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C.H. Beck

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Die Revolution von 1989 in der DDR

Schon Geschichte? Zu einem Endspiel-Buch. Von Rupert Neudeck

Ist das schon Geschichte? Oder ist es mehr als Geschichte, weil wir alle in den Prozess involviert sind und nicht mit Distanz – also mit Gleichmut dieses Buch und seine Schlussfolgerungen lesen können. Was ist das, was diese Lektüre so spannend macht? Man hakt sich an diese oder jene Episode oder dieses Kapitel fest, widerspricht da, stimmt dort sehr energisch zu. Man sieht, das ist noch nicht in dem Sinne Geschichtsschreibung wie uns Ranke das gelehrt hat: Sine ira et studio. Der Autor selbst besteht darauf, bescheiden zu sein. Die Verhältnisse wurde mit medialer Konzentration zumal der West-Fernsehmedien auf die Großstädte berichtet. Aber „Wolgast und Gützkow liegen nicht einmal 30 Kilometer voneinander entfernt, die Entwicklungen waren sehr unterschiedlich“. Je näher der Autor dem Ende des Endspiels kommt, desto skeptischer wird er über die Aufgabe des Historikers. Er hat in diesem Buch wirklich alles versucht, an Entwicklungen in den verschiedenen Regionen hineinzubringen, muss aber bei dem, was man dann Revolution zu nennen sich angewöhnt hat, sagen: „Vergleiche man die Ereignisse in Suhl und Karl-Marx Stadt, in Leipzig und Dresden, so wird man Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten aufspüren, aber doch zugleich so viele Unterschiede, dass sich die Frage stellt, ob hier nicht Melonen mit Kartoffeln verglichen werden“.

Fast in einem Anflug von Verzweiflung sagt der Autor, das Beste wäre, er würde als Chronist alles aufzeichnen. Das würde aber eine Lebensarbeitszeit von 30 bis 50 Jahren und zugleich die Notwendigkeit beinhalten, einen verlag zu finden, der eine 25bändie Gesamtaufgabe: Deutsche Revolution zu publizieren. Da aber Historiker, sagt der Historiker Kowalczuk, nichts von Chronisten halten, sei er einer Schlängellinie gefolgt, „die hoffentlich nicht falsch ist, aber auf keinen Fall ganz richtig ein kann“. Denn in Wolgast sei eben alles anders gewesen als in Gützkow, überall war alles anders, „aber das Ergebnis war überall gleich“. Bei einer Geburtstagsfeier jüngst zu Ehren von Arnold Vaatz, einem, der Revolutionäre in Anwesenheit von drei amtierenden und ehemaligen Ministerpräsidenten d er Ost-Länder wurde dem Rezensenten deutlich, dass noch sehr viel Bedarf besteht, auch bei vielen, die in diesem dicken Buch nicht vorkommen, etwas zu erzählen. Wobei man hinzufügen muss, dass es ein neues Establishment gibt, zu dem einige Revolutionäre nun fröhlich gehören.

Das Buch habe ich auch gelesen unter dem Titel: Namen, die keiner mehr nennt. Diese wunderbare Riege von Widerstandskämpfern, die alles gewagt haben, aber eben wenige waren, die kommen noch mal zur Ehre der Altäre der Geschichtsschreibung. Als da sind Bärbel Bohley, Robert Havemann, Jürgen Fuchs, Freya Klier, Ulrike und Gerd Poppe, Arnold Vaatz. Auch wenn einige von denen später in der deutschen Politik auftauchten, sind sie dennoch nicht mehr mit ihrem Widerstands-und Mut-Potential vorhanden. Das Buch enthält blitzsaubere Analyse des Apparats der SED-Diktatur der DDR. Die SED war nicht nur eine Partei, sie war eine Glaubensgemeinschaft. „Ihre Mitglieder einte der Glauben an eine arkadische Zukunft, in der alle Menschen gleich seien“. Sie war auch eine Hoffnungsgemeinschaft: SED war in ihren Augen eine „Abkürzung für Frieden“. Ihre Hoffnung, die Hoffnung von 2,3 Millionen Parteimitgliedern speiste sich aus der Ideologie, die für Gut und Böse, für Richtig und Falsch nach „wissenschaftlichen Grundsätzen“ zu unterscheiden wusste. Und diese Masse war auch eine „Gemeinschaft Verzweifelter“. Darin und in vielem anderen drückt sich der Wert dieser analytischen Geschichtsschreibung aus. Vielen Menschen war bewusst, dass die Parteilinie mit ihrer eigenen Lebenswirklichkeit und der der Nachbarn nicht korrespondiert. „Sie feuerten sich mit Überlebensparolen an: ‚Das muss Du objektiv betrachten‘“.

