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Symptom jeglicher Diktatur: Die Angst vor der Freiheit

Die Geschichte der Beziehungen zwischen Putins Russland und der Ukraine ist ähnlich komplex wie die Geschichte der Beziehungen zwischen China und Tibet. Von Franz Alt

So kann man sich heute, im Frühjahr 2022, fragen, ob es zwischen dem Putin-Krieg gegen die Ukraine und der chinesischen Unterdrückung der Bevölkerungen in Tibet, Ostturkestan und in Hongkong Parallelen gibt. Gibt es Parallelen zwischen dem Xi-Jinping-Regime in China und dem Putin-Regime in Moskau? Wie wehren sich die Tibeter gegen ihre Besatzer und wie die Ukrainer gegen ihre Aggressoren?

Hauptsächlich drei Traumata verfolgen die chinesische Führung bis heute:

  • Taiwan mit Beginn des kommunistischen China seit 1949
  • Tibet seit 1950 und 3. Tian’anmen seit 1989, als Chinas Herrscher auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking im Sommer über eintausend friedliche und Freiheit fordernde Studenten mit Panzern niederwalzen ließen.

Putins Karriere in Russland hat viel mit dem zu tun, was sich fast zeitgleich im Jahr 1989 auf dem Tian’anmen-Platz in Peking und unter der UdSSR-Führung von Michail Gorbatschow in Deutschland vollzog. Im Gegensatz zu Chinas Kommunisten hatte Gorbatschow bei den friedlichen Demonstrationen in Ostberlin, Leipzig und Dresden nicht militärisch eingegriffen. Während die ostdeutschen kommunistischen Herrscher also von der Heilkraft der Gewaltlosigkeit durch die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung hinweggefegt wurden, hatte die KPCh ihr Imperium durch den Einsatz von Gewalt halten können. Diese doppelte Erfahrung, nämlich wie gegensätzlich auf Freiheitsproteste reagiert wurde, hat Putin wohl nie vergessen und seine Schlüsse daraus gezogen: Gewaltherrschaft lässt sich nur durch Gewalt erhalten.

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© Depositphotos.com | NARegnum | Wladimir Putin 2019

Wladimir Putin war 1989 in Dresden Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes KGB und hat sich später immer wieder gefragt, warum die kommunistische Sowjetunion die Demonstrationen in Deutschland damals nicht mit ähnlicher Gewalt unterdrückt hat wie die chinesische Führung 1989 in Peking. Noch 2007 bezeichnete Putin auf der „Sicherheitskonferenz“ in München seine Erfahrung 1989 in Dresden als die „größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Bei diesem Trauma stand er den wütenden, aber friedlichen Demonstranten in Dresden direkt gegenüber. Er lebte damals in der Radeberger Straße im vierten Stock eines Dresdner Plattenbaus, aus dem er erst Ende März 1990 verschwand nach Leningrad, später wieder St. Petersburg. Jetzt während des Ukraine-Kriegs sagte die Urenkelin des früheren Sowjet-Chefs Chruschtschow, die Politologin Nina Chruschtschowa, bei „Maischberger“: „Putin ist wie Stalin. Er ist ein völlig paranoider Diktator, der immer einsamer wird.“ Solange Putin in Moskau regiert, wird Europa keinen Frieden finden. Putin rehabilitiert in gewisser Weise Stalin.

Die Tragödie der Besetzung und des chinesischen Imperialismus auf dem Dach der Welt nahm 1950 ihren Lauf – weitgehend unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit. Der junge Dalai Lama hatte sofort nach seiner Übernahme der Regierungsgeschäfte ein Reform-Programm für Tibet ausarbeiten lassen: Die Feudalherrschaft sollte beendet, Bauern sollten aus der altenSchuldknechtschaft entlassen und die Verwaltung demokratisiert werden. Doch China verhinderte alle eigenständigen tibetischen Reformbestrebungen. Es gelang dem Dalai Lama noch, bis Anfang des Jahres 1959, die Tibeter von gewalttätigem Widerstand abzuhalten. Dann musste er jedoch vor chinesischen Truppen fliehen, die in Lhasa und in den großen Klöstern Ganden, Sera und Drepung nach dem Volksaufstand ein Blutbad angerichtet hatten. Er floh nach Nordindien, und etwa 80.000 Tibeter begaben sich fast umgehend auch auf die Flucht. Chinesische Flugzeuge bombardierten die Flüchtlingstrecks, viele Menschen starben auch durch Eis und Schnee im Himalaya. Am 20. März 1959 bombardierten die Chinesen den Sommerpalast des Dalai Lama, wo sie ihn noch vermuteten und legten das Gebäude in Schutt und Asche. Der Dalai Lama – damals 24 Jahre alt – sollte getötet werden. In Indien bildete er eine Exilregierung, die jedoch bis heute von keinem Staat anerkannt wird.Wird es bald irgendwo in Europa ebenfalls eine Exilregierung für die Ukraine geben?

