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Riemann Verlag | Christian Schwägerl " Die analoge Revolution: Wenn Technik lebendig wird und die Natur mit dem Internet verschmilzt"

© Riemann Verlag | Christian Schwägerl " Die analoge Revolution: Wenn Technik lebendig wird und die Natur mit dem Internet verschmilzt"

Die analoge Revolution: Wenn Technik lebendig wird und die Natur mit dem Internet verschmilzt

Philosophie der digitalen Medien? Zu einem mystisch und optimistischen Buch. Von Rupert Neudeck

Das ist noch ein vergleichsweise optimistisches Buch über die analoge (und damit auch digitale)  Revolution. Der Untertitel beleuchtet schon die These des ganzen Buches: „Wenn Technik lebendig wird und die Natur mit dem Internet verschmilzt.“ Der Autor berichtet erst eine erschreckende Erfahrung, die die frühere IT-Managerin Linda Stone beschrieben hat. Digitale Techniken greifen in die Aufmerksamkeit des Menschen immer wieder ein. 2007 fiel Lina auf, dass sie jedes Mal merkte, wenn sie eine neue E-Mail o.ä. erhielt oder ihren Webkalender öffnete, dass sie am Computer für sehr lange Zeit arbeitete ohne zu atmen. Linda Stone fragte sich, ob es allen Menschen so gehe auf der Erde? Sie nannte das Phänomen E-Mail Apnoe, oder E-Mail Atemstillstand.

Mediziner beschrieben ja, was wir alle wissen – immer schon – der Platz vor dem Laptop ist ungesund, nicht gerade sitzt man, mit eingequetschten Organen und nach vorne gebeugt. Der Autor ist aber nicht nur für die Risiken zuständig, sondern auch die Chancen. Die Menschheit könne mit den digitalen Technologien unvergleichliche Schätze und Freiheit gewinnen oder Desaster erzeugen!

Ganz harsch setzt er den deutschen Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in seine Schranken. Der habe gesagt, er könne sich damit trösten, dass er im Falle des Falles sein Handy wegschmeißen und auf das Internet verzichten kann. Schwägerl: Er kann gar nicht. „Ein solcher Schritt würde einen vom sozialen und technischen Fortschritt abschneiden, aber nicht aus der digitalen Sphäre heraustreten lassen“. Enzensberger würde auch ohne Handy Daten in Hülle und Fülle erzeugen: Beim Einchecken im Hotel, am Flughafen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, beim elektronischen Bezahlen, in der Gesichtserkennungssoftware von Facebook, und in Einkaufzentren.

Ich bewundere den Autor, der das ganze Buch über zukunftsfröhlich bleibt, auch bei der Entwicklung der Roboter und der selbstfahrenden Autos. Ein Chef des Softwarekonzern Autodesk hat uns prophezeit: Es wird 2050 mehr Roboter und intelligente Maschinen auf der Welt geben als Menschen. Denn was mit den Drohnen jetzt als revolutionäres Modell für die neue Kriegsführung beginnt, ist ja nicht weniger erschreckend als frühere kriegstechnische Erfindungen.

Das Alternative an dem Buch: der Autor verbirgt nicht seine Neigung zum Natur- und Welt-Mystiker. Das muss man wahrlich nicht als Schimpfwort verstehen und wer es dennoch tut ist selber schuld. Wenn er im dritten Teil „Lebensnetz“ beschreibt, dass er am Strand von Ratum auf der Insel Sylt steht und „vor mir rauscht das Meer, das ultimative Internet, das der Wasserkörper, der alles verbindet und das Innere unserer Körper speist“. Vor seinen Füßen liegt da plötzlich ein Kabel. Das sei wohl das transatlantische Datenkabel AC-1, von dem bekannt sei, dass es exakt hier verläuft. 14.000 km sei dieses Kabel lang, es bilde einen transatlantischen Ring. Von Sylt gehe es direkt zur amerikanischen Ostküste, nach Brookshaven.

