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Depositphotos.com | migfoto | Prometheus

© Depositphotos.com | migfoto | Um den Menschen das Feuer zu verschaffen, stiehlt Prometheus im Himmel etwas Glut, verbirgt sie im hohlen, trockenen Stängel des Riesenfenchels und bringt sie zur Erde. Darauf leuchtet dort ein weithin sichtbares Feuer auf. Damit wird Zeus vor vollendete Tatsachen gestellt, das Geschehene lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Beim Anblick der Flammen wird der Göttervater von heftigem Zorn erfasst.

Die Reue des Prometheus

Peter Sloterdijk, der Philosoph, Kulturwissenschaftler und Publizist hat mit seinen Büchern und Abhandlungen viele Debatten ausgelöst. Eine Rezension von Udo E. Simonis

Im Jahr 1983 erschien sein Buch „Kritik der zynischen Vernunft“, ein Buch in zwei Bänden mit fast 1000 Seiten; ein Bestseller, der ihn unverzüglich bekannt und berühmt machte. Nun kommt, 40 Jahre später, sein kleinstes Buch, ein Buch von nur 80 Seiten. Es ist ein historisch und aktuell interessantes Buch, zwar schwierig zu lesen, aber so spannend, dass es gleich nach Erscheinen ausverkauft war und rasch nachgedruckt werden musste. Doch was steckt hinter dem seltsamen Titel „Die Reue des Prometheus“?

Von jeher muss der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur irgendwie organisieren. Ein wichtiger Faktor dabei war und ist die Arbeit. Als Prometheus, dem Mythos zufolge, seine Gabe auf die Erde brachte, kam ein weiterer entscheidender Faktor hinzu, das Feuer: Alle Geschichte bedeutet die Geschichte der Anwendungen des Feuers. Doch wo Bäume sich vormals nur einmal verbrennen ließen, verschoben sich die Gewichte der Faktoren Arbeit und Feuer mit der Entdeckung der unterirdischen Lagerstätten von Kohle, Öl und Gas gewaltig. Sloterdijk folgert daraus ein drastisches Ergebnis: „Die moderne Menschheit kann als ein Kollektiv von Brandstiftern gelten, die an die unterirdischen Wälder und Moore Feuer legen“. Kehrte Prometheus heute auf die Erde zurück, so schließt er, würde er seine Gabe bereuen, schließlich droht nicht weniger als die `Ekpyrosis`, der Untergang der Welt im Feuer. Die Katastrophe verhindern könne nur ein neuer, energetischer Pazifismus (S. 2).

In fünf Kapiteln – drei historisch-philosophischen und zwei aktuell-politischen Kapiteln – baut der Autor seine Argumentation auf. Das erste, kurze Kapitel ist dem Stoffwechsel des Menschen mit der Natur gewidmet. Historisch manifestiert sich die Macht des Feuers bei der Manipulation von Nahrungsmitteln, sie macht die Jagdbeute human genießbar; ohne die Alchemie der Hitze gelängte die Verwandlung von rohem Korn in Brot nicht. Das metabolische Regime, das die ältesten menschlichen Kulturen prägte, blieb für lange Zeit durch Kleinräumigkeit und relative Geringfügigkeit der Massenumsätze bestimmt. Vielfach entwickelte sich sogar ein Gefühl für die Reziprozität des Verhältnisses von Mensch und Natur; es traten explizit schonende Regelungen auf, wie zum Beispiel in der Waldpflege des alten China. Andererseits sehen es Paläontologen inzwischen als erwiesen an, dass durch die Jagd das Aussterben eines Teils der Großtierwelt verursacht worden ist.

