Kann denn Fliegen Sünde sein?
Das Klimaschutzflugparadox – Von Martin Unfried
Was mir diesen Sommer häufig passiert ist: Erst habe ich mit Leuten eine angeregte Unterhaltung zum Thema Klimaschutz, Kohleausstieg, Verkehrswende und CO2-Steuern. Worauf wir uns noch gepflegt über den anstehenden oder gerade verbrachten Urlaub unterhalten. Und genau dann erzählen mir regelmäßig Bekannte, Freunde und Familie begeistert von ihrer letzten oder anstehenden Flugreise. Das geht nämlich prima zusammen. Und das nenne ich mal das Klimaschutzflugparadox.
Ich habe in der Vergangenheit in solchen Situationen oft den Zeigefinder gehoben und angemahnt, dass eine solche fliegende Emissionsorgie wirklich nicht mit einem klimafreundlichen Leben vereinbar sei. Heute bin ich da entspannter. Man könnte auch sagen, ich habe mir mein Scheitern eingestanden. In den letzten 20 Jahren habe ich kaum jemand von einer Flugreise abhalten können. Interessanterweise fliegen meine umweltbewussten Freunde und Bekannten munter weiter durch die Gegend. Und ich meine jetzt nicht dienstliche Flüge. Nein, echte Urlaubsreisen, die man durchaus vermeiden könnte. Merke: Das Bewusstsein bestimmt also nicht unbedingt das Sein. Und es ist ein weiter Pfad von der Idee zur Tat.
Auch umweltbewusste Menschen sind also gefangen in gesellschaftlichen Konventionen. „Aber alle fliegen doch, warum soll ich dann nicht fliegen?“ Warum soll man eigentlich der Einzige sein, der auf Flüge verzichtet? Und noch viel entscheidender: Auch Umweltbewusste erliegen dem Wahnsinn der Preise. „Der Edinburgh-Flug hat nur 60 Euro gekostet!“ Wer soll da mit dem Zug fahren, wenn der dreimal so viel kostet? Ganz zu schweigen von den Zielkonflikten, da es ja immer gute Fluggründe gibt, wie die Entdeckung anderer Kulturen oder das Zusammentreffen unsterblich Verliebter.
Ich halte inzwischen die moralische Debatte zum Thema Fliegen sogar für sehr kontraproduktiv. Die moralische Aufladung mit Begriffen wie „Umweltsünde“ ist nämlich nicht hilfreich, weil es vom Wesentlichen ablenkt. Die Eindämmung von Flugreisen für den Klimaschutz ist eine politische Aufgabe und keine moralische. Der Einzelne ist hier überfordert und reagiert eher gereizt. Leute, die Klimaschutz fordern, sind dann in erster Linie Spaßverderber.
Dabei haben wir viele andere Dinge geregelt, ohne den Einzelnen auf seine Moral anzusprechen. Der Sozialstaat funktioniert ja nicht deshalb, weil wir freiwillig Einkommen teilen. Nein, da werden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge ziemlich rabiat vom Einkommen abgezogen. Eben weil das keine Privatangelegenheit ist. Auch der Brandschutz funktioniert nicht freiwillig. Die notwendigen Investitionen in neue Brandschutztüren sind keine Option, sondern Gesetzgebung. Die Unterlassung wird sanktioniert. Niemand käme auf die Idee, der Brandschutz sei mit ein bisschen gutem Willen und dem richtigen Bewusstsein zu machen. Warum soll das ausgerechnet beim Klimaschutz funktionieren? Deshalb geht es auch beim Fliegen nicht um das moralische Versagen von Einzelnen, sondern um politische Vorgaben und eine ehrliche politische Debatte.
In der EU darf kein Flughafen mehr ausgebaut werden, dürfen keine zusätzlichen Landerechte vergeben werden. Durch Steuern und wegfallende Subventionen müssen die externen Kosten in die Preise internalisiert werden. Das alles ist bekannt. Doch die wesentlichen Dinge werden im heißen Sommer politisch nicht besprochen. Da hilft es eben nicht, wenn wir das Moralfass aufmachen. Die entscheidende Frage ist: Wie viele Menschen werden in Zukunft eine Partei wählen, die sich dafür einsetzt, dass das Fliegen teurer und vielleicht sogar beschränkt wird? Und das, obwohl potenzielle Wählerinnen und Wähler einer Klimaschutzpolitik heute nach Edinburgh düsen. Geht das? Ja, das geht. Viele Leute sind heute politisch für strenge Brandschutzgesetze, würden aber freiwillig keine Brandmelder kaufen. Paradox!
Quelle
Kommentar von MARTIN UNFRIED | ÖKOTAINMENT 2019 | Martin Unfried, Jahrgang 1966, ist Politologe. Er arbeitet in den
Niederlanden am European Institute of Public Administration (Eipa) und
seit 2016 auch an der Universität Maastricht. | Erstveröffentlichung: in fairkehr 1/2019