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Der Tiefe Staat

Die Unterwanderung der Demokratie durch Geheimdienste, politische Komplizen und den rechten Mob. Staatskrise – bis heute nicht grundlegend ermittelt und reformiert Zu einem neuen Buch von Jürgen Roth. Von Rupert Neudeck

„Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu.“ Diese katastrophale Fehldeutung hat in Deutschland acht türkisch-stämmigen Mitarbeitern und einem griechisch-stämmigen Mitbürger das Leben gekostet. Diese Fehldeutung hat aber nicht irgendwer gemacht, sondern der damalige Innenminister Otto Schily.

Das Buch ist ein echter Jürgen Roth. Wenn jemand schon nicht mehr im Klappentext des Verlages ein ausgewiesener Autor sondern ein Bestseller-Autor ist, muss man aufpassen. Roth muss noch mal auf hundert Seiten die langen Schatten der Vergangenheit erläutern. Das hat der Autor aber schon mehrfach gemacht und das hätte er zur besseren Lesbarkeit des Buches besser gar nicht mehr erwähnt. Nicht weil es keine Schande ist, sondern weil wir das schon sattsam kennen. Der Hauptplot des neuen Jürgen Roth liegt auf der NSU Katastrophe und auf der Flüchtlingskrise in Deutschland, besonders im Freistaat Sachsen. Das ist haargenau das, was die Ombudsfrau für die Angehörigen der Opfer, Frau Barbara John, eine Staatskrise genannt hat, die bis heute nicht aufgearbeitet ist. Man begreift es immer noch nicht genau: Die diversen V-Männer, die für die Nicht Aufklärung der NSU Morde zuständig waren, sind alle Staatsangestellte, bezahlt von unseren Steuergeldern. Es gab in Köln einen V-Mann des Verfassungsschutzes, der als Vize-Chef der rechtsextremen Kameradschaft Köln aktiv war.

Die Chefin des Verfassungsschutzes NRW Mathilde Koller habe eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Phantombild eines Mannes ausgewiesen, der an dem Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse beteiligt war. Später dementierte der von Koller ins Spiel gebrachte V-Mann jede Beteiligung an dem Attentat. Die Quellen, die in Thüringen bereit waren, gegenüber der Polizei offen zu sprechen und über die kriminellen Netzwerke der Thüringer Neonazis auszusagen, wurden vom Landesamt für Verfassungsschutz und dem MAD, dem Militärischen Abschirmdienst massiv eingeschüchtert, „so dass sie daraufhin den Kontakt zur Polizei abbrachen“. Es wurde bei einer Durchsuchung der Garagen in Jena am 26. Januar 1998 eine Liste der Neonazis gefunden. Darunter waren auch die V-Leute diverser Sicherheitsbehörden, z.B. Thomas Starke (VP 562 Berlin Landeskriminalamt), Tino Brandt (VP 2045 Thüringer Amt), Kai Dalek (Deckname unbekannt, Bayerische Am). Thomas Richter (V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz). Diese Liste wurde aber nicht weiter gegeben, sie schmorte verschollen in einer Asservatenkammer. Dem Trio standen zeitweise sieben Wohnungen in Eisenbach zur Verfügung, die teilweise von V-Männern angemietet waren. In dieser Zeit wurden in Chemnitz und in Zwickau elf Raubüberfälle begangen und 270.000 Euro erbeutet.

