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1946: Das Jahr, in dem die Welt neu entstand

Das Jahr 1946, in dem wir Deutschen nicht wussten, ob die Welt weitergeht. Zu einem Band über 1946, das Jahr, in dem die Welt neu erstand. Von Rupert Neudeck

Das Buch kann uns ohne große Zeigefinger und Absichten von unserem immer noch tief in uns sitzenden Eurozentrismus heilen. Allein durch den Aufweis, an welchen Orten welcher Kontinente sich die herrschenden und großen Weltereignisse zugetragen haben. Da gibt es natürlich Europa, aber es gibt die Umstellung der Japaner auf einen Kaiser Hirohito, der nicht mehr göttlich, sondern menschlich ist und sich dazu bekennt und die Umstellung auf eine Friedenswirtschaft. Es gibt den Verlust der großen rotchinesischen Landmasse, die der US-Unterhändler und Vermittler immer noch gern im Auftrag seines Präsidenten dem Führer der Guomindang, der sog. Nationalchinesen, Chiang Kai-Shek zugeschlagen hatte.

Der aber setzte am 21. Oktober 1946 nach Taiwan oder Formosa über, zunächst wie er betonte, um das Inselland zu besuchen, weil er vorgab, die Rote Chinesische Armee unter Mao Tse Tung immer noch besiegen zu können, aber das war Illusion. George Marshall konnte nicht das tun, was die US-Diplomaten und Generäle so gern tun: verfügen und bestimmen. Deshalb gab er seine Mission in China auf, erklärte sie für gescheitert und verfluchte beiden Seiten. Bei seinem letzten Treffen vor seinem Rückzug nach Washington, am 07.01.1947 sagte er dem potentiellen verbündeten Chiang, er werde den Krieg verlieren. Der General blickte gleichmütig und sagte, nein, er werde in zehn Monaten den Sieg über Mao errungen haben.

Das ist ein außerordentliches Leseerlebnis, zumal für den zeitgeschichtlich interessierten Leser und Bürger. Das Jahr 1945 ist uns als Epochenjahr sattsam bekannt, aber das Jahr 1946 war „das Jahr, in dem die Welt neu entstand“. Die Fülle dieser globalisierten Weltschau, die sich nach dem wirklichen Welt-Krieg ergab, ist atemberaubend. Was ein General McArthur an unkontrollierter Macht in dem von den USA besetzten Japan, dem Land der furchteinflößenden Kriegsmaschinerie und den Samurai anrichten konnte, steht da ganz parallel mit der Sorge in Deutschland über die DP’s, die Displaced People, die sich nicht selbst in ihrem Elend versorgen konnten, sondern für die neue Weltorganisationen geschaffen wurden. China kommt aus dem Unbekannten hervor. Von den 60 Millionen Toten des Kriegs waren ein Drittel, 20 Millionen Chinesen. In China spielte mit besonderer Verve und Härte der Nachkriegskampf zwischen den liberal-konservativen Kräften unter der Anführung des Generalissimus Tschiang Kai Chek und der neu die Gesellschaft mitreißenden kommunistischen Revolutionäre.

Washington verpasste damals den Anschluss dort, schickte entweder die falschen Leute oder die richtigen zu den falschen Leuten. Es war immer noch der Versuch, die beiden China Kontrahenten an einen Tisch zu bringen, jedenfalls ausgeführt von dem konservativen Republikaner und Öl-Millionär aus Oklahoma, Patrick Hurley. Er sprach die Namen der Kontrahenten schon so schrecklich falsch aus, dass das Eingang in die Annalen gefunden hat. Mao Tse Tung sprach er aus als „Moose Dung“ und den hochgebildeten Tschu En lai als „Joe N Lie“. Man traf sich in Chiangs Hauptstadt Chinqing. Mao bestand darauf, die Reise nur im selben Flugzeug wie der Amerikaner anzutreten, weil das ihm die einzige Garantie schien, unbeschadet die Reise zu überleben. Zwei Vorkoster mussten sein Essen testen, bevor er selber einen Bissen anrührte. Man erreichte ein vages, völlig nutzloses Abkommen. Kurz danach kapitulierten die Japaner, die Sowjettruppen besetzten Teile der Mandschurei und Maos Truppen bekannten den Angriff auf die Guomindang.