Und noch mal der Mystiker, der moderne Meister Eckhard oder Teilhard de Chardin: „Ich stelle mir die dunklen Tiefen vor, durch die dieses Kabel führt, durch Fischgründe und über Meeresrücken. Und in dem Kabel können gleichzeitig 625.000 Telefongespräche laufen, verschlüsselt in Lichtimpulsen.“ Und dann als Apotheose: Der menschliche Geist senkt sich in die Tiefsee ab und pulsiert von ihr umhüllt von einer Kunststoffschicht. Hier sei die Noosphäre greifbar. Der Autor hat zwei Patrone für sein Denken, die noch offline lebten: Der russische Geologe Wladimir Wernadsky und der Geologe und Jesuit Teilhard de Chardin, sie beide sprachen von einer „Noosphäre“, einer Sphäre des Geistes und des Bewusstseins, die zu Geosphäre, Atmosphäre, Biosphäre und Technosphäre hinzutrete und beginne, diese zu beeinflussen.

Die Katholische Kirche hat das, was Teilhard vorausgedacht hat, bis heute nicht voll rezipiert. Das könnte unter Papst Franziskus noch bevorstehen. 1955 kam sein Buch „Der Mensch im Kosmos heraus, das fast Index-verdächtig war. Er zitiert ihn: „Die Welle, die uns durchzieht, hat sich nicht in uns selbst gebildet. Von weit her kommt sie zu uns – sie begann Ihren Weg mit dem Licht der ersten Sterne.“ 

Der natur-mystische Aspekt spielt in dem ganzen Buch mit. Sowohl im ersten Teil, den der Autor Mononetz überschreibt wie im zweiten, das den Titel „Dunklenetz“ trägt. Der dritte Teil ist dann das Lebensnetz, der vierte das „Allesnetz“. Vor erstaunlich wenigen Jahren, schreibt Schwägerl, waren all die Maschinen, die uns heute selbstverständlich umgeben, noch reine erste Natur. Das Kupfer der Mobiltelefone lagerte im Untergrund von Südamerika. Die seltenen Erden in China, der Graphit in Sri Lanka und die Kohle, die für die Produktionsenergie verbrannt wurde im Boden von Südafrika. So komme der Begriff der technologischen Blüte zu einer neuen Wirkung.

Der Mystiker Schwägerl: Stellen wir uns eine Erde vor, auf der im Rhythmus der Jahreszeiten Milliarden Smartphones, Hunderte Millionen Autos als anorganische Lebewesen direkt aus der Erdkruste herauswaschen und beginnen sich aus ihrer Umwelt von Erdöl und elektromagnetischen Feldern zu ernähren. Ganz knallhart realistisch und anklagend wird er, wenn er die Wirtschaftszweige benennt, die von der Öffentlichkeit bei uns außen vor gelassen werden. Firmen wie BHP Biliton, Glencore    XStrata, Vale, Rio Tinto und China Shenshua Energy Company operieren in abgelegenen Erdregionen (Kongo z.B.), profitieren von unfassbaren Lizenzgeschenken und Subventionen durch Regierungen und müssen nicht für die lange Kette der Umweltschäden ihrer Produktion haften.

Die Technosphäre ist bisher ganz schlecht darin, Abfälle zu vermeiden und ihre Komponenten wieder zu verwerten. Global fallen jährlich knapp 60 Millionen Tonnen Elektroabfälle an, 7 Kilogramm pro Erdbewohner im Durchschnitt, 30 Kilogramm pro US-Amerikaner. Bisher, so der Autor, landen weniger denn 10 Prozent der Elektroabfälle in fachkundiger Verwertung.