Die lange „Nacht der Prähistorie“ ging, so formuliert es Sloterdijk, in das Zwielicht der geschichtlichen Zeit über, als die Jäger und Sammler archaischer Welten zu der folgenschweren Entdeckung gelangten, die Jagd auf tierische Beute lasse sich zur Jagd auf menschliche Beute ausweiten – die Sklaverei begann und sie dauerte lange (Kapitel 2). Wo der Horizont der fremd-muskulären „Arbeit“ wuchs, erfuhr der Energiehaushalt der frühen Staatskonstrukte eine explosive Erweiterung. Doch die Geschichte der mechanischen Kraftanlagen begann eigentlich nicht – so sieht es der Autor – mit den Wassermühlen des Mittelalters und den Windmühlen, und selbst nicht mit den Dampfmaschinen, die von Mitte des 19. Jahrhunderts die älteren Energiesysteme überflügelten, sondern weit früher, mit dem Einsatz der „humanoiden Biomaschinen“ als muskelbewegten und befehlssensiblen menschlichen Erzeugern von gewünschten Effekten – mit der Sklavenarbeit.

Für die gesamte historische Phase der sklavenhaltenden Gesellschaften machte sich eine neue Stoffwechselformel geltend: Befehlsgewalt plus Biomaschinenpark plus pyrotechnisches X: Die pyrotechnischen Helfer leisteten dies in Gestalt zahlloser Feuerstellen, Kaminen, Küchenherden, Backstuben, Schmieden, Brennöfen und Bädern. Der sklavischen Ökonomie und ihren herrischen Überbauungen blieben aber relativ enge Grenzen gesetzt durch die Tatsache, dass man „jeden Baum nur einmal verbrennen kann“.

Es gehört zu den bevorzugten Mythen der Moderne, so sieht es Sloterdijk, sich ihre eigene Geschichte als einen fortschreitenden Befreiungsprozeß zu erzählen. Wenn man aber die Realgeschichte der Neuzeit näher und intensiv erforscht, tritt sehr schnell ihre dunkle Seite hervor (Kapitel 3). Als im westlichen Europa – dem „christlichen Abendland“ – die Verhältnisse der Sklaverei spätrömischen Stils sich langsam auflösten und in verschiedene Formen grundherrschaftlicher Zugehörigkeiten übergingen, blieben die ökonomischen Zustände der meisten Menschen („Leibeigenschaften“) sehr wohl prekär. Entweder man „sozialisierte“ sich als Vagabund, Bettler, Almosensucher, Taschendieb, oder man verkaufte sich als „Arbeitskraft“ an einen Patron, einen Arbeitsgeber oder Kapitalisten.

Mit den innovativen Verbrennungsmaschinen, der sogenannten Dampfkraft, öffnete sich im späten 17. Jahrhundert und vollends im 18. Jahrhundert ein neuer Horizont. Ein radikal verändertes metabolisches Regime entstand: Aus der Tiefe der Erde schienen unzählige „Bäume an die Oberfläche“ zu steigen – in Gestalt von Steinkohle und Koks und mit Beginn des 20. Jahrhunderts in Form des Erdöls. Nun wurden die versteinerten bzw. verflüssigten Urwälder langer Vergangenheiten in die historische Zeit zurückgebracht und durch unzählige maschinentreibende Feuer aktualisiert.

Sloterdijk charakterisiert das Ergebnis auf sonderbare, ungewohnte Art und Weise: „Was wir für die modernen Zivilisationen halten, sind in Wirklichkeit Effekte von Waldbränden…Die moderne Menschheit ist ein Kollektiv von Brandstiftern, die an die unterirdischen Wälder und Moore Feuer legen“ (S. 23).

Die Außergewöhnlichkeit der Energie in Form von Kohle wurde früh erkannt. Die Kohle drang anfangs als billige Energie in die Haushalte und Manufakturen ein. Ein Jahrhundert später war sie zum primären Agens einer unersättlichen metallurgisch geprägten Industrie geworden. Noch dachte damals niemand daran, dass aus den so entzündeten Feuern auch noch andere Effekte neben der möglichen Erschöpfung dieser Ressourcen folgen würden – vor allem die Permanenz der CO2-Partikel in der Erdlufthülle, deren unmerkliche Akkumulation sich zu einem eklatanten Problem namens „Klimawandel“ verdichten musste. Niemand erkannte hinreichend, dass anfangs vernachlässigte Nebenwirklungen durch Skaleneffekte in der Zeit zu Hauptwirkungen werden können. Sloterdijk nennt es den „zivilisationsdynamischen Hauptsatz“ – wonach global ständig mehr Effekte freigesetzt als gebunden werden können.