Das siegreiche britische Empire hatte nicht mehr die Kraft, das Weltreich zu beherrschen, so dass eine Delegation nach Indien geschickt wurde, um die Ablösung des Kolonialstatus zu beschließen. Es gab den Aristokraten und in Oxford ausgebildeten Jawarhalal Nehru, der einen nicht ideologischen Sozialismus vertrat – wahrscheinlich das Beste, was einem Land im Aufbruch nach der Kolonialzeit blühen konnte. Nehru nannte den großen Lehrer (=Mahatma) Gandhi einen „Adoptivvater“ ´Das Problem war, dass sich Gandhi 1946 schon etwas esoterisch in Mystik und vegetarische Lebensweise verirrt hatte. Und es gab das noch viel größere Problem, das Ali Jinnah darstellte, der die Unabhängigkeit eines eigenen Muslem Staates propagierte, allerdings erst seit kurzem. Er gründete das neue Land, das bis heute eine merkwürdige Schattenexistenz führt. Jinnah war schon 1946 von Lungenkrebs gezeichnet, er starb im September 1948.

Ein sehr heilsames Buch für uns Europäer, die wir uns immer einbilden, wir allein wären der Nabel und Mittelpunkt der Welt, alles andere wirbele nur um uns herum wie nicht so wichtige Satelliten. Aber die Nachfolgen der bedingungslosen Kapitulation und der großen Konferenzen von Casablanca, Jalta und Potsdam kamen natürlich schon in den ersten Monaten nach dem Ende des Krieges. Man war ja schließlich, so musste sich der britische Premierminister Winston S. Churchill sagen, in den Krieg eingetreten, um die verletzte Souveränität und Unabhängigkeit der Republik Polen wiederherzustellen. Und was wurde daraus?

Die Sowjetunion unter dem knochenharten Pragmatiker Stalin überrannte und bezirzte die Staaten Osteuropas. Polen ließ es den Warschauer Aufstand machen, ohne mit den eigenen Truppen der Roten Armee zu Hilfe zu eilen und errichtete danach eine eigene Vertretung des freien, aber kommunistischen Polen in Lublin. Die polnische Exilregierung in London, die den Krieg über dort ausgehalten hatte, war intransigent und national-selbstbewusst.  Ein glänzender Beobachter der Szene, Averell Harrimann, schrieb damals: Die Leute in der Exilregierung hegen ein grundlegendes Mißtrauen gegen die Sowjets und mögen den Kommunismus nicht. „In letzterem stimme ich mit ihnen überein“. Sie glauben aber, die Zukunft Polens sei, dass Großbritannien und die USA gegen Rußland kämpfen, um Polen zu schützen. „Ich kann nicht erkennen, warum wir daran irgendein Interesse haben sollten“. Bis heute hält sich der Widerspruch zwischen den hehren Grundsätzen der neuen Völkerrechtsordnung unter den Vereinten Nationen und den Zielen einer Interessenpolitik. Eine der Schlüsselszenen findet sich in diesem Kapitel über den Eisernen Vorhang, der 1946 begann sich über Europa und die Welt zu legen.

Der Chef der polnischen Exilregierung, Stanislaw Mikolajczyk, besuchte im Herbst 1944 Roosevelt in Washington und Roosevelt verkündete schamlos dem Polen ins Gesicht: „Es gibt fünf mal mehr Russen als Polen. Die Briten und Amerikaner beabsichtigen nicht, gegen die Russen zu kämpfen!“ Churchill wird zitiert mit dem Satz, er habe die Schnauze voll von „den verdammten Polen!“ Und so wurde die Landkarte im Sinne Stalins geändert und die Siegermächte mussten sich sagen lassen, dass sie als moralische Sieger über Faschismus und Nationalsozialismus nun auch über das Schicksal von Millionen hinweggingen. Sie ließen auch einen Deutschenfresser wie Benesch in Prag und der Tschechoslowakei einfach machen, der rücksichtslos alle Deutschen aus dem Land herauswerfen wollte und dabei Brutalitäten in Kauf nahm, die zu lesen heute einen noch erschauern lassen.

