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Felix König / CC BY-SA 3.0 | Kernkraftwerk Neckarwestheim.

© Felix König / CC BY-SA 3.0 | Wikimedia Commons | AKW Neckarwestheim bei Heilbronn

Atomkraft: Das letzte Gefecht?

Nicht ganz unerwartet gibt es die ersten Rufe nach Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Die Argumente sind die ewig gleichen und immer noch falschen. Von Wolfgang Pomrehn

„Stoppt den Atomausstieg!“, forderten dieser Tage zwei Autoren in der Zeit. Ein Experte für Reaktorsicherheit, der sich um die Aufklärung der Gefahren von Kugelhaufenreaktoren verdient gemacht hat, und eine Historikerin, die sich mit Nuklearia e.V. um die „nukleare Re-Alphabetisierung der Deutschen“ bemüht, beschwören den Klimanotstand und plädieren dafür, die AKW-Laufzeiten zu verlängern.

Das wäre dann der Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg, nachdem SPD und Grüne das Ende der Atomkraft Anfang des Jahrhunderts beschlossen hatten und dieses Gesetz von Union und FDP 2010 kassiert wurde, nur um wenige Monate später 2011 nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukoshima in annähernd gleicher Form erneut den Ausstieg zu beschließen.

Doch noch sind wir nicht soweit. Noch gilt die Festlegung des Atomgesetzes, nach dem Deutschlands letzte sechs AKW in zwei Etappen spätestens Ende 2021 und Ende 2022 vom Netz gehen sollen. Darunter auch das AKW Neckarwestheim II, das am gestrigen Donnerstag nach Revision wieder den Betrieb aufnahm. Am letzten Freitag protestierten AKW-Gegner vor der Zentrale des Betreibers EnBW. Letzterer ist im Besitz des grün regierten Bundeslandes Baden-Württemberg.

Hauptkritikpunkte sind die neuen Risse in den Heizrohren im Dampferzeuger, die weiter „gefährlich schnell wachsen“ könnten. Durch diese Rohre fließt das im Reaktorkern erhitzte und daher stark kontaminierte Wasser und gibt seine Wärme im Dampferzeuger an einen Sekundärkreislauf ab.

Es gäbe inzwischen über 300 dieser Risse. Damit liege ein systematischer Fehler vor, dessen Ursache bis heute nicht behoben sei. EnBW setze mit dem „Wiederanfahren des Risse-Reaktors Leben und Gesundheit von Millionen Menschen aufs Spiel“.

Man könnte also den Zeit-Autoren einfach „schlechtes Timing“ zurufen und ihren Beitrag mit einem Achselzucken übergehen. Aber vielleicht lohnt sich dennoch ein Blick, denn mit dem Näherrücken der letzten Stilllegungen wird die Auseinandersetzung um die Atomkraft von interessierter Seite noch einmal angeheizt werden. Schließlich ist mit den längst abgeschriebenen Anlagen, die mit recht niedrigen Brennstoffkosten annähernd rund um die Uhr laufen, eine Menge Geld zu verdienen.

Ausbau abgewürgt

Die Autoren argumentieren, dass Deutschland trotz raschen Ausbaus der erneuerbaren Energieträger seine Klimaschutzziele nicht erreichen könne. Nur die Corona-Krise habe das 2020er Ziel, die Treibhausgas-Emissionen um 40 Prozent gegenüber 1990 zu verringern, noch gerettet.

Das mag zwar mit der Selbstwahrnehmung der Bundesregierung übereinstimmen, jedoch nicht mit der Realität. Der Ausbau der Solarenergie ist 2012 von der zweiten Regierung Merkel mehr oder weniger parallel zum Atomausstieg nahezu abgewürgt worden und hat erst seit 2018 wieder langsam, aber bei weitem noch nicht ausreichend an Fahrt aufgenommen.

Wäre die Einspeisevergütung seinerzeit behutsamer abgesenkt worden, könnte Deutschland bereits Solaranlagen mit einer Gesamtleistung von rund 80 statt der realen 51 Gigawatt (GW) haben.

Die Biomasse-Nutzung, hauptsächlich geht es da um Biogas, traf es ab 2018. Seit diesem Jahr läuft dank äußerst restriktiver Ausschreibungsbestimmungen kaum noch etwas. Auf Maßnahmen, die Anlagen umweltverträglicher zu machen, besser ins Netz zu integrieren oder auch die Ausbeute zu steigern, wartet man hingegen bisher vergebens.

Die Autoren meinen, Biogas gefährde die Biodiversität, was auf die häufig für die Biogasproduktion angelegten Mais-Monokulturen sicherlich zutrifft. Aber statt daraus ein Argument für Atomkraft zu stricken, könnte man auch die Nutzung von landwirtschaftlichen Zwischenpflanzen wie Klee oder speziellen mehrjährigen Blühwiesen fordern. Die Verfahren sind bekannt, nur gibt es keinerlei Anreize, sie auch anzuwenden.

Schließlich ist auch bei der Windkraft keinesfalls mehr von einem raschen Ausbau die Rede. Auf See läuft 2020 und 21 so gut wie gar nichts, weil die Bundesregierung nicht die versprochenen Sonderausschreibungen durchgeführt hat. Und an Land hat man den Ausbau ebenfalls mit neuen Ausschreibungsverfahren, massiver Stimmungsmache und starker Behinderung von Bürgerprojekten fast abgewürgt.