Das Schöne an dem Buch: es ist nicht irgendwie fachidiotisch verengt und stromlinienförmig zugerichtet. Der Autor verweist auf Vorgänger, die noch nicht ahnten, was online und offline für Wichtigkeiten haben können. Es geht um Alfred Döblin, den wir nur durch „Berlin Alexanderplatz“ und seine Emigration kennen. Das Buch macht bekannt mit einem Erweckungserlebnis des Döblin. Er fuhr 1921 von Berlin an die Ostsee, um dort Urlaub zu machen. Am Strand von Arendsee geschah nun das, was dem Schriftsteller, damals 40 Jahre, passierte: Er habe „einige Steine gesehen, gewöhnliches Geröll, das mich rührte“. Steine und Sand nahm er mit nach Hause. Schwägerl macht darauf aufmerksam wie vorher dieser Döblin nur ein Großstadtmensch ohne Blick auf Natur und Umwelt war. Jetzt aber hatte er wirklich ein einschneidendes Erlebnis, das der Autor eine eigene Art von analoger Revolution nennt. Angestoßen von der Begegnung mit anorganischer Natur erlebte er „täglich die Natur als das Weltwesen, das ist: Das Schwere, das Farbige, das Dunkel, die zahllosen Stoffe, als eine Fülle von Vorgängen, die sich lautlos mischen und durchkreuzen“.

Drei Jahre nach diesem Erweckungserlebnis veröffentlichte Döblin das Buch „Berge, Meere und Giganten“, dessen Handlung sich vom Ende des 20. bis zum 27. Jahrhundert bewegt und das Ringen zweier Grundkräfte in der Menschheit der Zukunft beschreibt: „einer Natur-affinen Strömung und einer technokratischen Ideologie“. Man kann das Buch gar nicht überschätzen, es sei – so wird Günter Grass zitiert – wie unter visionärem Überdruck geschrieben. Und auch heute kommt diesem Buch eine große Relevanz zu, wenn man durch die zeitbedingte Sprache hindurchschaut. „Es handelt sich um die größte und wichtigste Science Fiction in deutscher Sprache“. Die Offenheit für das Verbindende in der Natur führt zu offenen, fließenden dezentralen Strukturen. Übersetzt in die Technosphäre heißt das:  offener, freier Austausch, kooperatives Entscheiden, eine planetarische Demokratie, „die letztlich alles Anorganische und Organische einzubeziehen versucht – ein Internet, das über die Menschensphäre hinauswächst“.

Der Autor lässt sich nicht bremsen, wenn er auch noch die Rolle des digitalen Internet bestimmt: Das sei ein Versuch, die viel komplexeren und älteren Internets der Protoplasmen, Bodenorgansimsen, Nervenzellen mit neurogeologischen Mitteln aufzugreifen und neu zu interpretieren. Wer dieser Spur folge, so der Autor, komme in eine Welt, in der sich eben nichts mehr isolieren und vereinzeln lasse.

Das Buch macht Mut, die Welt der digitalen Revolution wieder mit Freude, aber noch nicht mit Zuversicht zu sehen. Oft ist sie ja angeschwärzt durch Erscheinungen der Blogger, die einfach irgendetwas in die Debatte werfen, die Vereinzelung des Smartphone-Besitzers in dem ICE usw. Der Mystiker Schwägerl appliziert das Beispiel von Döblin: „Wer heute an einen Strand geht oder auch nur vor die Tür tritt oder in der Wohnung bleibt und die Dinge betrachtet, die aus aller Welt zu uns kommen in Form von Lebensmitteln, Elektronik, Kleidung, habe die Chance, ein ähnliches Erlebnis zu erfahren, wie Döblin vor fast hundert Jahren am Ostseestrand. Eigentlich müsste ja die Wissenschaft dazu beitragen können, jeden Tag das analoge Verbunden sein, das Teilen der Erde mit Steinen, Pflanzen, den Wert allen Lebens auszukosten. Doch dem sei nicht so. Es sei vieles exotisch geblieben und erscheint heute esoterikverdächtig, wie Döblin wahrzunehmen, „obwohl es ja darum geht, als Mensch in das Phänomen Leben und das Phänomen Erde einzutauchen, also um das natürlichste von der Welt.“

Auch im Fall des Journalismus ist der Autor optimistisch. Die großen Medienhäuser, in denen Verleger und Chefredakteure vorgeben was wichtig ist, werden ergänzt demnächst durch lokale, regionale, nationale und europäische Netzwerke, in den Journalisten zu Themen weniger starre und weniger hierarchische Verbünde eingehen“.

