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© ClipDealer.com | alphaspirit | Benjamin von Brackel und Toralf Staud liefern, was man über Kipppunkte wirklich wissen muss. Sie schildern die jahrzehntelange Erforschung der Kipppunkte, ihre möglichen Folgen und die Kontroversen der Fachwelt – eine der größten Detektivgeschichten unserer Zeit, deren Ausgang über nichts weniger entscheidet als über das Schicksal unserer Zivilisation.

Am Kipppunkt: Wo das Klima zu kollabieren droht – und wie wir uns noch retten können

Kipppunkte sind plötzliche Ereignisse, bei denen sich kontinuierliche Entwicklungen – zum Beispiel das langsame Ansteigen der irdischen Temperatur – in rasanter Geschwindigkeit in ganz neue, für die menschliche Zivilisation nicht mehr tragbare Klimazustände verwandeln können.

Solche seit vielen Jahrzehnten bekannten Kipppunkte im Klimasystem der Erde sind hochgefährlich – und näher, als viele glauben.

Doch Kipppunkte gibt es nicht nur im Klimasystem der Erde, sondern zum Beispiel auch im Bereich der Wirtschaft. Ein Beispiel ist die abrupte Ablösung der Pferdefuhrwerke als Transportmittel durch Autos, die in den USA kurz nach 1900 nur etwa ein Jahrzehnt dauerte und damals kaum jemand vorhergesehen hatte.

Benjamin von Brackel und Toralf Staud, zwei seit Jahrzehnten im Klimaschutz aktive Autoren und Spiegel-Bestseller-Autoren, haben dazu kürzlich ein neues Buch veröffentlicht: „Am Kipppunkt – Wo das Klima zu kollabieren droht – und wie wir uns noch retten können“, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Ein spannend geschriebenes Buch, das Hintergründe, historische und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse mit zahlreichen authentischen Erzählungen von Klimaforscher:innen und Klimaschutz-Aktivist:innen verbindet.

Negative Kipppunkte im Klimasystem der Erde

Solche abrupten und hochgefährlichen Veränderungen – zum Beispiel Temperatursprünge innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte – sind in der Klimaforschung eindeutig nachgewiesen.
Ähnliche plötzliche Veränderungen könnten bereits in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten eintreten – insbesondere, wenn der mangelnde Klimaschutz mit weiter steigenden Emissionen ungebremst fortgeführt wird.

Mögliche Kipppunkte mit gravierenden Folgen:

  •  Das plötzliche Abbrechen riesiger Gletscherareale in der Westantarktis, das einen raschen Meeresspiegelanstieg von einigen Dezimetern bis zu mehreren Metern auslösen kann.
  • Ähnliche Folgen – zwar weniger abrupt, aber dennoch verheerend – kann das beschleunigte Abschmelzen der Grönlandgletscher haben.
  • Plötzliche Veränderungen großer Meeresströmungen, insbesondere des Golfstroms. Dieser gilt als Warmwasserheizung für West- und Nordeuropa. Reißt er ab, kann es in Europa im Jahresmittel bis zu 4 °C kälter werden – mit einem Klima ähnlich dem heutigen in Nordkanada.
  • Plötzliche Veränderungen der großen zirkulären Luftströmungen, vor allem des bei uns das Wetter bestimmenden Jetstreams. Aktuell erleben wir ein stehendes Jetstream-Band von Irland bis nach Deutschland, das anhaltend Regen und Wolken bringt – der gefühlt ausgebliebene Sommer.
  • Zerstörung großflächiger Naturräume wie der Korallenriffe, des Amazonas-Regenwalds oder der borealen Wälder in den nördlichen Breiten, wie sie bei uns in Mittel- und Nordeuropa vorkommen.

Positive Kipppunkte beim Klimaschutz

Klimaschutz muss sehr schnell kommen: In wenigen Jahrzehnten muss es ein Ende aller Klimagasemissionen geben, gleichzeitig müssen große Mengen CO₂ aus der Atmosphäre entfernt werden. Das erfordert abrupte Veränderungen des heutigen fossilen und atomaren Wirtschaftssystems hin zu einer Solarwirtschaft.

Solche Kipppunkte beschreiben von Brackel und Staud in ihrem Buch ebenfalls:

  •  Die vollständige Ablösung der heutigen fossilen Energieversorgung auf Basis von Erdöl, Erdgas und Kohle durch Erneuerbare. Die Autoren gehen ausführlich auf die historische Entwicklung der Solarenergie ein, die zunächst durch Forschung und erste politische Unterstützung in den USA unter Jimmy Carter begann, dann aber durch das deutsche EEG massiv beschleunigt wurde und so zum weltweiten Durchbruch führte. Sie beschreiben auch meinen Beitrag, zusammen mit meinem früheren wissenschaftlichen Mitarbeiter und späteren Abteilungsleiter Energie im Bundeswirtschaftsministerium, Volker Oschmann – sowohl für das EEG als auch für den Ausbau der Solarenergie in China und weltweit.
  •  Die Elektromobilitätsrevolution: Norwegen wird als erstes Land mit offensiver Elektromobilität ausführlich vorgestellt. Heute wird dort fast kein Auto mit Verbrennungsmotor mehr gekauft. Auch China hat früh und konsequent auf E-Mobilität gesetzt, was der chinesischen Wirtschaft die Weltmarktführerschaft eingebracht hat und jetzt die europäische, japanische und US-Automobilindustrie stark unter Druck setzt.
  •  Die Fleischwende hin zu veganer Ernährung. Im Buch wird diese Entwicklung als noch sehr zäh beschrieben, vor allem in Deutschland. Dennoch zeigen sich bereits erste große Erfolge mit veganer Ernährung in verschiedenen Ländern, insbesondere Dänemark. Dies könnte auf einen kommenden positiven Kipppunkt hinweisen: die großflächige Verbreitung veganer Ernährung.