Stalin griff noch nach weiteren Ländern und Ölquellen. Ein heute nicht mehr bekanntes Kapitel ist die Suche nach dem Zugang zu den Ölquellen im Iran. Im März 1946 wurden Truppenbewegungen der Roten Armee in Täbris beobachtet. Jedenfalls berichtete das der amerikanische Konsul im Nordiran. Es gab Verhandlungen über Ölbohrrechte zwischen den Iranern und den Sowjets. Und das musste natürlich verhindert werden. Auch wenn die Informationen massiv übertrieben waren, war Washington alarmiert. Die USA hatten dort keine Militärkontingente. Der US-Präsident Truman schickte das beste Schlachtschiff, die Missouri ins östliche Mittelmeer. Sein offizieller Auftrag war die Überführung der Leiche des türkischen Botschafters in den USA nach Istanbul. Für eine solche Routine Aufgabe wäre natürlich jedes andere Schiff genauso passabel gewesen. Die USA Navy hatte  vorgeschlagen, die ganze achte Flotte in das Schwarze Meer oder die Ägäis zu schicken. Aber Truman war noch unentschlossen. Der iranische Premier Qavam war überzeugt, dass die Sowjets keine komplette Invasion des Iran planten. Doch Churchill und Roosevelt wie später Truman und Attlee waren sich einig, den Sowjets muss jeglicher Zugriff auf das Öl am Persischen Golf verwehrt werden. Es wurde viel berichtet über diese Krise. Denn jetzt auf einmal schien das Undenkbare möglich: Es war ein Krieg unter den Alliierten möglich geworden, den man noch vor Jahresfrist für undenkbar gehalten hätte.

Wie damals in den Kreisen der Weltherrscher über das Leben von Millionen geschachert wurde, kann man dem Protokoll Churchills entnehmen, dass er nach dem Abend des 9. Oktober 1944 im Kreml mit Stalin angefertigt hatte. „Was würden Sie sagen, wenn Sie in Rumänien zu neunzig Prozent das Übergewicht hätten und wir zu 90 Prozent in Griechenland, während wir uns in Jugoslawien auf Halb und Halb einigen?“ Churchill holt hier einen Zettel hervor und notierte die vorgeschlagenen Prozente und den Deal. Ungarn war ein weiteres Land, das auf halb und halb geteilt werden sollte. Churchill schob den Zettel Stalin zu. Stalin nahm einen Blaustift und machte einen großen zustimmenden Haken und schob den Zettel Churchill wieder zu. Churchill sagte dann nach einer Pause: „Könnte man es nicht für ziemlich frivol halten, wenn wir diese Fragen, die das Schicksal von Millionen Menschen berühren, in so nebensächlicher Form behandeln? Wir sollten den Zettel verbrennen!“

Nein, sagte Stalin, „behalten sie ihn“.  Churchill hielt das für einen guten Deal und Roosevelt akzeptierte das als realistische Übereinkunft. Churchill war besonders zufrieden, dass Griechenland in der Einflusssphäre des Westens bleiben sollte. So wurde nach dem Weltkrieg mit ganzen Völkern umgesprungen.

Eines der zentralen Kapitel in diesem Nebeneinander von welthistorischen Schauplätzen bleibt aber die Entnazifizierung, der Fragebogen und die Tatsache, weshalb mit zweierlei Maß gemessen wurde: Man wollte als Minimalziel – so der britische Chefankläger Shawcross – 500 Fälle verhandeln. Das hatte natürlich zur Folge, dass eine große Zahl von Verbrechern straflos und auf freiem Fuß bliebe. Das Nationalsozialistische Massenverbrechen war so wenig allein mit juristischen und Strafrechtsmethoden aufzuarbeiten wie später die Apartheid in Südafrika – und aus ähnlichen Gründen. Deshalb konnte das Kriegsverbrechertribunal nur die äußersten Spitzen der Nazi Hierarchie sammeln, die man gefunden hatte. In der gleichen Zeit wurden in der Operation „Paperclip“ (=Büroklammer)  der US Armee rd 400 Wissenschaftler und Techniker, die in Peenemünde an den weiteren Wunderraketen gebastelt hatten und an einer Atombombe, aus Deutschland herausgeholt und in die USA verfrachtet.

Auch die Sowjets verhafteten Wissenschaftler, aber sie bekamen nur die zweite Garde. Die allerbesten kamen in die USA und lebten dort gut, während sie amerikanische Raketen, Satelliten und Marschflugkörper bauten. Einige waren bekannte SS-Mitglieder gewesen wie Wernher von Braun, General Walter Dornberger und Kurt Debus, der später der erste Direktor des Kennedy Space Center der NASA in Florida wurde. Amerikanische Ökonomen schätzten, dass diese Wissenschaftler aus Deutschland im Wert ungefähr dem entsprachen, was die Russen in Reparationen aus der Sowjetzone abtransportierten. Bis heute unaufgeklärt, weil total unverständlich, weshalb sich Konrad Adenauer, ein ausgewiesener Anti-Nazi, mit dem Kommentator und Mitbegründer der Nürnberger Rassegesetzte, Hans Globke umgab. Er wurde 1953 sogar zum Staatssekretär im Bundeskanzleramt befördert.

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Quelle

Rupert Neudeck 2015Grünhelme 2015

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