Der Klassiker bei diesen Alibi-Kapriolen sei gewesen: „Das musst Du dialektisch sehen!“, damit konnte man jeden Unsinn und jedes Verbrechen erklären und ins Gegenteil verdrehen. Es gab im SED-System mehr Rituale und ungeschriebene Gesetze, als es dem Westler in seiner Schulweisheit bekannt war. Das Buch macht mit einigen bekannt. Es gab jede Woche eine Parteiversammlung. Selbst ideologiefeste Mitglieder haben diese Versammlungen als langweilig und uninteressant bezeichnet. Aber es war die Parteidisziplin, die den höchsten Wert darstellte. Die Mitglieder hatten sich einem Masterplan unterworfen, den sie die historisch gesetzmäßige Entwicklung vom Niederen zum Höheren nannten, dem man sich zu beugen hatte“. Das alles musste man unabhängig vom individuellen Wollen wie einem Naturgesetz folgend vollziehen. Der Autor beschreibt die grassierende „Unfreundlichkeit der Funktionäre“, die absichtliche und gewollte Kälte des Apparats. Die Funktionäre sollten „unnahbar, überlegen und wissend erscheinen“. Da sie das oft nicht waren, verbargen sie ihre Unsicherheit „hinter eisigen Mauern des Schweigens, der Unfreundlichkeit und des barschen Tones“. Das Buch analysiert die eisige Kälte, die in den zentralen Parteiapparaten herrschte. Es hing auch mit der Totalbespitzelung und dem zusammen, was Lenin wegweisend 1921 verkündet hatte: das Fraktionsverbot. Selbst aus Selbstschutz waren so biedere wichtige Sachen wie Freundschaften obsolet.

Die Frau von Horst Sindermann beklagte sich Ende November, als alles vorbei war, über die kalte Atmosphäre in Wandlitz: „Es hat nie sowas gegeben, dass man sich mal zusammengefunden hätte“. Darauf der Top-Funktionär: „Gott sei Dank nicht“. Veränderungen im Personaltableau konnte es nur bei Todesfällen geben. Deshalb kursierte der Witz in der DDR: Jeden Morgen kauft ein Mann am Kiosk eine Tageszeitung, schaut auf die erste Seite und wirft die Zeitung in den Papierkorb. Eines Tages fragt die Zeitungsfrau: Warum er nicht mal weiterlese in der Zeitung und warum er die Zeitung überhaupt kaufe? Antwort: „Wegen der Todesanzeigen!“ Die Kioskfrau: Aber die stehen doch auf der letzten Seite! Antwort: „Die mich interessieren, stehen auf der ersten Seite“. Es gab zusätzlich zu den SED Mitgliedern eine halbe Mio. in den Blockparteien, ein fein austariertes System, an dem man aber nichts ändern durfte. Am 9. März 1972 wurde es erlaubt, dass 14 sog. CDU-Mitglieder gegen das Gesetz über Schwangerschaftsunterbrechung votieren durften. Honecker meinte, es würde unglaubwürdig sein, wenn alle Christen dafür seien und überredete den CDU-Chef Götting, einige dagegen stimmen zu lassen. Was bis heute nicht genügend bis in die Frage der Behandlung von Flüchtlingen in unseren Gemeinden beachtet wird: Im Rückblick stelle sich „die Kollaborationsquote weitaus höher da, als sie vielen erschien. Die Masse der Bevölkerung hatte sich eingerichtet, machte mit… und versuchte nicht aufzufallen“.

Das war wohl auch im Westen so, ein Thema, das in der politischen Korrektheit ein wenig untergeht. Im Westen war die Wiedervereinigung eher aufgegeben. Man war auf dem Weg zu den zwei Staaten, den zwei Nationen. Honecker machte sich ein persönliches Vergnügen daraus, die Welt zu bereisen. In dem Maße, wie seine Bevölkerung nicht aus der Enge des Ostblocks herausdurfte besuchte er offiziell nach der Anerkennung der DDR 1973 und der Aufnahme in die UNO 38 Staaten. Honecker, so der Autor, schien ein Fernweh befallen zu haben, „das er seinem Staatsvolk auszutreiben gedachte. Offenbar wollte er seine Weltanschauung durch Anschauen der Welt festigen“. Ihm gelang trotzdem nicht, die beiden Sehnsuchtsziele zu erreichen: London und Washington. Weder die Königin noch ein US-Präsident konnte sich bis 1989 durchringen, „den Dachdecker aus Neunkirchen bei Saarbrücken zu empfangen“.

