ein arabischer Übersetzer wird angeheuert. „Was habt ihr dem Schmuggler gezahlt?“, wollen die Polizisten wissen. Die Syrer erzählen die Wahrheit. Nichts haben Sie Wolfgang Bauer gezahlt. Der Mitarbeiter der Polizei bietet an, sie alle drei nach Deutschland zu lassen, wenn Hussan den Schlepper, also Wolfgang Bauer belaste. Wenige Stunden später werden die Flüchtlinge auf den Brenner gefahren, müssen eine Strafe von 300 Euro für illegalen Grenzüberritt bezahlen. Die Österreicher nehmen die Fingerabdrücke, versichern, die Informationen nicht an die EURODAC zu übergeben, die zentrale Datenbank für Asylbewerber.

Auf dem Brenner werden die drei den italienischen Behörden übergeben. Dort gibt der italienische Beamte zwei Optionen. Sie können den Zug nach Österreich besteigen, er will ihnen sogar zwei Zugverbindungen heraussuchen, mit denen sie nach Deutschland ohne Personenkontrollen kommen. Er schreibt ihnen den Zettel und drückt Alaa das Papier in die Hand. Oder – sagte der Grenzschutzbeamte – sie nehmen den Zug nach Mailand. Die drei entscheiden sich für Mailand. Sie wollen traumatisiert durch die U-Haft in Österreich jetzt lieber nicht noch mal über die Berge, fahren erst zurück nach Mailand.

Wolfgang Bauer kennt die totale politische Ausweglosigkeit, in die die westlichen Regierungen sich manövriert haben. „Wir schicken (in Syrien) den Ausgebombten Zelte, lassen aber zu, dass Assad seine Bevölkerung weiter bombardiert“. Wir brechen die Beziehungen ab zu Damaskus, schicken aber den Geheimdienstchef dort wieder hin. Wir erkennen eine syrische Oppositionskoalition an, denen ein Büro in der Berliner Chausseestraße eingeräumt wird, aber lassen die Syrer am langen Arm verhungern. „Wir haben dem Sterben in Syrien zugesehen“. Wir sehen dem Sterben weiter zu.

„Ich habe gesehen, wie sich diese Demonstranten in Syrien selbst zu bewaffnen begannen. Wie aus dem friedlichen Aufstand ein blutiger Bürgerkrieg wurde. Ich habe gesehen, wie das Regime Kampfhubschrauber einzusetzen begann, wenig später Kampfjets, dann Boden-Boden-Raketen, die ganze Nachbarschaften in Trümmer legten“. Bauer verweist darauf, dass man nicht einmal eine Flugverbotszone durchsetze. Weil der Westen nicht half, breitet sich IS in der Region wie ein Wundbrand aus. Er konstatiert: „Wir dürfen nicht länger zusehen. Wir könnten ihren Tod verhindern, aber wir tun es nicht, weil es uns zu teuer ist, sie bei uns leben zu lassen“. Er verweist auf den großen Entschluss, damals 1995 350.000 Menschen aus Bosnien-Herzegowina nach Deutschland zu retten. „Ohne aufwendige Verfahren“. Sie alle kehrten nach fünf Jahren, bis auf 20.000 Härtefälle, nach Hause zurück.

Bauer kann sich nicht mehr im Zaum halten: Wie lange verraten wir uns selbst? Die Kriege in Nahost ändern auch uns Europäer. „Wir verrohen, schlecht und allmählich. Indem wir versuchen, uns zu schützen, zerstören wir uns selbst.“ Und ganz zum Schluss bringt er es in eine Forderung, von der man möchte, dass sie durch Deutschlands Bundes- und Länderparlamente nicht mehr endend hallen wird: „Zwingt die Frauen, Männer, Kinder nicht länger auf die BOOTE. Öffnet die Grenzen, jetzt. Habt Erbarmen“.

Der das verlangt, das Erbarmen, ist kein Priester der christlichen Kirchen oder ein Imam in der Moschee, es ist der Reporter der Wochenzeitung die ZEIT. Denn er kann es nicht mehr aushalten, zuzusehen beim Sterben. Er hat den Tod beinahe selbst am eigenen Leibe erlebt.

Quelle

Rupert Neudeck 2014 | Grünhelme 2014

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