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Die Patchwork-Lüge

Seltenheitswert Kind und Familie. Zu einem wichtigen Streitbuch von Melanie Mühl. Von Rupert Neudeck

Neulich rannte die elfjährige Tochter der Nachbarin mit einem Bild durchs Treppenhaus, das sie in der Schule gemalt hatte – so beginnt Melanie Mühl ihr Kapitel Lebenslüge in dem Buch „Patchwork-Lüge“. Das Thema in der Schule hatte geheißen: Meine Familie. Das Kind hielt jeden fest, der vorbeikam. „Die in der Mitte sind meine Mama und mein Papa. Und das da sind Klaus, mein zweiter Papa, und Eva, meine zweite Mama. Der Hund gehört Eva.“ Das sei der Mythos und Aberglaube der Moderne: „Viele Bezugspersonen sind besser als wenige“.

Das Buch streitet darum, dass Scheidungen als Grundelement der „Patchwork-Lüge“nichts Lustiges und schon gar nicht Förderliches sind für Kinder, die Scheidungskinder sind. „Scheidungskinder wachsen mit der Gewissheit auf, dass nichts von Bestand ist.“ Der Bruch, den die Scheidung bedeutet, ist für das Kind ein Schock. „Mit ihm verlieren Kinder ihr Urvertrauen. Die Behaustheit bekommt einen Riss, der sich nicht kitten lässt.“

Die Familie – so Melanie Mühl – sei der größte Schutzfaktor für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Wenn sie intakt sei, verringere sich laut der Bella Studie des Robert Koch-Instituts die „Wahrscheinlichkeit für psychische Anfälligkeit stark“.

Die Gesellschaft durchziehe ein schlechtes Gewissen. Jeder weiß, dass eine Scheidung mit Schmerzen und Verlusten einhergeht, sonst wäre sie keine Scheidung. Aber durch die statistische Normalität, die eine Scheidung fast statistisch normaler mache denn eine langdauernde Ehe, gibt es ein schlechtes Gewissen, das zu kompensieren die Politik nicht müde wird. Politik ist ja nicht ein Korrektur-Zucht-Programm, sondern ein Kompensationsmanagement zugunsten der eigenen Wiederwahl.

Eine zweite Grundtatsache, die kompensiert werden muss: Kinder haben Seltenheitswert in unserer Gesellschaft. Ein Tabu, an das die Autorin noch nicht rührt, sind die Hunde und Haustiere. Die machen im Zweifelsfall natürlich nicht so viel Arbeit wie Kinder.

Kinder so schreibt sie in einer klaren Sprache, die das Buch auszeichnet, haben „Seltenheitswert“ Und wenn dann sind es Einzelkinder, die gebieterisch ein Erfolg sein sollen. Damit, so die Autorin, wird die Kindheit abgeschafft. So wie es der Psychologe Michael Winterhoff in seinen Büchern auch darstellt.

Der Seltenheitswert macht sie zu einem kostbaren Gut. Gegenüber Minderheiten verhält sich die Gesellschaft nie gleichgültig, sie werden entweder benachteiligt oder verwöhnt. Heute werde deutlich, dass ein großer Herd der Unruhe innerhalb der Gesellschaft zwischen Kinderlosen und Eltern mit einem oder zwei Kinder schwelen wird. Wenn Lehrer ein Kind kritisieren, verlangt das schlechte Gewissen der Eltern, das Kind gegen den Lehrer zu verteidigen.

Ein Schüler saß mit seinem Stuhl auf dem Pult der Lehrerin. Das nannte man früher Ungezogenheit. Die Lehrerin bat die Mutter des Schülers in die Sprechstunde. „Von der Ungezogenheit wollte die Mutter nichts wissen und brachte seine Kreativität ins Spiel, die er auch zu Hause auslebe.“

Das Buch ist wirklich eine schmissig geschriebene Streitschrift mit vier Kapiteln und einem Epilog. Im ersten Kapitel beschreibt sie die Patchworkwelt und die Fernsehpatchworkwelt, die beide mit der Illusion arbeiten, dass es da nichts zu beklagen gibt, bis in die Ehe des Bundespräsidenten und der tätowierten Frau Bettina Wulff. In den Fernsehprogrammen gibt es auch schon kaum noch Kinder, die Vorbildfiguren des TV sind Unverheiratete, Singles. Statistisch aufgedröselt: Die deutsche Normal-Frau bekommt im schnitt 1,36 Kinder, die deutsche Fernsehfrau nur 0,43, die im Krimi nur 0,29, was – so zitiert sie eine Untersuchung – das Filmleben zur Primetime zur quasi kinderfreien Zone macht“.

Das Buch deutet im Kapitel „Selbstoptimierung“ nur Widerstand an, sie fordert nicht auf, überzeugt durch die Analyse. Nicht allein die Gesetze der Marktökonomie dürfen wir für die Beziehung und Liebe zu Kindern verbindlich sein lassen. Das alles erschöpfe sich nicht im Nutzenmaximieren. Da zitiert die Autorin sogar Theodor Adorno, der in Nachfolge von Kierkegaard die Liebe nur möglich erscheinen lässt durch den Rückzug vom Diktat der Ökonomie.

Wie wenig harmlos die Analyse ist, zeigt sich an dem dritten Kapitel „Lebenslüge“, wo das Buch die Familienministerin Ursula von der Leyen heftig kritisiert. Ihr ging es oft zuerst darum, „ihre eigene Person und ihr Familienmodell medial ins bestmögliche Licht zu rücken“, was natürlich für einen Politikerin ein Normalfall sein dürfte. Sie führte das Elterngeld ein und schaffte das Erziehungsgeld ab. Das solle gutverdienenden Akademikern die Angst vor finanziellen Verlusten durch ein Kind nehmen und Anreize setzen, frühzeitig wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren, worüber sich die Wirtschaft freut. Die jungen Frauen sollen arbeiten, am besten sofort nach der Geburt wie die französische Justizministerin Rachida Dati, die fünf Tage nach der Geburt Ihres Kindes wieder ihren Dienst antrat.

Die Autorin hält fest: Es gibt die Kindheit nicht mehr als Schutz und Spielraum, sie ist nämlich schon die erste, vielleicht die wichtigste Stufe eines lebenslangen Optimierungsprozesses. Die Kinder sollten auch bald kapieren, dass der Weihnachtsmann eine Erfindung sei. Kinder sollen für eine Welt gewappnet sein, in der sie leichter unter die Räder kommen als sie ahnen.

Und die zweite Erkenntnis. Die Familie, im Grundgesetz noch überragend herausgehoben, spielt in dieser Gesellschaft eine Statistenrolle. Mühle: „Politik und Wirtschaft treiben ihren Auflösungsprozess zusätzlich voran, in dem sie die klassische Familie dem Niedergang ausliefern“. Wir hätten uns schon darauf eingelassen, dass die klassische Familie einen Anachronismus in unserer flexibilisierten Mobil-Welt darstelle.

Deshalb ist das ein ernstes Buch, nicht nur ein Versuch. Der Zusammenhalt in der Gesellschaft ist bedroht. „Kinder, die in unverbindlichen Sozialkonstruktionen aufwachsen, die sich selbst überlassen werden, verlieren jedes Gefühl für Bindungen, für Freundschaft, liebe und Solidarität“. Dass viele in Politik und Gesellschaft das nicht dramatisch finden, ist im Grunde das dramatischste Thema, für Gegenwart und Zukunft.

Quelle

Rupert Neudeck 2011Grünhelme 2011

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