Flüchtlinge – und andere Folgen von Gewalt

Aktuell schauen wir in Westeuropa vor allem auf die Ukraine-Flüchtlinge und den Genozid in diesem Land. Die Lage der Flüchtlinge Tibets war vor Jahrzehnten vergleichbar mit dieser Situation. Circa 150.000 Tibeter leben heute in 16 Ländern im Exil, davon die meisten in Indien, viele aber auch in Nepal, Kanada und in der Schweiz.

Der Dalai Lama schätzt, dass in den letzten Jahrzehnten über eine Million Tibeter der Gewalt Chinas zum Opfer gefallen sind. Diesen Völkermord haben wir in Europa beinahe vergessen und verdrängt. So wie Putin nun die Ukrainer „befreien“ will, so will die kommunistische Führung in Peking die Tibeter „befreien“.

Was die Chinesen „Befreiung“ nennen, ist aber in Wahrheit Diktatur und Grausamkeit. Ein Arzt, der vor meiner Kamera anonym bleiben wollte, sagte: „Die Chinesen unterdrücken das chinesische Volk. Wenn uns die Welt nicht hilft, bleibt uns wenig Hoffnung.“ Eine Frau, die ihr kleines Kind auf dem Arm hielt, sagte uns in Lhasa: „Wir Tibeter fürchten die Ausrottung unseres Volkes. Kein Mittel ist der chinesischen Politik zu brutal, um die Tibeter zur Minderheit im eigenen Land zu machen. Viele tibetische Frauen werden zur Abtreibung gezwungen“. Etwa 50 Tibeter, die meine Frau und ich auf den Straßen Lhasas– abseits der chinesischen Aufpasser – befragen konnten, erzählten uns ähnliche Schicksale.

Gewaltherrschaft mit Hilfe von Angst

„Wie viele Divisionen hat der Papst?“ soll Stalin einmal gefragt haben. Papst Franziskus hat zwar keine Divisionen, aber Putin dürfte die immer deutlicher werdende Kritik des Papstes am Ukraine-Krieg ähnlich fürchten wie Chinas Gewaltherrscher XiJinping den Dalai Lama fürchtet. Stalinismus, Maoismus und der Putinismus haben eines gemeinsam: Sie bauen ihre Gewaltherrschaft auf Angst auf. Nur durch die Verbreitung von Angst können sie sich an der Macht halten. Doch das funktioniert immer nur eine Zeit lang.

Kriege waren immer das Resultat von nationalistischer Verblendung, männlichem Größenwahn oder religiösem Fanatismus und sind heutzutage ein absoluter Anachronismus. Der Putin-Krieg kann zum Ende der Putin-Macht führen so wie die friedliche Revolution 1989 zum Ende von Erich Honecker geführt hat, der kurz vor seinem Ende noch seine politischen Gegner einsperren ließ. Bevor Putin Russland in ein zweites Nordkorea zwingt, wird er wohl eher das Schicksal Erich Honeckers erleben. Der russische Diktator will die Ukraine von – wie er sagt – „Nazis“ und „Militaristen“ befreien, doch diese wollen sich einfach nicht „befreien“ lassen.

Der alles entscheidende Unterschied

Ist Präsident Wolodymyr Selenskyj der „Dalai Lama“ der Ukraine? Beide sind bei ihren Völkern „Volkshelden“. Selenski hat große Unterstützung der Ukrainer, wenn er sagt: „Wir wollen nicht kapitulieren, wir wollen Frieden“. In Tibet habe ich Dutzende Tibeter nach dem Dalai Lama gefragt und alle sagen: „Der Dalai Lama soll aus seinem Zwangs-Exil zurückkommen“. Es gibt freilich auch fundamentale Unterschiede zwischen den beiden Leitfiguren und was sie ihren Völkern raten.