Wie kann der Bürger weiterhin das Vertrauen in den Rechtsstaat haben oder behalten, wenn er weiß, dass in der Tiefe des Staates diese Dienste gegen die Aufklärung und manchmal für die Mörder arbeiten. Die Staatskrise, die durch den NSU-Skandal ausgelöst wurde,  ist noch lange nicht gelöst geschweige denn erledigt durch Urteile und klare politische Entscheidungen. Die könnten natürlich so aussehen, dass wir auf Grund der offensichtlichen Nichtsnutzigkeit der Dienste auf den größten Teil derselben zugunsten unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verzichten. Das wäre die einzige sachgemäße, rechtsstaatliche und demokratische Antwort auf den Zusammenbuch des Rechtsstaates innerhalb der NSU-Katastrophe. Bisher aber suhlen sich Abgeordnete wie Journalisten in dem Gemeinspruch: Dass ein moderner Staat eben so etwas wie einen Verfassungsschutz und Ähnliches haben muss. Muss er, fragt sich der Leser nach der Lektüre dieses guten Buches? Das gut geschriebene Buch von Jürgen Roth ist auch so etwas wie eine lesbare Form  des dicken, unanständig dicken Buches von Sean Aust und Dirk Laabs: Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU. Am besten macht das immer noch der Rechtsanwalt der Nebenkläger, Mehmet Daimagüler klar. Roth zitiert ihn aus einem Beitrag für ZEIT online. Er kann sich nur an den Kopf fassen, dass ein Neonazi-Zeuge mit einem Anwalt auftaucht, der vom Verfassungsschutz bezahlt und ausgewählt wurde. Wörtlich: „Nicht die Kaltschnäuzigkeit einer Beate Zschäpe macht mich fassungslos, sondern die Dreistigkeit einer Bundesanwaltschaft, die behauptet, der NSU-Komplex sei ‚ausermittelt‘“. Dabei hätten sie durch die Aussagen des Angeklagten Carsten S. im Gerichtssaal in München erfahren, dass der NSU nicht zwei, sondern mindestens drei Bombenanschläge verübt hat. Hochrangige BKA-Beamte berichten, dass das Trio zumindest nach der Flucht vom Verfassungsschutz geschützt wurde.

Das Buch ist flüssig geschrieben, es geht von dem Skandal der NSU-Krise weiter zu den „Szenen aus menschenfeindlichen Landschaften“ in der Ex-DDR am Beispiel von Freital, Tröglitz, Meißen, Heidenau und anderen Orten. Es ist eine Szenerie der Feigheit, viele Bürger wollen das eigentlich nicht so mitmachen. Aber sie trauen sich nicht. In Tröglitz sollten in einem Wohnhaus 40 Flüchtlinge untergebracht werden. Dagegen wurden Anfang 2015 sonntägliche Demonstrationen veranstaltet. Organisiert hatte sie der NPD-Parteirat. Was den Leser auch daran erinnert, dass es diese NPD nur deshalb noch gibt, weil der Verfassungsschutz ähnlich herumgeast hat mit V-Leuten in der Führungsspitze der NPD wie gleichzeitig bei den Terroristen und Mördern der NSU. Und damit das Parteiverbot der NPD durch das Bundesverfassungsgericht vergeigt hat. Der Bürgermeister des kleinen Ortes Markus Nierth organisierte mit dem Ortspfarrer Friedensgebete und setzte sich heftig für diese wenigen 40 Asylsuchenden ein. Am 9. März 2015 musste Nierth sein Amt aufgeben wegen massiver Bedrohungen und fehlenden Schutzes. Das im Deutschland von 2015!! Interessant wie schlecht die Polizei den Brandstiftern auf die Schliche kommt. Es sind in vielen Orten, Städten und Dörfern Brandstiftungen, aber besonders viele im den Ost-Ländern, die fast alle nicht aufgeklärt werden.

Der Autor geht auch noch mal auf die beschämenden Angriffe auf Flüchtlinge in Rostock Lichtenhagen zurück und Hoyerswerda. In Freital, einer Gemeinde, in der mal gerade 27 Asylbewerber sich aufhielten, gab es eine Demonstration. Es gab auch in Freital einen Einbruch in das Gewaltmonopol des Staates durch eine Bürgerwehr. Abgesehen davon, schreibt Roth, dass es zwei ältere Männer gab, die die Hand zum Hitlergruß erhoben und sofort von der Polizei angezeigt wurden, blieb es friedlich. „Umstehende störten sich nicht an dem Hitlergruß, sondern am Einschreiten der Polizei.“

