‹ Zurück zur Übersicht
Bigi Alt

© Bigi Alt

Die Wegwerfkuh

Wie unsere Landwirtschaft Tiere verheizt, Bauern ruiniert, Ressourcen verschwendet und was wir dagegen tun können. Zynismus und Landwirtschaft. Über das Schicksal der Wegwerfkühe. Von Rupert Neudeck

Die Autorin bewegt das Schicksal der Kälber, die keinen Verdienst bringen, die deshalb nicht auf den Markt gehören und wie selbstverständlich getötet werden. Was mit ihnen geschieht, hat sie auf dem globalisierten Weltmarkt kennengelernt. In Australien zeigen australische Milchbauern, wohin eine einseitige Zuchtausrichtung, die nur auf die Steigerung der Milchproduktion geht, führen kann. Dort werden jedes Jahr 700.000 Bullenkälber wenige Tage nach der Geburt getötet. Sie zitiert aus einer Verordnung: Die meisten australischen Milchregionen hätten einen etablierten Markt für junge Kälber aus Milch und Kreuzungsrassen, die für die Nachzucht vorgesehen sind, von denen rund 800.000 jedes Jahr durchschnittlich produziert werden. „Nur eine kleine Zahl der Kälber werde an die Mastbetriebe verkauft und/oder von Fleischproduzenten zur Mast gekauft.“

Und dann komme der Satz, von dem die Autorin sagt, dass er für eine Grausamkeit spricht, wie sie sie in der Landwirtschaft noch nicht erlebt habe. Immerhin der Bereich der Wirtschaft, dem wir noch Gefühle und Sympathie für die Natur und das Leben von Flora, Fauna und Vieh zutrauen. „The remaining calves are usually destroyed at or soon after birth, especially in region that do not have access to abattoirs.“ Eine Tierschutzorganisation in Australien (Animals Australia) habe ein Video mit versteckter Kamera gemacht, in einem der spezialisierten Kälberschlachthöfe. Dort werden die hilflos stolpernden Kälber auf dem Transportband zur Schlachtung gezeigt, die von Männern mit Cowboyhüten an den Hinterbeinen gepackt und weitergeschleudert werden. In Neuseeland das gleiche. Dort sieht man, wie ein Mann mit einem Hammer auf den Schädel eines Kalbes einschlägt und es in eine Grube wirft, die mit toten Kälbern gefüllt ist.

Und dann berichtet die Autorin aus einer Zeit, in der sie als Kind bei Kälbergeburten dabei war. Ihr Vater galt als erfahrener Geburtshelfer. Er wurde gerufen, wenn ein Kalb nicht richtig in der Gebärmutter lag. Wenn das nicht gerade mitten in der Nacht war, durfte die Autorin als Kind einfach mit. In den Ställen war alle Aufmerksamkeit auf die eine Kuh gerichtet, die gleich ein Kälbchen bekommen sollte. Der Bauer erklärte das Problem, ihr Vater machte sich an die Arbeit. „Es beeindruckte mich, wie sein Arm bis zu den Achseln in der Kuh verschwand und ich sah dabei, wie ein Schwall von Fruchtwasser sich über ihn ergoss. Er erstastete die Lage des Kalbs und sortierte vorsichtig Vorder- und Hinterbeine. Wenn der Kopf zwischen den Vorderbeinen steckte, war alles gut. Falls das Kalb aber rückwärts lag versuchte er es in der Kuh zu drehen.“

Es sei auch vorgekommen, dass ein Kalb zu groß war für das Becken seiner Mutter. Dann schlangen die Bauern einen Strick um die Beine des Kalbes, der an einer Winde befestigt war und stemmten das Ganze mit einem Querbalken gegen den Hintern der Kuh. Es macht ein knirschendes Geräusch, wenn die Bauern das Kalb aus der Kuh hebelten. Sie schwitzten dabei. Tanja Busse staunte als Kind, wie die Kuh so etwas aushalten konnte. Manche Kühe standen und fraßen Heu, als habe ihr Hinterleib nichts mit ihnen zu tun. Es gab damals ein fast heiliges Gefühl für die Kinder zuzusehen, wie neues Leben entstand. Die Kinder konnten die Nüchternheit der Erwachsenen nicht verstehen, sie hockten neben dem jungen Kalb und drehten Stroh zu einem Bündel und rieben damit das Neugeborene trocken.

Das ist aber nur die Avantgarde bei den australischen Farmern, dahin werden wir in Deutschland auch noch kommen. Immerhin sei es in Deutschland noch so, dass man die nutzlosen Kälber so nicht behandeln dürfe. Es sei ganz offensichtlich, dass die schwächeren Bullenkälber nur dann eine gute Behandlung erleben, wenn sich ihr Züchter über ökonomische Überlegungen hinwegsetzen  würde.