Man kommt aus dem guten Widersprich nicht heraus. Einerseits ist das Internet im letzten Vierteljahrhundert die großartigste Neuerung der jüngeren Erdgeschichte. Andererseits umgibt sie uns mit vielen Gefährdungen und Gefahren. Kevin Kelly hält z.B. totale Überwachung von uns allen für unausweichlich. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass allgegenwärtiges Monitoring und Überwachen in 50 Jahren die Norm sein wird.“ Das Internet sei eine Maschine zur Verfolgung von Spuren. „Wir werden ununterbrochen uns selbst überwachen und von einem größeren Netzwerk von Unternehmen und Regierungen überwacht werden“. Kelly hat einen Trick, er meinte man müsse die sur-veillance (Über-Wachung) nur noch als „co-veillance“ verstehen, bei der sich die Überwacher gegenseitig überwachen. Da droht natürlich der „technologische Totalitarismus“, vor dem Martin Schulz gewarnt habe. Die künstliche Intelligenz auf die wir bei Google zusteuern, wäre eine neue Natur, von und in der wir leben sollen. Es wäre eine biogeosoziopsychotechnologische Totalität. Die alle umgibt. Der Autor schließt seine Warnung noch heiter: „Wir könnten, wenn die Öffentlichkeit weiter müde und matt bleibt, in Europa ins Bett gehen und in Googlonia wieder aufwachen.“

Im letzten Kapitel ergibt sich der Autor der Beschreibung der Utopie, die er „Technatur“ nennt, und der er noch mal einen Satz von Teilhard de Chardin mitgibt: „Die Welle, die uns durchzieht, hat sich nicht in uns selbst gebildet. Von weit her kommt sie zu uns – sie begann mit dem Licht der ersten Sterne“.  Die digitalen Produkte, die in Europa entstehen, sind keine Waffen der Massen-Überwachung. Der berühmte buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh bat Google bei seinem Besuch, „auf Produkte zu verzichten, die Menschen von sich selbst, von ihren Familien und von der Natur entfernen“ stattdessen Software und Geräte zu erschaffen, die „Menschen dabei helfen, zu sich selbst zu kommen“.

Die Utopie beginnt: Datenbrillen öffnen den Blick für die Natur. Sie stehen für den Übergang zu sinnlichen Technologien, die Menschen nicht mehr dazu zwingen, sich an Schreibtischen zusammen zu quetschen. Echte Utopie. Aus diesem Gemälde, das sich der Autor vorgenommen hat, es auszuführen, ist das Stromnetz eine Art soziales Netz geworden. Statt Großkonzernen erzeugen die Bürger ihre Energie selbst. Ihre Häuser hätten Fassaden aus nachwachsenden Algen und Dächer aus organischen Solarzellen, Batterien und Wassertanks speichern Erdwärme und überschüssigen Windstrom. Die Utopie wird immer schöner. Auch das Verkehrsnetz sei jetzt ein soziales Netz geworden, in dem es fast keinen Individualverkehr mehr gibt. Die Fahrradstraßen, Teilautosysteme. Fernbusnetze und öffentlichen Verkehrssysteme erlauben eine Mobilität ohne Energieverschwendung.

Das herrliche Wort Technatur wird man aus diesem Buch nicht mehr vergessen. Wenn das mal eine Wirklichkeit wird. Pourvu que ca dure, sagte Napoleons Mutter zu Ihrem Sohn: Wenn das man anhält.

Christian Schwägerl „Die analoge Revolution: Wenn Technik lebendig wird und die Natur mit dem Internet verschmilzt“ – online bestellen!

Riemann Verlag | Palle von Kistowski | Christian Schwägerl ist Journalist, Autor und Biologe.
Quelle

Rupert Neudeck 2016Grünhelme 2016

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