Auch hier hat ein Witz entmythologisiert. Honecker war von schlichtem Gemüt. Er hält eine Rede zur Entwicklung des Sozialismus und verkündet, dass schon heute ein Fünftel der Erde vom Sozialismus bedeckt sei. „Und schon bald wird es ein Sechstel, ein Siebtel, ein Achtel, ein Neuntel und ein Zehntel sein“. Das, was der Autor in dem Kapitel über die Krise der DDR über die politischen Eliten im Westen schreibt, durfte noch weiter ausgefaltet werden. Eine große politische Klasse bis weit in die großen Parteien hatte mit der DDR als einem eigenständigen Staat abgeschlossen. Das Buch von dem Journalisten Hanns Werner Schwarze über die DDR verzeichnete die DDR bis zur Unkenntlichkeit. Bis hin zu der Folgerung: Solange weder das eine Wahlsystem ganz gut, das andere ganz schlecht sei, bleibe die Forderung nach freien Wahlen ein „Requisit aus dem alt gewordenen Propaganda Fundus“ Schon 1964 waren drei Starjournalisten der ZEIT nach Osten aufgebrochen.

Theo Sommer resümierte für die Gräfin Dönhoff mit: „Wer die Gegen- Revolution in der DDR fordert und fördert, wird die allmähliche Evolution blockieren“. Dass es noch kurz vor dem Ende, ohne zu ahnen, dass es schon ganz bald ein Ende geben könne, die Besuche der SPD-Granden in der DDR gab, mit einem verdächtig holprigen Papier, das tatsächlich den „Streit der Ideologen“ beschrieb und postulierte, dass jetzt Kommunismus und freiheitliche SPD diskutieren könnten auf Augenhöhe, war verhängnisvoll. Manche Kritiker, wie Gesine Schwan waren fassungslos. Die Publikation kam wenige Tage vor dem Staatsbesuch von Honecker in der Bundesrepublik. Bis 1987 hatte Moskau die Reisegenehmigung verweigert, dann ging es nicht mehr. Das Buch macht mit dem Getöse bekannt, dass es zwischen Moskau und Ost-Berlin gab. Mielke setzt sich heftig mit seinem Partner Generalmajor Schebarschin auseinander und beschimpfte ihn. Zu dem Artikel in der Komsomolskaja Pravda, in der enthüllt wurde, dass Stalin Agent war der zaristischen Geheimpolizei. „Wenn das so ist, das Ihr die Archive nicht in Euren Händen habt, dann habt Ihr einen großen Fehler gemacht.“

Es ist auch manchmal so, dass man vor der Fülle der Details die Hauptaspekte vergisst oder verliert. Auch solche, die erst in unseren Tagen so deutlich werden. So sind große lange Abschnitte dennoch vor dem Ende der Diktatur den Kirchen im Kommunismus gewidmet. Sie waren ganz offenbar damals die einzige Möglichkeit Protest abzulassen, allein schon durch die separaten Gebäude, die als Sanktuarium ja in der Menschheitsgeschichte immer ihre besondere Eignung und Wirkung hatten. Aber diese Bewegung der Kirchen wirkt ja in der aktuellen Auseinandersetzung, die eine der Ostländer ist, der zunehmenden Fremdenabwehr und Xenophobie geradezu verstorben, weggestorben, nicht mehr da, einfach abwesend. Karikaturistisch überhöht könnte man sagen: die wenigen Pfarrer sind in die Politik gegangen und sind da geblieben und versuchen mit säkularem Amt (Bundespräsident) und säkulare Stimme (mehrere Abgeordnete) das Verschwinden der Kirchen und der Gläubigen zu kaschieren. Die Pegida Bewegung wurde und konnte auch nicht von einem Aufruf der Christen und der Kirchen in Leipzig und Dresden konterkariert werden, weil es diese Christen als gesellschaftliche Kraft ganz offenbar nicht mehr gibt.

Was ich auch vermisse, es gibt eine heftigere Auseinandersetzung mit der zwiespältigen Rolle einer ganzen Menge von Superintendenten der Kirche in der DDR. Die Versuchung für Hierarchen, nahe an der Macht zu leben, ist eine immerwährende, sie ist nicht so gefährlich in einem demokratischen Rechtsstaat, aber auch gefährlich. Aber ein Pfarrer namens Ulrich Kasparick ist aus dem Kirchendienst ausgeschieden, weil er die Feigheit seiner Kirche nicht ertragen hat, die sich nicht damit auseinandersetzen wollte, dass im Konsistorium seiner Kirche in Magdeburg sich über die Hälfte in irgendeinem bezahlten oder sonstigen günstigen Zusammenhang mit der Stasi oder dem Ministerium für Staatssicherheit befanden. Er ist dann erst einmal in eine politische Karriere eingetreten, die ihn zu einem Bundestagsabgeordneten der SPD machte, dann sogar zum Staatssekretär im Bildungs-Ministerium und danach ins Verkehrsministerium führte, der dann aus eigener Kraft in den Dienst der Kirche zurückging und jetzt wieder Pfarrer im Märkischen ist.

