Energiewende in Deutschland: der Weg zur Netto-Null-Energieversorgung
Vorreiter beim Übergang zu erneuerbaren Energien. Ein Bericht von Jan Andersson, European Market Development Manager bei Wärtsilä Energy.
Die Energiewende in Deutschland ist in gewisser Weise paradox. Einerseits hat die progressive Regierungspolitik Deutschland den Weg geebnet, eines der ersten Länder der Welt zu werden, in denen Technologien für erneuerbare Energien im ganzen Netzmaßstab genutzt werden. Andererseits betreibt Deutschland immer noch Europas größte Flotte von Kohlekraftwerken mit einer installierten Gesamtkapazität von beinahe 40 GW.
Durch seine zentrale Lage und sehr gute Vernetzung innerhalb von Europa spielt Deutschland mit seiner Pionierleistung bei der Dekarbonisierung eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung von Europa, das weltweit den drittgrößten CO2-Ausstoß verursacht.
Schon vor langer Zeit hat Deutschland die durch seinen Altbestand an Kohlekraftwerken verursachte Umweltbelastung erkannt. Im Jahr 2020 traf das Land die historische Entscheidung, ein Budget von 40 Milliarden Euro bereitzustellen, um seine Kohleenergie produzierenden Regionen dabei zu unterstützen, bis 2038 aus dem Kohlestrom auszusteigen. In Konsequenz hat Deutschland im April 2021 sein Netto-Null-Ziel vom Jahr 2050 auf das Jahr 2045 vorverlegt. Um ein deutliches Zeichen zu setzen, hat Deutschland auch Meilensteine für die Kohlenstoffreduzierung bis 2045 die festgelegt. Dabei hat es sein Ziel für das Jahr 2030 von 55 % auf 65 % im Vergleich zum Niveau von 1990 angehoben und sich zum Ziel gesetzt, seine CO2-Emissionen bis zum Jahr 2040 um 88 % zu reduzieren.
Deutschlands neue nationale Zielsetzungen spiegeln eine tiefgreifende Wende im Bereich Stromversorgung wider. Versorgungsunternehmen müssen ihre Dekarbonisierung sogar bereits vor 2045 abgeschlossen haben, um Branchen wie der Schwerindustrie, für die der Übergang schwieriger zu realisieren ist, den dafür erforderlichen Zeitrahmen zu schaffen.
Die Energiewende – kostenintensive Pionierleistung der deutschen Energiebranche
Deutschland startete seine historische Energiewende im Jahr 2000 als landesweite Initiative mit Pioniercharakter. Sie soll das Energieversorgungssystem in Deutschland transformieren, um den Energiebedarf sowohl von öffentlichen und industriellen Verbrauchern als auch von Haushalten durch erneuerbare Energie zu decken. Die Zielsetzung der deutschen Politik, den Anteil von Sonnen- und Windenergie im Energiemix schrittweise zu erhöhen, ist erfolgreich. Stein- und Braunkohle sind allerdings immer noch Bestandteile des Energieversorgungssystems.
Darüber hinaus beschloss die deutsche Regierung – als Konsequenz aus der Katastrophe von Fukushima in Japan im Jahr 2011 – alle seine 17 Atomkraftwerke bis 2022 stillzulegen. Die Kohle- und Nuklearkapazitäten durch erneuerbare Energien zu ersetzen ist eine Mammutaufgabe. Sie verlangt, dass der Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen im Strommix von 50 % im Jahr 2020 auf 65 % im Jahr 2030 ansteigt. In der Vergangenheit hat ein hohes Produktionsvolumen unflexibler Kohle verhindert, dass erneuerbare Energien ihre Aufgabe als kostengünstigste Energiequelle erfüllen konnten. Denn mangelnde Flexibilität im Energieversorgungssystem bedeutete, dass Phasen einer hohen Produktion erneuerbarer Energien negative Auswirkungen auf die Stromgroßhandelspreise hatten oder beträchtliche Preissenkungen erforderlich waren, um überschüssigen Strom abzustoßen.
Diese Faktoren führten dazu, dass Deutschlands frühe Führungsposition im Rennen um erneuerbare Energien ihren Preis hatte: Die Mehrkosten für den Ausbau erneuerbare Energien schlugen sich in den Stromrechnungen der Verbraucher nieder. Auch heute noch liegen die Steuern für erneuerbare Energien in Deutschland bei rund 64 Euro pro MWh, was etwa einem Viertel der Stromgebühren eines Durchschnittshaushalts entspricht. Um die gesetzten Ziele bei der Reduzierung der CO2-Emission zu erreichen und die durch den Kohleausstieg verursachte Energieversorgungslücke zu überbrücken – und dabei das Vertrauen des Verbrauchers zu behalten –, ist es für die Energieversorger von entscheidender Bedeutung, den kostengünstigsten Weg in Richtung Netto-Null zu finden.
