Der Große Krieg
Vier Jahre Erschöpfungskrieg. Zu dem großen Buch über den „Großen Krieg“ von Herfried Münkler. Von Rupert Neudeck
Das ist wohl das gelungendste Buch unter denen, die es bisher gibt. Autor Herfried Münkler ist immer auch in der Lage, über den Tellerrand seines Faches, der Historiographie zu schauen und immer wieder mal etwas einzuführen, was gar nicht in das Fach gehört. Da taucht plötzlich der Name Alexander Solschenizyn auf mit seinem Roman „August vierzehn“. Als der Kampf, der unter dem Begriff „Tannenberg“ jahrzehntelang um das kollektive Gedächtnis der Deutschen geführt wurde, in den späten 1960er Jahren irgendwie am Ende war, nahm er bei den Russen seinen Anfang. Und zwar eben mit dem 1971 erschienenen Roman „August Vierzehn“. Denn für Solschenizyn begann mit der Niederlage des russischen Zarenheeres in Ostpreußen der verhängnisvolle Weg zur bolschewistischen Machtergreifung bis zu Stalins Terrorherrschaft, dem von oben befohlenen und durchgezogenen Hunger in der Ukraine und dem Gulag in Sibirien.
Münkler hat das Buch geschrieben, das weit über die Militärgeschichte oder über die Schlachtreportage der furchtbaren vier Jahre des großen Krieges hinausgeht. Obwohl er auch das wieder bestechend bewältigt, genau die Verschränkungen des Primats der Militärs, des besonderen Verbunden- und Privilegiert-seins einzelner Generäle wegen der Protektion des Kaisers erzählt. Man nimmt das Buch in die Hand und sagt sich: zu schwer und zu dick, 924 Seiten – aber man liest es mit beständiger Spannung und einem gehörigen Entsetzen. Weshalb vernünftige, aufgeklärte Völker in unserem Europa – die anderen Kriegsschauplätze waren ja von den Mächten Europas ausgewählt (Ägypten, Libyen, Palästina, die Türkei, die Dardanellen, der Balkan, sofern man den nicht unbedingt zu Europa gehören lässt) – vier ganze Jahre ihre Millionen-Wehrpflichtarmeen verbluten und ausbluten ließen, das ist nicht zu fassen. Man glaubte von der Marneschlacht, der Somme-Offensive, dem Feldzug in Ostpreußen und Galizien, dass das immer schon der Höhepunkt an Blutopfern war, aber dann kommt es Anfang 1916 noch mal zur Erschöpfungsschlacht dreier Heere in Verdun. Der deutsche Oberbefehlshaber Falkenhayn war sicher, dass die Deutschen immer weiter in der Lage wären, mehr Gegner zu töten als in ihren eigenen Reihen selbst getötet wurden. Die Verluste der Franzosen überstiegen bisher die der Deutschen um das Zweieinhalbfache – was auch schon eine furchtbare Rechnung ist bei zig-tausenden von getöteten Soldaten beider Seiten. Allerdings hatte der deutsche General nicht bedacht, dass die Franzosen 1915 – also im ersten ganzen Kriegsjahr überwiegend angegriffen und die Deutschen ihre Defensivfestungen nur verteidigt hatten. Jetzt aber griffen die Deutschen an in der blindwütigen Absicht, mit dieser Schlacht den Endsieg oder überhaupt die Siegwende herbeizuführen. Die Franzosen hatten jetzt den Vorteil der Verteidigung. Auf einem Schlachtfeld von 300 qkm sind „knapp dreihundertzwanzigtausend französische und rund zweihundertachtzigtausend deutsche Soldaten gefallen“.
Das alles macht der Autor in einem dieser lang erzählenden und immer präzise belegten Kapitel deutlich: Die „Vorteile der Verteidigung gegenüber dem Angriff“. Der Historiker Niall Ferguson hat die „Tötungseffektivität“ beider Seiten auf Grund der vorliegenden Zahlen berechnet. Die Mittelmächte waren danach, „obwohl ökonomisch im Nachteil, weit erfolgreicher als die andere Seite, ihre Feinde zu töten“. Und noch einmal nüchtern-grausam: „Wenn es um Menschenschlächterei ging, dann waren die Mittelmächte etwa um ein Drittel effektiver als ihre Gegner“. Noch deutlicher trete die „Nettoeffektivität“ des Kämpfens bei den Gefangenenzahlen zutage. Wenn man alle Zahlen über die Verluste an der Westfront zusammennimmt, so kann man zeigen, „dass es von August 1914 bis Juni 1918 keinen Monat gab, in dem es die Deutschen nicht schafften, mehr Soldaten der Entente zu töten oder gefangen zu nehmen, als sie ihrerseits Kämpfer verloren“.