Liest man über die subversive Bildung kleiner politischer Widerstandsgruppen, wird einem deutlich, wie schwer es war, in einer Bevölkerung zu arbeiten, die in der Regel mit den Bewegungen der Nomenklatur und der Parteipropaganda mitmachte und sich einem Stasi Netz unterwarf. Es gab wenige einzelne, die zu wirklichem Widerstand bereit und in der Lage waren. Dazu gehörte die Bewegung, die sich am 9. September 1989 in der Grünheide traf, dreißig Menschen, fein ausgewählt, weil man ja immer auch wusste oder ahnte, dass da ein stummer Zuhörer der Stasi mit dabei war. Aber unter denen, die sich unter der Anleitung von Katja Havemann und Bärbel Bohley versammelten, ist kein Zuhörer. Die Tragödie lag darin, dass selbst diese Bewegungen sich nicht die Form von so etwas wie Parteien geben konnten. Die großen konventionellen Parteien beherrschten viel zu schnell das Feld. Ein später bekannt gewordener Politiker wie Wolfgang Thierse war nach der Wende auf der ehrlichen Suche nach einer Gruppe, die seinen gewachsenen Vorstellungen am meisten entsprach. Er landete dann bei der SPD. Aber eine Gruppe, die ihren Gründungsport im Osten gehabt hätte, wie das Demokratische Forum, das dann das „Neue Forum“ wurde, wäre für einen neuen Politikversuch der Menschen in der DDR ganz sicher sehr wertvoll gewesen.

Das Buch ist sehr gut geschrieben, man verfolgt als Zeitgenosse die Ereignisse, deren Folgen wir alle in Deutschland mitbekommen haben. Manchmal gibt es einen Lichtschein auf Ereignisse wie z.B. die Ukraine Krise. Die Neigung zu faulen Kompromissen war damals und ist heute bei einigen Politikern sehr ausgeprägt. Erhard Eppler war damals (genauer: am 8. Juli 1989) bei einer Veranstaltung der Kirche in Leipzig der Meinung, dass die Mauer „zur Statik des europäischen Hauses gehört“. Nach zwei Stunden lärmender Debatte kam die kluge Frage: „Herr Eppler, was wäre eigentlich, wenn in der DDR die Menschen demokratisch entschieden, dass sie diese Mauer gar nicht wollen?“

Der Autor versteht, das Grundgefühl der Menschen einzufangen. Das Buch geht auf strenge Archiv- und andere Unterlagen zurück, ist aber geschrieben wie von einem guten Publizisten. „Frage: was sind die vier größten Feinde des Sozialismus? Antwort: Frühling, Sommer, Herbst und Winter“. Und in der Behandlung des Subventionsstaates, der Renten für die 2, 7 Mio. Rentner gibt es dann noch den Witz, der schön das Format von Dieter Hildebrandt erreicht: „Ein guter Kommunist räumt entweder auf Erden mit Erreichen des Rentenalters seinen Platz – oder übersiedelt in den Westen“. Auch wie halb-öffentliche Witze die Wut auf die Privilegien von Ost-Berlin abfederten. Leipziger, Dresdner und Potsdamer zeigten Flagge aus Ärger über die Ressourcen, die immer auf Ost-Berlin verlagert wurden. Ein Spruchband in Leipzig hieß: „822 Jahre Leipzig – so alt wird Berlin nie!“ Das Buch enthält treffende und bewegende Schilderungen und Urteile über verschiedene Bereiche des DDR-Alltagslebens. Über die Mühen, auf der Höhe der Zeit zu bleiben, zumal im Umweltbereich- Alles vollzog sich immer im Verhältnis zum Westen, den man ja qza TV-Gerät in den eigenen vier Wänden hatte.

