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Ein Prozent ist genug

Wie kann man mit wenig Wirtschaftswachstum soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Klimawandel bekämpfen? Ein innovatives und provokantes Buch – und eine erste Einschätzung dazu von Professor Udo E. Simonis

Ein Buch deutlicher Worte, aber mangelnder analytischer Stringenz. Vieles auf der Welt muss uns Sorgen machen – so beginnen die Autoren: die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die sich verschärfende Ungleichheit, die fortgesetzte Ressourcenerschöpfung, die zunehmende Umweltverschmutzung, das rasante Artensterben, die weitverbreitete Armut, der voranschreitende Klimawandel. Ihre erste Einschätzung: „Die Menschen reagieren nicht, weil sie nicht wagen, das existierende Wirtschaftssystem infrage zu stellen und weil sie die wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Veränderungen fürchten“ (S. 13). Und ihre erste Folgerung: „Wenn wir zeigen könnten, dass es möglich ist, Arbeitsplätze zu schaffen, den durchschnittlichen Lebensstandard anzuheben und die Ungleichheit zu verringern – sogar ganz ohne Wirtschaftswachstum – dann könnten wir das Haupthindernis aus dem Weg räumen, das die Menschen davon abhält, die gegenwärtige Entwicklung zu stoppen“ (S. 14).

In diesem Buch wollen die Autoren zeigen, was möglich ist. In den ersten acht Kapiteln wird dazu die Problemlage zunächst näher beschrieben, im neunten Kapitel 9 werden dann dreizehn – wie sie sagen: leicht realisierbare – politische Vorschläge präsentiert und  in den letzten vier Kapiteln die Bedingungen genannt, unter denen die betreffenden Maßnahmen umgesetzt werden sollten und Erfolg haben könnten.

Zwei der drängendsten Probleme, vor denen die Welt steht, so die Autoren, sind die anhaltende Arbeitslosigkeit und die wachsende Ungleichheit (Kap. 1). Traditionell gilt Wirtschaftswachstum als der beste Weg, diese Probleme anzugehen. Das aber sei Feenstaub, der nicht mehr wirke, auch wenn die meisten Ökonomen und Politiker immer noch auf rascheres Wirtschaftswachstum setzten (Kap. 2 und 3). Insbesondere wegen der fortschreitenden Automatisierung und Digitalisierung der Wirtschaft würden sich diese Probleme eher weiter verschlimmern (Kap. 4). Der demographische Wandel, die zunehmende Ressourcenverknappung und der Klimawandel seien  weitere Herausforderungen für die heutige Wirtschaftsweise (Kap. 5 und 6). Und dann erfolgt eine fulminante Anklage wegen der fortdauernden Umweltzerstörung: „Das marktradikale Denken … ist die Wurzel aller menschengemachten Schäden am Planeten Erde. … Die Erde steht demnach praktisch im Dienst der Wirtschaft, die dem Finanzsystem zugutekommt, das wiederum den Reichen nutzt. Das ist das genaue Gegenteil dessen, was notwendig wäre: ein System, in dem der Finanzsektor die Wirtschaft stützt und diese der Mehrheit der Menschen dient, und zwar im Einklang mit der Natur“ (S.111). Das aktuelle, wachstumsorientierte System, so folgern die Autoren, habe die Menschheit in eine riesige ökonomische Tretmühle gebracht, die zur Erderwärmung und letztlich in die Ausweglosigkeit führe (Kap. 7).

Aus dieser Anklage resultiert der Aufruf zu einer neuen Perspektive (Kap. 8): „Die reiche Welt muss Wirtschaft neu denken“ (S. 137). Hier versammeln die Autoren noch einmal ihre Sicht der größten Herausforderungen, skizzieren die greifbaren Lösungen für diese Probleme, benennen die Kriterien, die dabei erfüllt sein müssen, und kondensieren dies zu drei strategischen Bedingungen für einen „Planeten des Wohlstands“:

Eine Wirtschaft mit einem weit geringeren materiellen Durchsatz (De-Materialisierung); einen ökologischen Fußabdruck des Menschen, der unterhalb der Belastbarkeit des Planeten liegt (De-Karbonisierung); eine Umverteilung der Einkommen (Re-Distribution), sodass jeder gut leben kann.

Sicherheitshalber bestätigen sich die Autoren sogleich die grundsätzlichen  Umsetzungschancen ihrer eigenen Vorschläge: „Es ist möglich, die schädlichen Emissionen zu verringern, ohne schwerwiegende Folgen für den Arbeitsmarkt und ohne Verschärfung der Ungleichheit. Es ist möglich, Einkommen mithilfe von Steuern und Anreizen umzuverteilen. Es ist möglich, sinnvolle Tätigkeiten für alle zu schaffen und jedem ein Grundeinkommen zu sichern“ (S. 145).

In Kapitel 9, dem längsten Kapitel des Buches (S. 147-235), präsentieren sie dann 13 Vorschläge für Maßnahmen mit großer Hebelwirkung, von denen sie annehmen, sie seien realisierbar – nicht durch Revolution, sondern durch Überzeugung, Einsicht und Konsens. Sie plädieren für die Verkürzung der Jahresarbeitszeit, die Neudefinition des Begriffs ‚bezahlte Arbeit‘, die Besteuerung fossiler Brennstoffe, den Übergang von der Einkommensbesteuerung auf die Besteuerung von Emissionen und Rohstoffverbrauch, die Erhöhung der Erbschaftssteuern und – wo aus Umweltschutzgründen nötig – die Beschränkung des Außenhandels bis zur Einführung eines existenzsichernden Grundeinkommens für diejenigen, die es am dringendsten brauchen (S. 150-151).