Er endet das dritte Kapitel mit einer Verehrung von Günther Anders und seiner kritischen Grundworte über die Moderne: „Prometheus schämt sich. Mit gutem Grund. Die Feuergabe hat sich als fatales Geschenk erwiesen, das selbstläufig sich ins Unabsehbare steigert… Die Wolken verdichten sich so sehr, dass sie den Bestand der Welt … im ganzen in Frage stellen“ (S. 36).

Um den bisher in Umrissen beschriebenen Vorgang der Ausbeutung von Mensch und Natur in seinen theoretischen Reflexen zu vergegenwärtigen, befasst sich Sloterdijk im vierten Kapitel des Buches mit Schriften einer Reihe von Autoren. Neugierige Leser/innen begegnen hier auf interessante Weise Engels, Fanon, Fichte, Foucault, Hegel, Saint-Simon, Voltaire und vielen anderen.

Im fünften Kapitel („Andere Kräfte, andere Feuer“) werden die multiplen Krisen der Gegenwart einer kompakten Diagnose unterzogen; es ist der praktischste, umweltpolitische Teil des Buches. Die Diagnose besagt, dass die summierten Effekte der Ausbeutungsverschiebung in der fossil-energetischen Ära die rationalen Erfordernisse des försterlich-nachhaltigen Lebens und Wirtschaftens nicht erfüllen. Aus dem Übergang von der „promethischen Scham“, wie Anders es nannte, zur „promethischen Reue“ folgt die Frage, was an die Stelle der unterirdischen Wälder treten könnte.

Sloterdijk ist der Meinung, dass der dominierende modus operandi nach wie vor radikal extraktiv ist: „Wenn sich inzwischen auch alle Welt mit dem Label „Nachhaltigkeit“ dekoriert, handelt es sich zumeist und aufs Ganze gesehen um nicht mehr als einen wenig frommen Selbstbetrug“ (S. 59). Kein bisher bekannter energetischer Imperativ, weder in der Version „Keine Energieverschwendung“, noch in der Fassung „Volle Umstellung auf erneuerbare Energien“ werde bis auf weiteres die große Ekpyrosis aufhalten. Sollte man aber die Möglichkeit von Aufbrüchen in ein Zeitalter der promethischen Reue aufweisen können, wäre an erster Stelle zu zeigen, ob und auf welche Weise ein völliger Verzicht auf das Feuergeschenk vorstellbar ist, oder zumindest seine Beschränkung auf ein klimaverträgliches Maß.

Mit dieser Überlegung rührt man an den Horizont aktueller und potentieller Technologien, die man post-promethisch nennen könnte. Man könnte hier schon auf eine Skala von Möglichkeiten hinweisen: auf die allenthalben gelobte Solartechnik, die Gewinnung von Biogas, auf die Kräfte, die sich aus Wind, strömenden und fallenden Wassern, aus den Meeresgezeiten und der Erdwärme ergeben. In diesen und anderen Prozeduren manifestiert sich ein neuer Habitus, für den es schon einen passenden Begriff gibt: „energetischer Pazifismus“.