Auch ohne Kipppunkte steuert die Erdüberhitzung auf immer mehr Katastrophen zu, die aktuell ganze Länder erfassen

Sobald Kipppunkte ausgelöst werden, wird das Leben von mehreren hundert Millionen Menschen nicht mehr so sein wie heute – etwa wenn nach dem Zerbrechen großer Gletscher in der Westantarktis ganze Stadtgebiete wie Shanghai, Miami, New York, Mumbai oder Amsterdam großflächig unter den Meeresspiegel sinken.

Doch wir sollten uns nicht täuschen: Auch ohne dass Kipppunkte abrupt Klimaveränderungen verursachen, gibt es bereits heute Entwicklungen, die das Leben von Millionen Menschen bedrohen und sie zu Fluchtbewegungen zwingen.

Ein aktuelles Beispiel ist eine beispiellose Hitzewelle im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere im Iran, Irak, Kuwait, der Arabischen Halbinsel bis hinein in die Türkei. Dort wurden in den vergangenen Wochen teilweise seit Mai außergewöhnlich hohe Temperaturen von über 50 °C gemessen.

Zudem kommt häufig eine hohe Luftfeuchtigkeit hinzu, die die extrem hohen Temperaturen noch unerträglicher macht. Viele Hitzetote sind zu vermuten, auch wenn eine Berichterstattung darüber bisher fehlt.

Teheran leidet unter Hitze und Wassermangel

In solch schweren Hitzeperioden brauchen die betroffenen Menschen vor allem Trinkwasser. Doch genau dieses fehlt nun den Menschen im Iran, insbesondere in der Hauptstadt Teheran.

Nach monatelanger Dürre sind 80 % aller Trinkwasserstauseen fast leer. Es wird befürchtet, dass bei anhaltender Trockenheit die Trinkwasserspeicher im September komplett erschöpft sein werden. Stundenlange Wassersperrungen lassen die Menschen in Teheran bereits jetzt dürsten. Während der langen Stromausfälle, verursacht durch die Hitze, schalten viele Klimaanlagen, die nicht solarbetrieben sind, ab. Die Regierung hat bereits Ausgangssperren bis 17:00 Uhr verhängt und das öffentliche Leben weitgehend eingeschränkt. Doch was nützen Ausgangssperren, wenn die Menschen in völlig überhitzten Räumen ohne Trinkwasser ausharren müssen? Viele fliehen daher bereits aus Teheran in den Norden Irans zum Kaspischen Meer, weil das Leben in Teheran, aber auch in vielen anderen Regionen während solcher Hitzewellen nicht mehr ertragbar ist.

Die Auswirkungen der Hitze erscheinen weitaus schlimmer als die bereits fürchterlichen Bombenangriffe Israels und der USA vor einigen Wochen.

Auch in anderen Regionen, zum Beispiel in Spanien, werden Hitze und Dürren immer unerträglicher.
In einer Gemeinde auf Mallorca wird inzwischen so drastisch Wasser gespart, dass an drei Tagen in der Woche die Wasserversorgung komplett abgestellt wird.

Der Iran, Kuwait, Irak, die Arabischen Emirate, Saudi-Arabien und andere Ölstaaten erleben nun immer deutlicher, wohin ihr Ölreichtum und die zügellose Ausbeutung sowie Vermarktung der Erdöl- und Erdgaslagerstätten führen: Nach wenigen Jahrzehnten überbordenden Reichtums für die Ölscheichs geraten sie nun in unerträgliche und tödliche Hitze- und Dürreperioden, die die gesamte Bevölkerung betreffen.

Bislang ist mir kein politisches Umdenken der Ölscheich-Eliten in den Regierungen des Nahen und Mittleren Ostens bekannt. Ihre weiteren Erdöl- und Erdgasgeschäfte werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit immer mehr Klimagas-Emissionen zu noch schlimmeren Hitzewellen mit 55 oder gar 60 °C Spitzentemperaturen führen. Ein menschliches Leben wird dann für große Teile der Bevölkerung nicht mehr möglich sein – genauso wie in vielen anderen Weltregionen mit hohen Sommertemperaturen, von Indien über Arabien und Afrika bis hin zu den USA oder Mexiko. Wenn dann abrupt auch noch Klimakipppunkte eintreten, wird es auch in weiten Teilen anderer Weltregionen für die Menschen sehr ernst werden.

Es bleibt nur eines: Das schnelle Beenden aller Klimagasemissionen in wenigen Jahrzehnten und das Herausholen der Kohlenstoffmengen aus der Atmosphäre, die die Menschheit in den letzten hundert Jahren emittiert hat. Dafür aber braucht es noch viel mehr wirtschaftliche Kipppunkte für Klimaschutztechnologien und -wirtschaftsweisen, wie sie bei der Solar- und E-Mobilitätswirtschaft bereits global auf den Weg gebracht wurden.

Quelle

Hans-Josef Fell 2025 | Präsident der Energy Watch Group (EWG) und Autor des EEG

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