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Entscheidung in Kiew – Ukrainische Lektionen

Ein guter Weg, um die Ukraine zu verstehen. Karl Schlögel gibt uns ukrainische Lektionen. Von Rupert Neudeck

Das Buch ist Aufklärung pur, es öffnet uns Schneisen, es schlägt regelrecht wie mit einer Machete das Buschwerk weg, damit wir den Blick frei bekommen auf das Land, das immer noch von seinem östlichen Nachbar verachtet wird als Kleinrussen. Diese Bezeichnung erinnert mich an das ungeliebte Verhältnis, dass die Türkei gegenüber ihren kurdischen Mitbewohnern hat, die als Bergtürken gehandelt wurden. Der Unterschied, die Ukraine hat es zum ersten Mal seit dem Auseinanderfallen der Sowjetunion geschafft, eine souveräne nationale Form zu erlangen.

Der Autor gibt sich nicht allwissend, er beschreibt seinen eigenen Bildungsweg und wie schwer es war, aus der offiziellen Verachtung des Ukrainischen und der Ukrainischen Sprache hindurchzukommen und sich voran zu arbeiten zu der Form von „Ukrainizität“. Die Ukraine ist „Europe’s Frontier“ schreibt er in Anlehnung an die Studie von Frederick Jackson Turners Essay „The Significance of the Frontier in American History“ von 1893. Viele amerikanische Tugenden wurden im Kampf der Pioniere, die sich ihren Weg in der unwegsamen Wildnis bahnen müssen, immer wieder neu erzeugt. Ukraine sei, so Karl Schlögel, immer schon Grenzland und Grenzlanderfahrung in den letzten Jahrhunderten gewesen. Wenn man Ukrainische Geschichte nicht allein am Ethnischen festmacht, dann bekommt die Frage nach dem spezifischen der „Ukrainizität“ eine große Brisanz. In einer ukrainischen Geschichte kämen nicht nur die Repräsentanten des Ukrainertums zu Wort – die Kosaken und Hetmen Bohdan Chmelnyzkyi und Mazeppa – oder die Wortführer der ukrainischen Literatur oder der Begründer der Geschichtsschreibung, „sondern auch Ukrainer, die vorwiegend im russischen oder sowjetischen Kontext sozialisiert worden sind und Karriere gemacht haben“. Und dann zählt er einige auf: Nikolai Gogol, der aus Mirgorod kommt, oder Anna Achmatowa-Gorenko, die aus Odessa stammt. Dazu müsste man auch die aus der Ukraine stammenden Russen wie Ilja Repin, Sergej Prokofiew oder Nikita Chruschtschow rechnen, aber auch die prominenten Juden, die einen ukrainischen Hintergrund haben: Leo Trotzki, Scholem Alejchem, Isaak Babel. Sogar die aus der Bukowina oder Galizien stammenden jüdischen Schriftsteller deutscher Sprache wie Paul Celan und Rose Ausländer oder Joseph Roth gehören in eine multiethnisch verstandene Geschichte der Ukraine. Eine solche breite Geschichte müsste auch das schreckliche Blutbad der Hungersnot des Holodomor im ukrainischen Dorf einschließen, die Judenpogrome des Bürgerkriegs und die Vernichtung des Judentums in der Ukraine durch die deutsche Besatzungsmacht.

Wir seien durch die Direktübertragungen, die live vermittelten Augenblicke vom Majdan noch lange nicht über Nacht zu Ukraine-Spezialisten geworden. Das Land Ukraine war zu lange terra incognita, unbekanntes Land. Geradezu als Motto für unsere behäbige Ignoranz, die gerade für uns Deutsche schlimme Konsequenzen hat, könnte das stehen, was Arnold Margolin, der jüdische Vertreter der Ukraine auf der Friedenskonferenz 1919 in Paris über die Amerikaner gesagt hat: „They are uninformed about the Ukranians as the average European is about the numerous African tribes“.

Der Autor kann nicht ganz erklären, woher diese deutsche Neigung kommt, die in vielen erfolgreichen Büchern und Talkshowauftritten der Experten sich dicke tat, die immer bereit waren, dem Generalverdacht Raum zu geben, „dem zufolge die Selbstbehauptung der Ukraine von Hause aus nichts anderes sein könnte als ukrainischer Nationalismus, wenn nicht Rechtsextremismus und Antisemitismus“.  Wenn in deutschen Talkshows (die der Autor eher mit Verachtung zitiert) die Rede vom Krieg Nazi-Deutschland gegen die Sowjetunion die Rede ist, dann sind automatisch nur „Russland“ und die „Russen“ gemeint“. Alle Gefühle der Schuld, zu der die Deutschen allen Anlaß haben, werden auf die „Russen“ projiziert. „Die Tatsache, dass 5,3 Millionen Menschen, jeder sechste Bürger auf ukrainischem Territorium sein Leben einbüßte: dass die Ukraine, das Zentrum des osteuropäischen Judentums vor dem Krieg, 2,5 Millionen seiner jüdischen Bürger verlor, 60 Prozent aller Juden in der Sowjetunion, fast 90 Prozent der jüdischen Bürger Galiziens – all das findet im deutschen Diskurs über die Ukraine keine Beachtung“. Es spielt auch keine Rolle, dass 2,5 Mio Ukrainer in der Roten Armee gegen Hitler gekämpft und Abertausende sowohl gegen Hitler wie gegen Stalin gekämpft haben. Die Abwesenheit der Ukraine auf der mental map des Westens beschränkte sich nicht auf die ungebildeten Massen. Sie geht bis in die Zunft der Historiker. Mark von Hagen stellte sich nach vielen Arbeiten über Osteuropa die Frage: „Does have Ukraine a History?“