Ähnlich die Lage auch bei den Speichern, deren Fehlen die Autoren monieren. Allerdings kommen sie nicht umhin, auch hier zu übertreiben. Die sogenannten Dunkelflauten, das heißt trübe Wintertage ohne Wind, sind keinesfalls so häufig, wie von ihnen behauptet. Doch es stimmt, dass es Zeit wird, für mehr Speicher zu sorgen. (Von den Lobbyverbänden der Erneuerbaren wird dies übrigens schon seit Jahren angemahnt.)

Gas statt Braunkohle

Weiter erwecken die Autoren den Eindruck, Braunkohlekraftwerke seien die natürliche Alternative zu den AKW. Wahr darin ist bestenfalls, dass beide Kraftwerkstypen ähnlich schlecht zur Energiewende und zum wachsenden Anteil von Wind- und Sonnenstrom (zusammen 2020 bisher 42 Prozent) passen.

Beide Anlagentypen sind viel zu träge und auch nicht dafür erdacht, um in einem System zu arbeiten, in das große Mengen an Strom aus Windrädern und Solaranlagen eingespeist werden. Da deren Produktion mit Tageszeit und Wetter schwankt – übrigens in ziemlich gut vorhersagbaren Ausmaßen – müssen die übrigen Kraftwerke – und die Speicher – als flexible Lückenbüßer einspringen, und zwar mit einer Schnelligkeit für die weder AKW noch Braunkohlekraftwerke ausgelegt sind.

Ganz anders die schnell regelbaren Gaskraftwerke von denen bereits genug im Lande stehen, um die AKW sofort zu ersetzen. Die noch aktiven deutschen AKW haben zusammen 8,1 GW Leistung und waren in diesem Jahr im Schnitt zu gut 80 Prozent ausgelastet. Damit haben sie seit Januar etwa 12 Prozent (31,9 Terawattstunden) zur Nettostromerzeugung beigetragen. (Alle Daten vom Fraunhofer- Institut für Solare Energiesysteme (ISE), zum Teil eigene Berechnungen.)

Zugleich haben Deutschlands Gaskraftwerke eine Gesamtleitung von knapp 30 GW, die aber 2020 bisher nicht einmal zur Hälfte ausgenutzt wurde. Mit anderen Worten: Es stünden über 15 GW Leistung in Gaskraftwerken bereit, um die 8,1 GW der AKW zu ersetzen. Das könnte man mehr oder weniger sofort machen.

Dabei fielen allerdings mehr Treibhausgase an, und zwar im ersten Halbjahr 2020 knapp 15 Millionen Tonnen CO2. (Bei geschätzten durchschnittlichen Emissionen von 500 Gramm CO2 pro ins Netz eingespeister Kilowattstunde in einem Gaskraftwerk. Näheres zu den den spezifischen Emissionen verschiedener Brennstoffe hier.) Hochgerechnet aufs ganze Jahr wären das rund 30 Millionen Tonnen.

30 Millionen Tonnen CO2 sind natürlich 30 Millionen zu viel, sind aber gemessen an den Emissionen deutscher Braunkohlekraftwerke noch halbwegs bescheiden. Diese bliesen 2018 zusammen 150 Millionen Tonnen CO2 (rund 19 Prozent aller deutschen CO2-Emissionen in jenem Jahr) in die Luft, wie die Daten des Fraunhofer ISE zeigen. Also das Fünffache.

Die Zeit-Autoren schätzen sehr freihändig, den Atomausstieg zu stoppen, könnte die deutschen Emissionen „um etwa zehn Prozent“ senken. Tatsächlich machen die 30 Millionen Tonnen CO2 eher vier Prozent der gegenwärtigen Emissionen aus. Auch das Argument der ebenfalls fürs Klima sehr schädlichen Methan-Leckagen bei Produktion und Transport zieht zwar beim Frackinggas aus den USA, aber in weit geringerem Ausmaß beim konventionellen Erdgas, wie es unter anderem und im zunehmenden Umfang aus Russland bezogen wird.

Dennoch muss auch das Erdgas mittelfristig ersetzt werden – vor allem durch Wasserstoff und synthetisches Methan in den Kraftwerken und in der Industrie, aber auch durch Erdwärme, Kraftwärmekoppelung und zur Not auch Strom bei der Gebäudeheizung.

Die 30 Millionen durch den Atomausstieg anfallenden Tonnen ließen sich jedenfalls leicht vermeiden, wenn die Bundesregierung endlich beim Ausbau der Windenergie den Fuß von der Bremse nehmen würde. Auch die Solarenergie müsste viel stärker gepuscht werden. Beides ist technisch ohne weiteres möglich, würde vermutlich weit über 100.000 Arbeitsplätze bringen und wird allein aufgrund des Interesses der großen Energiekonzerne unterlassen.

Quelle

Der Bericht wurde von
der Redaktion „TELEPOLIS“ (Wolfgang Pomrehn)
2020
 verfasst – der Artikel darf nicht ohne
Genehmigung von Wolfgang Pomrehn 2020 weiterverbreitet
werden! | Bild: Felix König/ CC BY-SA 3.0

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