Mit Widerstand aus Wirtschaft und Finanzwelt gegen diese Vorschläge wird dabei gerechnet, während  man der Politik einiges zutraut, wenn es nur gelänge, mehr Gewinner als Verlierer dieser Maßnahmen zu generieren. Der Großteil der Vorschläge läuft auf Einkommensumverteilung hinaus – von den Reichen hin zur Mehrheit, auf konventionelle und unkonventionelle Art; und dabei könnte es in der Tat mehr Gewinner als Verlierer geben.

Die Autoren stärken sich gegenseitig in ihrer Zuversicht: „Insgesamt werden unsere 13 Vorschläge für eine bessere Welt, sofern sie umgesetzt werden, die Ungleichheit verringern, den Lebensstandard der Mehrheit unmittelbar erhöhen und die Treibhausgasemissionen reduzieren“ (S. 231).

Ich erwähnte eingangs die mangelnde Stringenz, die  in den analytischen und politischen Teilen des Buches zu finden ist. So wäre es unbedingt notwendig gewesen, die Autoren hätten sich mit der „Degrowth-Debatte“ beschäftigt. Sie sagen zwar, die reiche Welt müsse sich an geringere Wachstumsraten gewöhnen (S. 14); sie sagen aber nicht, die reiche Welt müsse generell ein Ein-Prozent-Ziel anstreben (das sagt nur der Buchtitel). Es wäre zum anderen notwendig gewesen, auch die „reiche Welt“ hinreichend zu differenzieren. Die Welthandelsorganisation (WTO) geht für 2016 von einem Wachstum des Welthandels von 1,7 Prozent aus. Auch für ein Land wie Deutschland wäre die Ein-Prozent-Forderung nicht sonderlich drastisch: Im ersten Halbjahr 2016 lag das reale Wirtschaftswachstum gerade mal bei 2,3 Prozent. Doch für andere Länder der EU, wie Polen oder Griechenland, dürfte die Fokussierung der Politik auf ein Ein-Prozent-Wachstum in mancher Weise stabilitätsgefährdend sein.

Ein Widerspruch steckt auch in der Wortwahl, der Selbsteinschätzung des politischen Ansatzes. Das abschließende 13. Kapitel trägt den Titel: „Die kommende große Schlacht“. Im Text dazu heißt es aber eher beruhigend: „In diesem Buch haben wir einen Weg zu einem nachhaltigen Wirtschaftssystem aufgezeigt, zu einem Übergang, der nicht zu viele Brüche verursacht…“ (S. 271).  An anderer Stelle wird zwar (mit Bezug auf Thomas Piketty) massive Kapitalismus-Kritik  geübt, eine Systemrevolution aber nicht eingefordert: „Es muss ein Weg nach vorn gefunden werden, der dazu beiträgt, das politische System und die politische Führung in eine positivere Richtung zu lenken, aber nicht zur Folge hat, dass das bestehende System zusammenbricht oder ins Wanken gerät“ (S. 141).

Es gibt auch gedankliche Versäumnisse. Herman E. Daly, dem wir fundamentale Einsichten über Ökologische Ökonomie und „steady-state economy“ verdanken, wird als Lobredner auf dem Außendeckel des Buches geführt, im gesamten Text aber nicht einmal zitiert.

Schließlich vermisst der Rezensent auch einen fundamentale Erkenntnis, einen  Satz zu der Frage, warum es so viele Wachstumsfetischisten auf der Welt und unter den Ökonomieprofessoren gibt. Henry C. Wallich hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Economic growth is a substitute for equality. As long as there is growth, there is hope…!”

Und dann gibt es auch noch eine Inkonsistenz, die der Übersetzung oder dem Interesse des Verlages geschuldet sein mag. Der englische Originaltitel des Buches heißt “Reinventing Prosperity“. Daraus hätte eine „Neuerfindung des Wohlstands“ werden können. Doch der deutsche Titel, den die Autoren selbst gern dem Buch gegeben hätten, war weit radikaler: „Ihre Kinder und wie Sie vermeiden können, sie umzubringen“ (S. 143).

Sie haben sich stattdessen auf den plakativen Titel „Ein Prozent ist genug“ eingelassen. Der Untertitel kommt näher an den tatsächlichen Inhalt und die Absicht des Buches heran: „Mit wenig Wachstum soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und Klimawandel bekämpfen“.

Wie auch immer, versöhnlich ist der Wunsch der Autoren am Schluss: „Das Mindeste, worauf wir hoffen, ist, dass wir eine vernünftige Debatte über die beste Lösung der Probleme anregen“ (S. 271). Das könnte sehr wohl geschehen, wie passend oder unpassend man den Titel des Buches auch finden mag.

oekom verlag
Quelle

Udo E. Simonis 2016 ist Professor Emeritus für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Redakteur des Jahrbuch Ökologie

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