© pixabay.com | AnnaliseArt | Präsident Wolodymyr Selenskyj

Der Dalai Lama will gegen die Besatzer den gewaltfreien Widerstand. Präsident Selenski plädiert wirbt auch für Dialog, will jedoch, dass sein Volk sich auch mit Gewalt den russischen Besatzern entgegenstellt. Er fordert ständig Waffenlieferungen von westlichen Ländern. Das tut der Dalai Lama bewusst und seit 70 Jahren nicht. Im Gegenteil: Ich war Zeuge als er jungen ungeduldigen Tibetern gesagt hat: „Wenn ihr zur Gewalt greift, werde ich sofort als Euer Dalai Lama zurücktreten. Gewalt macht keinen Sinn, sondern erzeugt nur Gegengewalt“. Er sagt auch: „Ich habe keine Feinde, es gibt nur Menschen, die ich noch nicht kennengelernt habe“. Für diese konsequente Haltung der Gewaltfreiheit erhielt der Dalai Lama 1989 den Friedensnobelpreis.

Der Weg der Gewaltfreiheit

Tibets Weg der Gewaltfreiheit, davon ist der Dalai Lama bis heute überzeugt, ist wichtig für die ganze Welt und für eine bessere Welt. Er sagt: „Im Buddhismus gehen wir davon aus, dass alle fühlenden Wesen – an erster Stelle der Gattung Mensch – der spontane Wunsch angeboren ist, von Leiden frei zu sein und Glück zu erfahren. Der Mensch verfügt auch über die Fähigkeit, Leiden zu beseitigen und Glück zu erlangen. Glück heißt Freiheit“.

Nach dem Sturz der Mandschu-Dynastie in China im Jahr 1912 erklärte sich Tibet für unabhängig, also zum eigenen souveränen Staat.Diese de-facto-Unabhängigkeit Tibets wurde nach der Flucht des Dali Lama im Jahr 1959 nach Nordindien von einer internationalen Juristenkommission im Auftrag der UNO bestätigt. Doch China bestreitet bis heute die Eigenstaatlichkeit Tibets. Die Aussage des Historikers und Bundeskanzlers Helmut Kohl im Jahr 1987: „Tibet war schon immer ein Teil Chinas“ ist historisch falsch. Dieser fatale Satz war der Kohl´schen Machtpolitik und dem Export-Wohl der deutschen Wirtschaft geschuldet, aber nicht der historischen Wahrheit.

Seit Jahrzehnten nun versucht der Dalai Lama, mit den chinesischen Machthabern in Dialog zu treten. Doch seine Delegationen stießen bei einigen Treffen mit den chinesischen Abgesandten nur auf Ablehnung. Der Leiter der Tibet-Delegation, Kelsang Gyaltsen, berichtete mir: „Wir saßen uns Tage lang gegenüber“. Doch die Chinesen sagten immer wieder nur: „Es gibt kein Tibet-Problem. Es gibt nichts zu besprechen“.

Als gewaltfreie Lösung des Konflikts schlägt der Dalai Lama einen „Dritten Weg“ vor: Tibet soll danach völkerrechtlich bei China bleiben, erhält dafür aber religiöse, kulturelle und sprachliche Autonomie. Eine zwischen Ost und West neutrale Ukraine könnte vielleicht auch die Lösung für den Ukraine-Konflikt sein. So wie es Österreich lange war und ist. EU-Mitgliedschaft für die Ukraine ja, aber keine NATO-Mitgliedschaft.

Die Heilkraft und die Wirkmächtigkeit gewaltfreier Aktionen haben wir in Deutschland 1989 eindrucksvoll erlebt. Der damalige Stasi-Chef in Leipzig, Horst Sindermann, Mitglied im SED-Zentralkomitee, hat sie – wahrscheinlich unbeabsichtigt – am 9. November 1989 bestätigt: „Wir haben mit allem gerechnet – nur nicht mit Kerzen und Gebeten. Die friedlichen Demonstranten haben uns wehrlos gemacht“. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen und sangen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute…“ Hunderttausende hatten friedlich und gewaltfrei demonstriert, obwohl sie mit Gewalteinsatz des DDR-Regimes rechnen mussten. Ihre Losungen hießen „Keine Gewalt“, „Freiheit“ und „Wir sind das Volk“. Und vor allem: Gorbatschow lehnte den vorbereiteten Gewalteinsatz des alten DDR-Regimes ab. Die in der DDR Herrschenden – Herr Putin und Herr XiJiping, Sie erinnern sich – waren sprach- und fassungslos.