Die Kühe werden nur noch ausgenommen, um immer mehr Milch zu geben. Schneller – höher – mehr, es sei wie bei den Olympischen Wettbewerben. 2011 hatte eine deutsche Milchkuh die GHH LUISA aus der Hochleistungszucht der schwarzbunten Holstein-Kuh die magische 20.000 Kilogrenze gebrochen und in 305 Tagen 21. 168 Liter Milch produziert nach ihrem sechsten Kalb. Die beste Herde brachte in Deutschland 13.000 Kilo im Durchschnitt pro Jahr und Kuh. Man erwartet aber noch weitere Mengensteigerungen. Die Autorin zitiert aus dem Jahre 1898 das Handbuch der Landwirtschaft – einem Klassiker der landwirtschaftlichen Lehrbücher. „Vom dritten Kalbe an, also vom fünften, sechsten bis zum 12. Lebensjahr hat die Kuh den höchsten Wert für die Zucht.“ Heute wird das dritte Kalb nur noch selten geboren. Bevor die Kuh von heute ihre größte Leistung bringen kann, ist sie schon tot. Busse: „Wie kann das effizient sein?“

Die Überschriften der acht inhaltsreichen Kapitel ähneln sich: „Das Wegwerfkalb“, „Der Kuhzauberer“, „Der Risikolandwirt“, „Die Effizienzweltmeister“, „Verschwendungslandwirtschaft.“ Das Ganze mündet in eine interessante Neuauflage der berühmten „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die 1949 erschien. Tanja Busse nennt das, was sie auf diesem wichtigen, für die damaligen Frankfurter Sozialphilosophen nicht sehr relevanten Gebiet, meint, die „Dialektik der Effizienz.“ Die Marxisten hatten ja auch immer das Land-und-Bauernleben verspottet als „Idiotie des Landlebens.“ Die vordergründige und aktuelle Effizienz kann unter ökologischen Gesichtspunkten eine totale Ineffektivität und mögliche Katastrophe sein. Die Autorin listet die falsche Effizienz an mehreren Stellen Ihres Buches auf. Wenn die effizienten Spitzenkühe nur eine kurze Nutzungsdauer haben, müssen sie in den Berechnungen zu den zwei oder drei Jahren in der Milchproduktion ja noch mindestens zwei Jahre Aufzuchtzeit einrechnen. Denn während dieser Zeit haben die jungen Kühe ja auch gefressen und Methan produziert.

Auch die Futtereffizienz der Milchkühe wird die Autorin neu aufschließen. Hochleistungskühe bekommen anderes Futter als die 10-Liter Vergleichskuh aus der Rechnung der FNL, der Fördergesellschaft Nachhaltige Landwirtschaft. Die kam vermutlich mit Gras und Heu auf ihre geringe Milchleistung, während die 30 Liter Milchkuh zusätzlich noch Mais und Soja und weiteres brauchte. Um solches Futter zu erzeugen und der Kuh zuzuführen, braucht man viel mehr Energie, für den Mineraldünger, die Pflanzenschutzmittel, den Transport und die Verarbeitung. All das ist nicht in die Rechnungen der Effizienz eingegangen. Bei der Frage, wie die Landwirtschaft in  Zukunft die Erdbevölkerung von 10 Milliarden ernähren wird, darf man die externen Kosten und Folgeschäden nicht ignorieren. Die Frage darf nicht mehr lauten: „Wie kann die Landwirtschaft das höchste Ergebnis erzielen – egal mit welchem Einsatz.“ Effizienz kann nicht einfach mehr Milch pro Kuh und mehr Fleisch pro Tier und mehr Ertrag pro Fläche sein. Es müssen alle möglichen Folgen in die Rechnung einbezogen werden, den Einsatz von Pestiziden, deren Rückstände und Folgen für die Bienen, Stickstoffüberschüsse, die Auswirkungen auf die Biodiversität.

Das, was das ganze Plädoyer von Tanja Busse durchzieht, ist die Klage, wie wir die Natur und die natürlichen Prozesse malträtieren. Durch Überzüchtung. Sie berichtet von einer Nachricht des dänischen Fernsehens 2014, die besagte, dass es jetzt Supersauen gibt, die bis zu vierundzwanzig Ferkel gebären pro Wurf und durchschnittlich 2,6 Würfe pro Jahr schaffen. Die Folge: Jeden Tag sterben in Dänemark 25.000 frisch geborene Ferkel.

Tanja Busse plädiert für eine andere Effizienzrechnung: Weniger Fleisch zu produzieren und weniger Fleisch zu essen. Das würde die Verschwendung etwas verringern, schreibt sie im Verschwendungskapitel. „Um ein Kilo Fleisch zu produzieren braucht man – je nach Tierart – drei bis sieben Kilo Getreide.“ Deshalb sei es ressourcenintensiver, Fleisch zu produzieren als Gemüse und Getreide. Wie krank diese Gesellschaft geworden ist: Sie hat das ländliche Leben unter die Kuratel der Industrialisierung und Technisierung und Maximierung gestellt, die leider überhaupt keine Optimierung ist. Ein weiterer Faktor, der von der intimen Krankheit unserer Effizienzsteigerungs-Ideologen spricht, ist die Verwendung von Antibiotika in Intensivställen.