Es sind neun große wuchtige Kapitel von einer Länge, die für ein eigenes Buch reichen würden. Das beginnt mit den „Langen und Kurzen Wegen in den Krieg“ (1.) und der Frage, ob der deutsche Militarismus ein Kriegstreibender Faktor war? Das Kapitel könnte auch überschrieben sein: der vermeintliche Zwang zum Präventivkrieg“. Das zweite Kapitel beginnt mit der trügerischen Phase nach der Kriegsbegeisterung und dem Bewusstsein, dass eine „schnelle Entscheidung in wenigen Wochen“ bevorsteht. Und beschreibt kontrastierend das „deutsche Scheitern an der Marne“ und die Katastrophe des russischen Heeres vor Tannenberg. Dann erklärt Münkler die Ziele des Krieges (3.), die man kaum mehr als „Sinn des Krieges“ bezeichnen kann. In dem Kapitel macht er über die völlig verdrehte und paranoide deutsche Philosophie und Soziologie, die den „deutschen Geist“ in dem heroischen Opfersinn“ der blutigen Schlachten gestärkt sieht. Er berichtet in langen gut und bewegend zu lesenden Exkursen von Max Scheler, Georg Simmel, Max Weber, Werner Somnbart. Damals gab es auch die Erwartung, z.B. beim Kanzlerberater Kurt Riezler: „Der europäische Gedanke, wenn er sich weiter denkt, führt ganz allein zu solcher Konsequenz. Die Ermüdung und der nach dem Kriege zu erwartende Pazifismus. Man muss der Welt den ewigen Frieden versprechen“. Aber der Pazifismus kam nicht, sondernd der zweite Grosse Weltkrieg.
Das zentrale (4.) Kapitel geht um den festgefahrenen Krieg: Der Krieg gräbt sich bildlich und konkret ein. Leben im Felde: Latrine und Bordell ist eines der interessantesten Kapitel bei Münkler. Es gab überall Bordells für Offiziere und für Mannschaften. Ernst Jünger, den Münkler zitiert, habe die wilde Prostitution dem regulierten Bordellbetrieb vorgezogen und das sexuelle Vergnügen als eine Abwechselung betrachtet, die dem ständig der Todesgefahr ausgesetzten Krieger zustand.
Wie glänzend das Buch geschrieben ist, zeigt sich immer dann, wenn der Autor wie selbstverständlich aus den historiographischen Berichten in die große Erzählung parallel zum Kriege übergeht. Bei der Wichtigkeit des Verrichtens der Notdurft gab es in dem „Braven Soldaten Schwejk“ von Jaroslav Hasek einen Zugang zum Thema Fäkalien. Beim Transport der Marschkompanie kommt es zu einem längeren Aufenthalt. Dann tritt die Kompanie in größeren Gruppen den Gang zur Latrine an. Die Rekruten sitzen in einer Reihe über dem Donnerbalken, als der General und sein Adjutant und der Zugführer Leutnant Dub zum Latrineneingang kommen. Schwejk empfand als einziger den Ernst der Lage, sprang mit herabgelassenen Hosen in die Höhe und salutierte. Daraufhin erhoben sich auch alle anderen und salutierten. Leutnant Dub will dem General sagen, der Schwejk ist als Idiot bekannt, ein notorischer Dummkopf. Doch der General habe betont, Schwejk habe als Einziger die Lage richtig erkannt. Vor den bereits wieder auf der Latrine sitzenden Soldaten belobigt er Schwejk: „Achtung vor dem Vorgesetzten, Kenntnis des Dienstreglements und Geistesgegenwart bedeutet beim Militär alles. Und wenn sich dazu noch Tapferkeit gesellt, gibt es keinen Feind, den wir fürchten müssen“.