Als im Februar  1987 in Westberlin zum ersten Mal Smogalarm der Stufe eins verordnet wurde, erklärten die Machthabe der SED, die Luft im Ostteil der Stadt sei sauber. Ein SED-Parteisekretär stellte sich hin und erklärte seinen Schülern unter lautem Gelächter, aus unseren Schornsteinen komme nur „Sauberer Dreck“. Das war dann zusätzlich zu der wirtschaftlichen finanziellen Pleite ein weiterer Sargnagel: Wenn sich ein System bis zur Lächerlichkeit blamiert, scheint die Alarm-Glocke zu schlagen. Die Kulturgeschichte des heimlichen Wunsches nach einem privaten Auto und einem privaten Telefon und einer privaten Satellitenanlage ist, wie der Autor schreibt, noch nicht geschrieben. Es fuhren auf den DDR-Strassen 1989 3,8 Mio. Privat PKWs. Das ergab ein eintöniges Bild von Trabis, Wartburg, Skoda, Lada, nur unmerklich aufgehellt durch „Bonzenschleuder“ und „Fahrzeuge Neureicher“. Die DDR-Planer erkannten das und wollten die Autoindustrie modernisieren. Sie kamen auf die Ausrüstung von Trabant und Wartburg mit Viertaktmotoren. Die VW- AG lieferte die Fertigungsanlagen für den Viertaktmotor. Aber es half nichts, man musste in der DDR auf einen Neuwagen 12,5 bis 17 Jahre warten. In den meisten Familien gab es zum 18. Geburtstag zwei Anmeldeformulare gratis: eine Autobestellung und eine Anmeldung für den Führerschein. Die Folge: es gab einen rasanten Schwarzmarkt, die kapitalistische Gewinn-Seele in den sozialistischen Bürgern siegte mal wieder. „Ein gebrauchter VW-Golf erzielte auf dem Schwarzmarkt bis zu 60.000 Mark“. Die Kfz Schlosser hatten höchstes Sozialprestige, sie hatten enormes nebentarifliches Einkommen und vielfältige Beziehungen: Am Trabi klappert eigentlich immer etwas. Im Auto ist es so laut, dass man sich weder unterhalten kann noch Radio hören kann.

Mit Blick auf den Osten Europa war die DDR materiell auf hohen Niveau. Dummerweise richteten die Bewohner sich aber an dem Wohlstand der „Brüder und Schwestern im Westen aus. Und so geht der Autor durch alle Kultur- und Wohlstandswelten. Das Fernsehen wurde kaum gesehen, es war ein Massenmedium ohne Massen. Die Wahrheit war nicht beliebt. Interessant wäre, wie viel die Propaganda eben doch geglaubt haben von dem insgemein besseren Leben im Mangel und ohne Information, ohne Design und ohne Auto. Als Timothy Garton Ash 1981 sein erstes Buch über die DDR schrieb, charakterisierte er das „Neue Deutschland“ als „Kombination aus Agitprop Wandzeitung, politischem Wetterbericht und Hofgazette“, das Buch beleidigte die Leute um Honecker und führte zu diplomatischen Verwicklungen zwischen DDR und Großbritannien. Am Ende war die missmutige Loyalität, die der Autor aufwies, destabilisierend und brachte die SED-Herrschaft an ein unwiderrufliches Ende. Aber die Prägungen blieben bis heute noch in Kern und Schwundelementen bestehen.

Unmöglich, am Ende noch mal auf die vielleicht zu starke Macht des Westfernsehens hinzuweisen für das Urteil im historiographischen Gewühl. Plauen, eine Stadt mit 75.000 Einwohnern wurde nur deshalb 1989/90 nicht zur „Heldenstadt“ erklärt, weil die Tragweite der Ereignisse aus der Provinz ohne westliche Medienpräsenz nicht bekannt wurde. Plauen gehörte zu dem berühmten „Tal der Ahnungslosen“ subjektiv wie objektiv. Plauen blieb wochenlang die Stadt in der DDR, „die allen anderen einen Schritt voraus war – sowohl was die Massenmobilisierung wie auch was die Forderungen anbelangte“. Hätte sich irgendein Politiker oder Journalist im Oktober auf Plauen geschaut und die Stadt als Abbild der DDR genommen, wäre er der Visionäre gewesen, der gewusst hätte, wie schnell die Reise gehen würde. Ob der Untergang der DDR unter dem Rubrum einer Revolution oder eines Zusammenbruchs gesehen werden muss, das zu entscheiden sei müsste. Beide Elemente waren ineinander verwoben. Die Frage sei auch “revolutionstheoretisch banal“. Mit Blick auf die heutigen Probleme in den neuen Ländern wünschte ich mir noch einen Blick in die Unterkünfte der Vertragsarbeiter, der Vietnamesen, Mosambikaner, Angolaner, die es in der DDR gab. Gab es irgendwelche Kontakte zu denen? Ich fürchte nein, denn sonst lässt sich der fürchterliche Ausbruch von xenophoben Nationalismus in einigen Regionen zumal im Freistaat Sachsen nicht erklären.

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Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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