Es wird einem noch mal ganz schön mulmig, wenn man die furchtbare Mordversuchsgeschichte von Rostock-Langenhagen bei Roth liest. Es hatten sich in dem brennenden Gebäude ja 120 Vietnamesen aufgehalten sowie ein ZDF-Fernsehteam und der Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter. Sie alle hatten Todesangst. Das Beispiel muss uns noch lange beschäftigen. Am 24. August 1990 wurde in Lichtenhagen von den rechtsextremen Anführern der Polizei ein „Waffenstillstand“ angeboten! Dann wurde von einer Zahl von Randalierern Molotowcocktails in das Gebäude geworfen. Die Feuerwehr war da, aber löschte nicht. Wir kommen da nicht ran, sagten sie. Die Polizei wiederum hatte sich zurückgezogen.

Der Polizeichef erinnert sich, dass die Polizeikräfte unter Sondersignal weg fuhren und die Feuerwehrkräfte allein am Einsatzort waren. Die Vietnamesen und das TV-Team konnten sich in letzter Minute retten. Am Tag danach gab es in Lichtenhagen Volksfeststimmung mit Würstchenbuden, Bierständen, alkoholisierten Bürgern und rechtsradikalen Sturmtrupps. Der ZDF-Reporter Jochen Schmidt sagt voller Empörung, dass er zwar Gewalt hasst, aber in diesem Moment habe sich bei ihm alles umgedreht. „Warum knüppelt die Polizei nicht einfach los, jedem auf die Schnauze, der nicht sofort abhaut? Die alle haben es verdient, alle 3000 ohne einzige Ausnahme“.

Das Buch ist durchzogen von einem ziemlich bleiernen Pessimismus. Man könnte versucht sein auszuwandern. Und ich würde es auch heftig kritisieren wegen dieser einseitigen Konzentration auf die schlimmen Nachrichten. Und vielleicht ist es auch wichtig, dass man dem Autor sagt: Es gibt auch ein mächtiges anderes Deutschland. Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger haben sich sofort nach der Ankunft der Flüchtlinge aufgemacht und sind in die EMAs, die Asylheime, die Bahnhöfe  gegangen, wo sie sofort an die Arbeit gingen. Ohne diese Bereitschaft von Millionen Bürgern wäre die Aufnahme zusammengebrochen, wenn man sie der pomadigen und umständlichen Behörde überlassen hätte, der immer nur zweierlei einfällt: Wir haben nicht genug Geld und wir haben nicht genug Personal.

In der allerletzten Minute der Lektüre, auf den letzten drei Seiten eines Buches, das stolze  364 Seiten zählt, kommt der Autor aus auto-psycho-hygienischen Gründen dazu das wenigstens am Schluss noch zu erwähnen: „weil ansonsten alles ziemlich hoffnungslos wäre“.  Denn es gäbe sie tatsächlich, die lebendige zivile Bürgergesellschaft. Gäbe es diese Bürger nicht, dann gäbe es keine Hoffnung. „Der Staat im Staate oder auch der Tiefe Staat. Dem daran liegt, diese zivile Bürgergesellschaft zu zerstören, er hätte endgültig gesiegt“. Er beschreibt, wie schwer es ist, seinem 9jährigen Enkel Emil diese Hoffnung zu vermitteln.

Was ich vermisse ist eine Nutzanwendung aus der NSU-Staatskrise, die bis heute andauert: Wir brauchen diese Dienste nicht, die uns nur hindern, das NPD-Verbot durchzukriegen und den Mord an zehn Mitbürgern aufzuklären. Das wüsste ich gern genauer von dem Autor, wie er die Bedingung der Möglichkeit solcher Dienste weiter sieht, die sich solche unglaublichen Staatsaktionen aus eigener Kraft zugetraut haben.

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Quelle

Rupert Neudeck 2016Grünhelme 2016

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