So könnte es in der Ukraine – der Maidan-Aufstand von 1914 lässt grüßen – und auch mittelfristig in Russland und in China sein oder werden. Unser gemeinsames Motto könnte bald heißen: „War is over“. Oder wie es Gorbatschow in unserem gemeinsam geschriebenen Buch schon 2017 sagte: „Nie wieder Krieg – Kommt endlich zur Vernunft“. 1989 schon haben wir in Deutschland eine Haltung der Gewaltfreiheit erlebt, die ein Glücksfall unserer Geschichte wurde. Warum soll es etwas Vergleichbares jetzt nicht auch in der Ukraine, und bald auch in Russland und in China geben? Der Geist weht, wo er will. Wir dürfen ihm nur keine Grenzen setzen.

Der „Spiegel“ nannte die friedliche deutsche Wiedervereinigung ein „Wunder“. Das war aber kein unerklärliches Wunder, sondern das logische Ergebnis einer gewaltfreien Revolution, bei der Hunderttausende ihre frühere Angst überwinden konnten. Der Mut zur Gewaltfreiheit und zum Widerstand hatte die Staatsmacht, die über Panzer und gewaltbereite Soldaten verfügte, besiegt.

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Wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten

Seit 2000 Jahren wird Politik nach dem altrömischen Motto „Wer Frieden will, muss den Krieg vorbereiten“ gemacht. Doch diese Politik führte immer nur zu Massenmord, Elend und Zerstörung. Kriege können militärisch nicht gewonnen werden, aber Millionen Menschen sterben. Wir müssen dieses altrömische Motto endlich vom Kopf auf die Füße stellen. Dann lautet es so: „Wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten“. Nicht Krieg ist dann der „Vater aller Dinge“ wie die Menschheit lange geglaubt hat, sondern der Frieden wie wir noch lernen müssen. Aber auch lernen können. Die Friedensforschung hat vor allem in den letzten Jahrzehnten viele Strategien des gewaltfreien Widerstandes entwickelt.

Der Dalai Lama ruft uns auf, „Rebellen des Friedens“ zu sein. Das ist nicht naiv oder banal. Er sagt: „Ich trage die Überzeugung in mir, dass eure Generation in der Lage ist, das 21. Jahrhundert in ein Jahrhundert des Friedens und des Dialogs zu überführen. Dass ihr in der Lage seid, die Menschheit wieder zu einen, mit sich selbst und mit ihrer Umwelt“. Sein großes Vorbild dabei ist die damals 15-jährige Greta Thunberg, die es mit einer gewaltfreien Aktion vor dem schwedischen Reichstag geschafft hat, eine globale Jugendbewegung für Klima- und Umweltschutz und für Frieden auf die Beine zu stellen. „Fridaysfor Future“ macht der Politik auf der ganzen Welt Beine.

Was ist denn die Alternative zum gewaltfreien Widerstand? Diese sehen wir in China, in Russland und in der Ukraine 2022 jeden Tag: Der Putin-Krieg ist ebenso ein Verbrechen wie das, was die kommunistische Partei Chinas den Tibetern seit Jahrzehnten und den Uiguren seit einigen Jahren antut. Im April 2022 steuert der grausame Ukraine-Krieg auf ein blutiges Patt zu. Im Krieg haben schon immer alle verloren. Im Krieg gibt es keine wirklichen Sieger.

Doch die Menschheitsgeschichte zeigt auch, dass Gewalt, Sklaverei und Kolonialismus besiegt werden können. Warum also nicht auch Krieg und Nationalismus? Die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union – über 70 Jahre hat noch nie ein EU-Land gegen ein anderes Krieg geführt – beweist, dass Kriege kein Naturereignis sind. Sie wurden immer von Menschen geführt und können logischerweise auch von Menschen endgültig beendet werden.

Die alles entscheidende Frage heißt: In wessen Schule wollen wir lernen? in der Schule der Gewaltfreiheit von Vorbildern wie Jesus, Buddha, Dalai Lama, Mahatma Ghandi, Martin Luther King, Nelson Mandela sowie ostdeutschen und anderen Bürgerrechtlern oder wollen wir uns einschüchtern lassen von Gewalt-Potentaten wie Stalin, Hitler, Mao Tsetung, Mussolini, Trump, Kim in Nordkorea, Franco und Putin? Ausschließlich Männer übrigens. Es fällt auf, dass In den Friedensbewegungen der ganzen Welt mehrheitlich Frauen aktiv sind. In Belarus haben wir das im Jahr 2021 besonders deutlich gesehen.