Nach dem Kapitel (5.) über die Entscheidungsschlachten, die keine Entscheidung bringen, beschreibt der Autor die Ausweitung der Kämpfe (6.): Der eingeschränkte und der uneingeschränkte U-Boot Krieg“. 1917 ist dann sogar (7.) der Krieg erschöpft. Friedensmissionen, die schon längst auf der Hand gelegen hätten, werden verhindert. Bethmann-Hollweg wird deshalb gestürzt. Das achte Kapitel geht der unverantwortlichen Vabanque Politik Ludendorffs nach und dem Zusammenbruch der Mittelmächte mit Deutschland an der Spitze. Die Vereinigten Staaten wurden fahrlässig wegen des uneingeschränkten U-Boot Krieges in den Krieg hineingezogen und damit war er endgültig 1918 für die Mittelmächte verloren.
Ich will einen linguistisch-semantischen Kritikpunkt erwähnen, der vielleicht subjektiv erscheint, aber mir bei der Lektüre doch immer wieder gekommen ist. Ganz gleich, wo sich Münkler in diese Schlachtenbeschreibung vergräbt ob mit oder ohne Anknüpfung an Clausewitz, so hat das doch Anklänge manchmal an eine grausige Sportreportage. Denn diese Schlachten sind mit so viel zigtausenden, dann hunderttausenden von Toten gepflastert, die da auch oft unbegraben in Verwesung herumliegen und einen unerträglichen Gestank verbreiten, dass es dem Leser des 21. Jahrhunderts manchmal schlecht und zu viel wird. Er wünscht sich dann sehnlichst einen wirksamen politischen Pazifismus, einen so kraftvollen, der so etwas nicht mehr zulassen wird.
Münkler wäre als Historiker und politischer Publizist, der sich durchaus in die aktuellen Auseinandersetzungen und die Formate der Tagespublizistik hineintraut, nicht der, als der er bekannt ist, wenn er den Ersten Weltkrieg nicht bis in unsere Tage extrapolieren würden: „Das heutige China in der Position des wilhelminischen Deutschlands“.
Obwohl das nicht der unmittelbare Schluss ist, gibt der Autor zu erkennen, worum es ihm in der Geschichtsschreibung geht. Die Vorstellung, aus der Geschichte sei zu lernen, sei immer ambivalent gewesen. Es müsse strategisches und systemisches Lernen auseinandergehalten werden. Strategisches Lernen würde bedeuten: China würde die Fehler nicht wiederholen, die Deutschland beim ersten großen Krieg gemacht habe. Ein systemisches Lernen wäre darauf gerichtet zu verhindern, „dass Konstellationen wie die, aus denen der Krieg 1914 bis 1918 hervorgegangen ist, überhaupt entstehen“. Ist der Autor da optimistisch? Er legt sich nicht fest. Die Gefahr bestehe darin, sagt er, dass sich systemisches und strategisches Lernen gegenseitig blockieren. Die These von der „Unvermeidlichkeit“ eines Ereignisses darf nie wieder akzeptiert werden. Die jugoslawischen Balkankriege nach 1991 waren eine deutliche Warnung vor einem Irrglauben. Dem Irrglauben, dass diese Konstellationen ganz und für immer überwunden seien und „die Theorie des demokratischen Friedens der Schlüssel einer dauerhaften Friedensordnung in Europa“ sei. Keine Debatte in Deutschland ohne Bezug und Stellungnahme zu dem „Griff nach der Weltmacht“ von Fritz Fischer. Der erste Weltkrieg, so Münkler, habe nicht allein deshalb stattgefunden, weil ihn die Führung Deutschlands im Juli 1914 gewollt habe. Das habe uns schläfrig gemacht: „Solange es in Europa keine Regime wie das Kaiser Wilhelms oder Adolf Hitlers gab, musste man mit keinem weiteren Krieg rechnen.“ Die Balkankriege haben das obsolet gemacht, außer dass man in dem serbischen Präsidenten Milosevic einen neuen Hitler gesehen hätte, was ja einige getan haben. Münkler am Schluss seines bewundernswürdigen Buches: Auf diesem Weg werde es noch viele Hitlers geben.
Quelle
Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014