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C.H. Beck Verlag | Navid Kerami "Einbruch der Wirklichkeit: Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa"

© C.H. Beck Verlag | Navid Kerami "Einbruch der Wirklichkeit: Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa"

Einbruch der Wirklichkeit: Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa

„Als seien sie die Verkörperung der europäischen Idee.“ Zu einer Reportage von Navid Kermani. Von Rupert Neudeck

Das ist ‚eigentlich‘ kein Buch, aber die großen Texte, wie z.B. die Friedenspreisrede des Kölner Theologen und Schriftstellers Navid Kermani wird der Freund solcher Botschaften auch gern als kleines Büchlein im Schrank haben. So ähnlich ist es mit diesem Gelegenheitstext. Kermani wurde vom „Spiegel“ mit einem Photographen Moises Saman vom 24. Oktober bis 2. November 2015 auf die Balkanroute  geschickt. Der Begriff Balkanroute begann sich damals erst richtig einzubürgern. Er begann die Reise mit den Flüchtlingen in Izmir an der Türkischen Küste, setzte sie dann in Lesbos, Mytilini und Griechenland fort, ging dann nach Belgrad, also Serbien und kam nach Ungarn.

Kermani ist nicht nur der Reporter des Elends, er ist auch der Reporter unserer Humanitätsstandards. Überall in den Agglomerationen von Flüchtlingen sieht er – an jeder improvisierten Grenzstation und jedem Umsteigebahnhof zwischen Piräus und München -die himmelblauen Dixi-Klos. Kermani: „So weit reicht die Einigkeit Europas, dass Flüchtlinge ihre Notdurft nicht auf freiem Feld verrichten müssen, sondern über Tage und Wochen in stinkenden, verdreckten Plastikkabinen. Die Dixi Klos sind das Erkennungszeichen der europäischen Humanität.“

Der Autor ist in seinem Urteil sehr klar. Auch gegen den Herrscher in Ungarn, der eigentlich nicht weiß, was die EU ist und was die in Brüssel immer beschworenen gemeinsamen europäischen Werte sind. Es komme ihm, Kermani, unpatriotisch vor, „wenn sich Teile der Bundesregierung ausgerechnet mit Victor Orban gemein machen, um die eigene Politik und die Hilfsbereitschaft so vieler Deutscher desavouieren. Statt ebenfalls Zäune zu bauen, sollten wir für Europa eintreten, das diese Krise nur solidarisch bewältigen kann“.

Auf dieser Reise hat Kermani selbst erlebt, dass es zu der damaligen Politik der Bundesregierung und der Kanzlerin keine Alternative gab: Man müsse sich nur ausmalen, was mit den „Tausenden Verzweifelten auf der ungarischen Autobahn geschehen wäre – wo hätten sie geschlafen, wer hätte sie versorgt, mit welchen Gewaltmitteln hätte man sie an der Grenze aufgehalten, wenn Deutschland die Grenzen nicht für sie geöffnet hätte?“  Kermani sieht auch, aber hält sich nicht dabei auf, dass vielen internationalen Helfern, „Tätowierten und Leichtbekleideten nicht in den Sinn kommt, ob ihr Freiheitsbegriff ein anderer sein könnte als jener der Afghanen und Syrer, die sie gleich welchen Geschlechts welcome welcome an die Brust drücken“.

Dass auch der Berichterstatter Kermani meint, die Kanzlerin habe sich ungelenk und ungeschickt verhalten, ist das einzige, was ich nicht als Leser teile. Man habe im Fernsehen beobachten können, wie unwohl sich die Bundeskanzlerin fühlte – sichtbar körperlich unwohl, man denke nur an die ungelenke Geste des Streichelns, weil sie dem weinenden palästinensischen Mädchen keine andere als die korrekte Antwort geben konnte“. Gerade das war ja so bewegend, dass ein Politiker sich mal eine solche  ungelenke Szene erlaubte – und dann noch vor laufender Kamera.   