Unsere bisherige Hochrüstung ist nichts anderes als unausgesetzter Mord an den Hungernden und Elenden unserer Zeit. Michail Gorbatschow sagte mir einmal: „Was hätten wir Geld für soziale und ökologische Projekte einsetzen können, wenn wir nicht erst nach 1989 80 Prozent aller Atombomben verschrottet, sondern sie zuvor gar nicht gebaut hätten“.

Freiheitsträume verbinden die Menschheit
Depositphotos.com | belchonock | Ukraine Stop War
© Depositphotos.com | belchonock | Ukraine Stop War

In China und Russland träumen heute vor allem junge Menschen von Freiheit und Demokratie. Im Internetzeitalter sind die Chancen für demokratischen Fortschritt und mehr Freiheit größer als in früheren Jahrhunderten. Freiheits-Träume verbinden die ganze Menschheit.Auch die Älteren in Russland und China haben nicht vergessen, was unter Gorbatschow Glasnost und Perestroika bedeuteten: Offen diskutieren, Reisen, Wählen, Glaubensfreiheit und Kritisieren. Es war die Geburtsstunde der Nawalny-Generation. Alles schien möglich. Russland ist nicht Putin-Land und der Putin-Krieg kein Krieg Russlands. Dieser Krieg stärkt eher die russische Friedensbewegung.

Realistischer Weise müssen wir anerkennen, dass ein Diktator wie Wladimir Putin von etwas ganz anderem träumt. Er ist davon überzeugt, dass Russen und Ukrainer zwar zur selben Nation gehören, aber die Ukrainer jetzt mit ihrem Streben zum Westen einen falschen Weg gehen. Spätestens seit der Maidan-Revolution im Jahr 2014 haben die Ukrainer bewiesen, dass auch sie von Freiheit, von Menschenrechten und Demokratie träumen. Das könnte natürlich auch für Putins autoritäre Herrschaft in Moskau gefährlich werden. Westliche Demokratie heißt Freiheit, Internationalismus und Individualismus. Putins Herrschafts-Traum aber meint Groß-Russland, Diktatur, Zwang und Unterdrückung.

Die Parallele in China: Der Dalai Lama hat in vielen meiner Fernsehsendungen gesagt, dass er für Tibet freie Wahlen, Menschenrechte und Entmilitarisierung anstrebe. Doch Pekings Kommunisten wollen wie Putin eine Alleinherrschaft, Großchina mit Hongkong, Taiwan und Tibet und auf gar keinen Fall ein Mehrparteiensystem wie in westlichen Ländern mit freien Wahlen. Putin träumt von einem Großrussland, zu dem neben Russland auch Weißrussland und die Ukraine als „Kleinrussland“ gehören.

Zur Geschichte Russlands gehören Lenins Oktober-Revolution von 1917, die Stalin-Herrschaft mit Millionen Toten bei den Landwirtschaftsreformen sowie Millionen Zwangsdeportationen nach Sibirien, Atombomben und Putin, aber auch Gorbatschow, Glasnost und Perestroika. Zur Geschichte Chinas gehören der brutale Bürgerkrieg in den Vierzigern des letzten Jahrhunderts, die Mao-Gewaltherrschaft, die schreckliche Kulturrevolution, der kulturelle Völkermord in Tibet und Zwangslager für über eine Million Uiguren in Sinkiang, Atombomben und ein bereits erklärter Krieg gegen Taiwan, aber auch tausende mutiger Studenten auf dem Tien´anmen.

Vor einem demokratischen Tibet fürchtet sich die kommunistische Regierung in Peking genauso, wie sich Putin vor einer demokratischen und souveränen Ukraine fürchtet. Zu Recht. Denn Freiheit ist immer ansteckend. Alle Menschen wollen in Freiheit leben.

Die russischen Bürgerinnen und Bürger werden in den offiziellen Staatsmedien über diesen Krieg belogen wie Putin zuvor westliche Politiker reihenweise über seine Absichten belogen hat. Tausende Anti-Kriegsdemonstranten wurden schon in den ersten Tagen des Krieges eingesperrt. In Tibet haben sich in den letzten Jahren 158 Menschen aus Protest gegen die chinesische Gewaltherrschaft selbst verbrannt.