„Weil die Tiere auf so engem Raum gehalten werden und der Infektionsdruck immer weiter angestiegen ist, müssen im großen Umfang Antibiotika eingesetzt werden.“ In Deutschland werden jedes Jahr 1700 Tonnen (!!) Antibiotika verwandt, wesentlich mehr als in der Humanmedizin. Schätzungen sagen, dass auf die Entwicklung antibiotikaresistenter Keime inzwischen 15.000 Todesfälle allein in Deutschland zurückgehen. Sie kommt wie Naomi Klein auf den Widerspruch zwischen Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit. Auf der einen Seite seien das Landwirte, Pharmafirmen, Exporteure, die mit viel Input und Kollateralschäden viel Output herstellen – und Deutschland zum Bronzegewinner der WM in Sachen Agrarprodukte machen. Auf der anderen Seite müssen wir uns ökologisch sagen: „Weniger ist mehr, anders wäre besser!“ Weniger Fleischproduktion bedeutet mehr Gesundheit. Mehr Biodiversität heißt mehr Regenwald und mehr Tierwohl. Doch diese Art von Vernunft rechnet sich nicht in wirtschaftlichen Bilanzen.

Ganz eindrucksvoll wird die Autorin, wenn sie Menschen beschreibt, die der Natur und damit den Tieren, den Kühen, den Hühnern, den Pflanzen noch wohlwollen, die noch Bauern sein wollen auf einem Hof, der nicht gleich den Herausforderungen der Massenproduktion folgt. Das scheint gar nicht mehr zu gehen. Es ist auch wirtschaftlich ein Hasardeur-Spiel. Es gibt in dieser Frage ein großes Stück Traurigkeit, dass wir uns so weit von den natürlichen Kreisläufen entfernt haben und zu ihnen bis heute nicht zurückfinden. Obwohl, da wo so viel Gefahr ist, auch das Rettende wächst.  

Das Buch schließt mit einem Wort, das im Deutschen reaktionär besetzt war, nationalistisch, fast faschistisch. Die Heimatvertriebenenverbände winken von weit her. „Taste of Heimat“, heißt eine vorletzte Überschrift. Das schließt an den erfolgreichen Film von Valentin Thurn, der 2011 den Dokumentarfilm drehte: „Taste of Waste“, worin der Autor das Wegwerfen von Lebensmitteln nur beschrieb und dazu gar nichts mehr kommentieren musste. Er gründete das Foodsharing Netzwerk, in dem sich Menschen verabreden, um Lebensmittel auszutauschen statt wegzuwerfen. Er wandte sich von dem Thema nicht mehr ab, wie die Autorin auch. „Wir möchten die zunehmende Industrialisierung des Lebensmittelsektors bremsen.“ Sie beschreibt, wie es neue Modelle der Landwirtschaft jenseits des Marktes gibt, die aber die große Politik von Berlin und Brüssel und Washington noch lange nicht verändert haben. Sie zitiert die wunderbare Initiative des Matthias von Mirbach, der auf dem Kattendorfer Hof bei Hamburg arbeitet. Was dort geerntet wird, bringen Mirbach und Co jede Woche einmal in verschiedene Depots nach Hamburg. „Dort darf sich jeder von den Mitgliedern das nehmen, was er möchte.“ Die Mitglieder haben jeder einen Schlüssel und müssen darauf achten, dass für die anderen genug bleibt. Die Utopie, die schöne aber wirkliche, heißt „Vertrauensökonomie.“ Die kann nach den herrschenden Gesetzen des Kapitalismus nicht funktionieren und hat sich trotzdem bewährt.

Es geht auch um die Sprache und die Vorfahren aus der Zeit des Kalten Krieges. Der Sozialismus muss die eigene von Karl Marx herkommende Verachtung der Landwirtschaft aufgeben und aufarbeiten. Die „Idiotie des Landlebens“ muss gebrochen werden. Das Buch benutzt mir zu oft das leider inflationierte, oft besinnungslos hingeworfene Attribut „nachhaltig.“ Manchmal könnte für nachhaltig auch selbstverständlich stehen. Tanja Busse hat am Ende des Buches eine tolle Idee. Jede Schule müsste einen eigenen Bauernhof haben, um gesundes Essen am Mittag selbst zu erleben, den Hof als außerschulischen Lernort erfahren. In Deutschland gäbe es 30.000 Schulen. Durch sie könnten beinahe ebenso viele Höfe eine besonders fördernde Aufgabe erhalten, nämlich die, gemeinsam mit den Schülern, Lebensmittel für ihre Schulen zu produzieren. Die Schüler könnten zusammen mit den Bauern Anbaupläne für das kommende Schuljahr entwerfen. Sie könnten lernen, dass es Pommes gibt, weil es Kartoffeläcker gibt und dass Kühe nicht nur aus Steaks bestehen. Ein wichtiges Buch.

Tanja Busse „Die Wegwerfkuh – Wie unsere Landwirtschaft Tiere verheizt, Bauern ruiniert, Ressourcen verschwendet und was wir dagegen tun können“

Blessing Verlag
Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

Diese Meldung teilen

‹ Zurück zur Übersicht

Das könnte Sie auch interessieren