Sloterdijk hat aber noch mehr zu bieten: die „Helvetisierung des Planeten“. Die Wende zu pazifistischen Formen der Energiegewinnung und -verwendung hat zugleich bedeutende kulturmorphologische Implikationen. Sie könnte zum Beispiel dem Trend zu lokalen Ökonomien einen starken Schub geben, sie könnte das Zusammenwirken von Menschen in Großkommunen verändern, die progressive Verkleinerung der politischen Einheiten könnte den hybriden Verschwendungskonstrukten der Großgesellschaften mitsamt ihren Riesenstädten zum ökologisch nötigen Abschied verhelfen. Sloterdijk formuliert einen passenden Leitsatz einer solchen urbanen Reform: „Die konviviale Stadt ist ein Glücksfall, die übergroßen Agglomerationen sind gebautes Unheil“ – und sieht in der Schweiz ein weithin erfolgreiches Beispiel einer solchen Reform – das er dann in eine strategische Formulierung bringt: „Die Helvetisierung des Planeten würde die Weltkultur von ihren großstaatlichen und hyper-metropolitanen Gewaltmärschen in die Natur- und Selbstzerstörung abbringen. Alles, was nicht nur groß, sondern „zu groß“, schädlich groß ist, läßt sich schon heute als definitiv zukunftslos auffassen“ (S. 63).

Einsichten wie diese, sagt Sloterdijk, seien bereits in druckreifen Versionen vorhanden, ihre Umsetzung aber werde wohl eher von weiteren Katastrophen als von solchen Warnungen vorangetrieben. Er legt sich auch mit dem Völkerrecht und den Vereinten Nationen an. In einem Regime des „energetischen Pazifismus“ müssten die Hauptfehler der bisherigen Zivilisationsprozesse aufgedeckt und rückgängig gemacht werden. Es sei zum Beispiel ein fundamentaler Fehler gewesen, im Völkerrecht den Nationalstaaten das Eigentum an den in ihren Territorien liegenden Bodenschätzen zuzusprechen, statt sie – in Analogie zu den von der UNESCO definierten Gegenständen des „Weltkulturerbe“ – zum allgemeinen „Weltbodenschatzerbe“ zu deklarieren, mit dem Ergebnis, dass die Weltwirtschaft auf eine finale Verarmung großer Teile der Menschheit zusteuert.

Die Vereinten Nationen nennt er eine farcenhafte Organisation, nicht nur wegen der totalen Fehldefinition des sogenannten Sicherheitsrates, sondern auch, weil sich Haupt- und Nebenmächte immer wieder gegenseitig zu Zuschauern zukunftsarmer Aufführungen machen. Diese Einschätzung verdichtet Sloterdijk zu einer düsteren Vorhersage: „Das 21. Jahrhundert wird die Konfrontation von post-promethischen und neo-promethischen Strömungen erleben. Die zufälligen Besitzer verschwendungsfähiger Ressourcen werden mit den energetischen Habenichten vermutlich ebenso egomanisch, manipulativ, bestenfalls patronisierend verfahren wie vormals die Grundherren der Feudalzeit mit ihren Sklaven und Leibeigenen“ (S. 69).

Diese Möglichkeit führt den Autor zu einer dramatischen Folgerung: Es wird in Zukunft zur „Durchsetzung einer leider unvermeidlichen Klimarettungsdiktatur kommen – unvermeidlich, weil die Halbherzigkeit der bisher mehr angekündigten als verwirklichten Maßnahmen nur noch durch radikale Interventionen … korrigiert werden kann“ (S. 74).

Ein Fazit: Das umfangmäßig kleine Buch von Peter Sloterdijk ist inhaltlich ein großes Buch. Es in ungewöhnlicher Sprache geschrieben und sein Inhalt ist in ungewohnter Deutlichkeit formuliert. Es ist zwar schwer zu lesen, aber inhaltlich äußerst anregend. Es ist zu voll an eher unbekannten Begriffen, aber reich an bedenkenswerten Politikvorschlägen. Der historische Mythos über Prometheus und seine Gabe wird emphatisch beschrieben. Die heutigen Problemlagen, die globale Verbrennung der Kohle, des Gases und des Öls und der dadurch bewirkte weitreichende Klimawandel werden auf radikale Art und Weise charakterisiert. Summa summarum: Das kleine Buch von Peter Sloterdijk muss man unbedingt lesen, über seine Botschaft sollte man berichten, über seine Forderungen diskutieren – um möglichst schnell für energetischen Pazifismus entscheiden zu können.

Quelle:

Dr. Dr. h.c. Udo E. Simonis 2023 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) 

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