Beneventro Verlag | Michail Gorbatschow
© Benevento Verlag | Ein Appell von Michail Gorbatschow an die Welt

Als ich 2017 in Moskau Michail Gorbatschow in seiner Stiftung besuchte, waren von der einzigen noch unabhängigen Zeitung in Russland, der von Gorbatschow mitbegründeten und von ihm unterstützten „NowajaGazeta“ bereits fünf Redakteurinnen und Redakteure ermordet, unter ihnen die populäre Kollegin Anna Politkowskaja. 2021 war ihr Chefredakteur und Kremlkritiker Dimitri Muratow mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.Im März 2022 hat es diese Zeitung gewagt, die mutige Fernsehjournalistin Marina Owssjannikowa auf ihrer Titelseite abzubilden. Sie hatte wenige Tage zuvor im Staatsfernsehen ihr Plakat „No War“ in die Live-Kamera gehalten und den Zuschauern über den Putin-Krieg in der Ukraine zugerufen: „Ihr werdet alle belogen“. Die couragierte Fernsehjournalistin muss mit vielen Jahren Gefängnis rechnen. Dem US-Fernsehsender sagte sie: „Ich habe mit meiner Aktion zeigen wollen, dass die Mehrheit der Russen gegen diesen Krieg ist. Doch für den Massenmörder Putin sind couragierte Journalisten oder Friedensfreunde „Verräter“. Mutige Bürgerrechtler, mutige Journalisten und mutige Friedensfreunde sind der Beweis für ein anderes Russland.

Zu einer friedlichen und kosmopolitischen Welt
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Mit dem Verstand allein kommen wir Menschen freilich nicht zur Vernunft. Eines unserer Hauptprobleme ist die Verstandeseinseitigkeit unserer Zeit. Wir sind Weltmeister bei materiellen Fortschritten. Aber zurückgeblieben sind wir in unserer seelischen und geistigen Entwicklung. Deshalb brauchen wir eine Art zweiter Aufklärung, eine Aufklärung der Aufklärung. Der Dalai Lama nennt es „eine Weltrevolution des Mitgefühls“.Dabei ist Ethik wichtiger als Religion. Das heißt: Ethisches Handeln ist wichtiger als religiöse Lippenbekenntnisse oder fromme Sprüche.

Wie können wir unserer immer noch streitsüchtigen Welt Frieden bringen? Indem wir lernen, dass nicht die Gewalt und nicht der Tod, sondern einzig die Liebe die stärkste Kraft im Universum ist.Unser Herz ist viel mehr als ein Organ. Es ist der Spiegel unserer Wirklichkeit und das Symbol der Liebe, des Mitgefühls und der Dankbarkeit.

Bigi Alt
© Bigi Alt

40mal habe ich seit 1982 den Dalai Lama getroffen. Einen Satz sagte er immer und immer wieder: „Die Geschichte lehrt uns, dass militärische Siege und Niederlagen nie von langer Dauer sind“. Wie Michail Gorbatschow ist auch der Dalai Lama überzeugt: Sieger ist nicht, wer Schlachten in einem Krieg gewinnt, sondern wer Frieden stiftet. Der Dalai Lama kann sich vorstellen, dass eine Demokratisierung Chinas den Durchbruch zu einer friedlicheren und kosmopolitischen Welt bedeutet. Er setzt dabei auf die chinesische Jugend und auf die Jugend der ganzen Welt. 1989 standen wir an der Berliner Mauer. Die „Mauer-Spechte“ hatten bereits Löcher in das schreckliche Gewaltsymbol geschlagen. Menschen auf beiden Seiten der Mauer hievten Seine Heiligkeit auf die Reste dieses Mauer-Monsters. Da stand er nun mit einer brennenden Kerze in der Hand und sagte den unvergesslichen Satz: „So sicher wie diese Mauer fallen wird, wird auch Tibet eines Tages frei sein“. Die Mauer ist gefallen. Doch Tibet ist immer noch nicht frei. Geduld ist im Buddhismus eine Friedens-Tugend. Der Dalai Lama lebt sie beispielhaft vor.

Quelle

FRANZ ALT 2022 / Erstveröffentlichung TIBET INITIATIVE DEUTSCHLAND | „Brennpunkt Tibet“ / Ausgabe 01/2022

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