Wann wird sich der Vorsprung bei der Energiewende für Deutschland bezahlt machen?
Die Energiewende hat in hohem Maße den Weg für weltweite Kostensenkungen in den Bereichen Wind- und Solarenergie geebnet. Doch welche Schritte muss Deutschland unternehmen, um die Brücke zu erneuerbarer Grundlastenergie vollständig zu überschreiten, damit sich seine frühzeitige Investition in die Energiewende auch bezahlt macht?
Um das herauszufinden, hat Wärtsilä die aktuell installierte Kapazität und die voraussichtliche Energielast in Deutschland berechnet. Bei der Modellrechnung wurden der Kohleausstieg, CO2-Grenzwerte und die maximale zusätzliche Kapazität an erneuerbaren Energien pro Jahr berücksichtigt. Die Energie für Fernwärme stammt in Deutschland immer noch aus dem Altbestand an Kohle- und Gaskraftwerken. Folglich hat Wärtsilä in seine Modellrechnung den kompletten Sektor Fernbeheizung mit einbezogen.
Die aus der Studie gewonnenen Erkenntnisse sind eindrucksvoll. Sie zeigen, dass der Vorsprung bei erneuerbaren Energien Deutschland immens dabei hilft, energiepolitische Unabhängigkeit zu forcieren, indem für die Grundlast kostengünstige erneuerbare Energien genutzt werden. Auf diese Weise kann Kohleenergie noch in diesem Jahrzehnt vollständig ersetzt werden. Das schafft großes Potenzial und hohen Nutzwert.
Zwei Szenarien für Netto Null: Umstieg bis 2040 oder Umstieg bis 2045
Um den kostengünstigsten Weg in Richtung Netto-Null aufzuzeigen, hat Wärtsilä zwei Schlüsselszenarien berechnet. Im ersten Szenario für Netto-Null – dem Szenario “Baseline 2045” – realisiert Deutschland seinen aktuellen Plan des Kohleausstiegs bis 2038. Um die Kohleenergie zu ersetzen, werden jährlich 13,5 GW erneuerbare Energiequellen hinzugefügt bis im Jahr 2045 das Energieversorgungssystem eine Netto-Emission von Null erreicht haben wird.
In unserem zweiten Szenario für Netto-Null – dem Szenario “Supercharged 2040” – setzt Deutschland den Ausstieg aus der Kohleenergie bereits bis 2030 um. Das steht in Übereinstimmung mit der unlängst getroffenen Selbstverpflichtung der G20, die derzeit noch unvermindert hohen kohlebasierten Energiekapazitäten mit hoher Geschwindigkeit abzulösen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird erneuerbarer Strom mit einem höheren Tempo von bis zu 19,5 GW pro Jahr ausgebaut. Auf diese Weise ließe sich ein Netto-Null-Energieversorgungssystem bereits bis zum Jahr 2040 realisieren. …
…..
Ausbau erneuerbare Energien in ganz Deutschland
Das Fazit aus unseren Modellberechnungen ist eindeutig: Ein beschleunigter Kohleausstieg in Deutschland bis zum Jahr 2030 und die Umsetzung der Netto-Null-Stromversorgung bis 2040 setzen in Deutschland auf System-Ebene großes Potenzial frei und schaffen zahlreiche Mehrwerte – von der Reduzierung der Energieproduktionskosten, über die Unterstützung energiepolitischer Unabhängigkeit bis hin zur Produktion nachhaltiger Brennstoffe, mit denen sich andere Bereiche wie insbesondere die Fernbeheizung dekarbonisieren lassen. Flexible Energieversorgung ist die entscheidende Grundvoraussetzung für den Ausbau variabler erneuerbare Energien, die im Bereich Grundlast eine Schlüsselfunktion erfüllen und die genannten Mehrwerte Wirklichkeit werden lassen können.
Die Augen der Welt sind auf Deutschland gerichtet. Gelingt es dem Land, innerhalb von zehn Jahren ein Drittel seiner Energieproduktion von Kohle auf saubere, erneuerbare Grundlastenergie umzustellen, können andere Länder, die derzeit noch von Kohle abhängig sind, das Gleich erreichen.
- Den ganzen Bericht können Sie hier downloaden
Quelle
Jan Andersson, European Market Development Manager bei Wärtsilä Energy 2021 | Nikita Marwaha Kraetzig (She/her)