Es sind Blitzlichtaufnahmen, die eine ganze große Szenerie erhellen. Der Polizist an der Küste der Türkei, der Kermani auf einmal nicht mehr verstehen können will, weil sein Englisch zu schlecht ist. Diese Szene allein bestätigt, was man sich immer vorstellen musste. In Erdogans Reich können Menschen nicht einfach täglich zu Tausenden heraus, können Schlepper nicht einfach ihr kriminelles Gewerbe ausüben, wenn die Behörden nicht irgendwie mitmachen. Er trifft und sieht und begleitet die Tausende von jungen Afghanen, die den Weg aus der geographischen Einschließung gefunden haben: Für die Afghanen war früher die Welt von zwei weiteren Ländern bestimmt: Pakistan und Iran. Beide waren ja auch der Hauptabsorptionsmagnet für Millionen Flüchtlinge. In diesem Jahr geht es im Bewußtsein jungen Afghanen weit über den Iran hinaus. Und weil es so viele Afghanen sind, die hier stranden, entwirft der Poet Kermani eine geopoetische Vision: „Mit Mytilini hat das Binnenland Afghanistan seine erste Küstenstadt“. Auf der Promenade, auf der sonst Touristen zu sehen sind, sind heute jedenfalls vor allem Afghanen zu sehen.

Unglaublich, wie auch Glaubensbrüder in der Türkei an der Küste behandelt werden, auch in und von einer Moscheegemeinde. Am Basmane Gar steht eine osmanische Moschee. Kermani vermutet, dort Flüchtlinge anzutreffen, schließlich würden auch die Gotteshäuser im Islam seit jeher Fremden Asyl bieten. So habe ich selbst es in Afghanistan erlebt. Aber die Tore sind geschlossen Die Flüchtlinge wohnen statt in der Moschee unter freiem Himmel, statt auf dem weichen Teppich auf dem nackten Stein.

Es kommt dann am Ende dieser Szene eine sehr klare Auskunft. Man lebe von der Güte der Nachbarn des Viertels, die Essen bringen und die Bedürftigsten mit ein paar Lira versorgen. „Denn nicht nur für Bad und Toilette, ebenso für jede Steckdose, in der ein Flüchtling sein Handy auflädt, und jedes GläschenTee verlange die Moschee Geld“. Und dann bricht es aus dem Syrer, der den Beginn des Austandes in Daraa miterlebt hat, heraus. „Ich bin ein frommer Mann, ich fehle bei keinem Gebet. Aber ein Islam, der keine Barmherzigkeit kennt, ist nicht einmal eine Notdurft wert“. Stark.

Die Flüchtlinge sagen an der Küste: Der Schuh von Frau Merkel sei mehr wert als alle arabischen Führer.

Das Büchlein schließt mit der vielleicht lapidar besten Beschreibung, die die Verbrecherbande IS bisher gefunden hat. Kermani trifft einen älteren Iraker aus Mossul. Er heißt Muhammad Yussuf Zaidan, 56 Jahre. Er war Besitzer eine Ladenkette in Mossul, ein angesehener Mann. Aber jetzt nach der Einnahme durch den IS darf man nicht mehr rauchen, wenn man arbeitet, muss man den IS mitfinanzieren. Der Reporter Kermani fragt unschuldig: Ob es denn nicht Leute in Mossul gebe, die für den IS seien? „Das sind Tiere. Welcher Mensch ist schon zufrieden, wenn er von Tieren beherrscht wird?“ Er hat 45.000 Euro bar in das Futter seines Sakkos genäht und ist losgezogen. Er wurde überfallen und alles wurde gestohlen, Geld, Tasche, Smartphone.

Man erfährt das alles über das kleine Buch. Auch über diese wunderbaren hunderttauende von jungen Menschen, die sich geben, als seien sie die Verkörperung der europäischen  Idee. Das Büchlein ist ein Vademecum gegen die AFD, Pegida, NPD und tutti quanti.

C.H. Beck Verlag
Quelle

Rupert Neudeck 2016Grünhelme 2016

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