Mit welcher Demagogie die russische Führung weltweit ihre Ansprüche durchzieht, mit brutalen Lügen, das ist bemerkenswert. Mit der Krim Annexion ist ein Regelverstoß erfolgt, der die ganze internationale Ordnung umstoßen kann. „Seine historische Begründung liest sich wie eine Anleitung zur Zerstörung der europäischen Nachkriegsordnung“. Dass der angesehene russische Außenminister Sergej Lawrow erklären kann, in der Ukraine sei ein „Genozid am russischen Volk im Gange“, ohne dafür brüllendes Gelächter zu ernten, ist merkwürdig.

Das Buch informiert uns sehr genau über die „Phänomenologie der Revolution“  am Majdan. Die Ereignisse begannen am 21. November 2013 in klirrender Kälte, als an die 1000 Menschen gegen den Rückzug vom Assoziierungsantrag protestierten und endeten mit der Flucht des Präsidenten am 22. Februar 2014. Schlögel erklärt sich noch als jemand, der seinen eigenen Augen nicht traute und misstrauisch gegen Bilder war, aber es gab eine Evidenz, Studenten wurden von Berkut Leuten zusammengeschlagen, die nicht verstehen können, dass sie sich nicht fügen wollten. „Es gibt das Anwachsen und Zusammenströmen der Volksmassen, die nicht bezahlt sein konnten, schon gar nicht vom CIA, es gibt Gesichter von Bürgern, die dort waren, Menschen, die nicht glauben konnten, dass man sie zusammenschlägt“. Es gibt die Bilder von Wacheschiebenden und Schlafenden, von den Erschöpften und Verletzten, die im Michaelkloster hingelegt und versorgt werden. Schlögel: „Ich behaupte, dass solche Bilder die Lüge vom Faschismus im Zentrum Kiews‘ widerlegen“. Ein Pianist- Terrorist spielte am Klavier zwischen den Fronten Chopin.

Schlögel besteht darauf, dass hinter der ukrainischen Krise die russische hervorlugt. Es sei schon ein Wunder, dass die Ukraine trotz der Bedrohung von außen und der Subversion im Innern bisher standgehalten hat. Putin habe nach seiner Machtübernahme die Reichtümer des Landes zugunsten einer kleptokratischen Clique umverteilt und die Institutionen des Landes ausgehöhlt und zerstört. „Auf Dauer lässt sich kein Land, nicht einmal ein von Katastrophen so schwer geprüftes wie Russland, diktatorisch zusammenhalten und regieren“.

Man liest sich ein in diese Lektionen, begreift einen Kosmos an Erfahrung, den wir nach Westen orientierten Mitteleuropäer und Deutsche noch erleben und erobern werden. Aber das Buch und sein Autor ist bei aller Drastik der beschriebenen irrwitzigen Situation bescheiden genug. Historiker heißt es mitten im Buch, „haben keine Rezepte für die Lösung der aktuellen Probleme, aber ihnen ist der Lauf der Dinge in der Gegenwart nicht gleichgültig.“ Wohin die Ukraine geht, sei die Sache der Ukrainer. Aber ein Historiker und – wie man erfährt – Liebhaber des Landes, seiner wunderschönen Hauptstadt, seiner leidvollen furchtbaren jüngsten Vergangenheit muss auch den Zustand benennen können in dem wir jetzt leben. Es ist ein Krieg dort, der von dem östlichen Nachbarn angestrengt wird, und wir müssen vermeiden, von Krieg zu sprechen. Es ist ein Krieg ohne Kriegserklärung. „Die Selbstverteidigung der Ukraine ist nicht nur legitim, sondern sie verdient auch unsere Unterstützung – in welcher Form das geschieht, ist eine Frage der politisch-militärischen Zweckmäßigkeit“. All das seien Selbstverständlichkeiten. Man müsse sich fragen, wann sie aufgehört hätten, Selbstverständlichkeiten zu sein. „In einer Zeit der gezielten Begriffsverwirrung sei alles möglich geworden. Die russische Aggression drapiert sich „antifaschistisch“, die „Revolution der Würde“ wird als „faschistischer Putsch“ gebrandmarkt. An dieser einen Stelle gibt sich der Historiker als politscher Zeitgenosse: „Wir sollten dem Ernstfall ins Auge blicken, der in unsere Lebenszeit eingebrochen ist.“ Und noch einmal stärker: Wir dürfen die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wahrheit und Lüge nicht preisgeben.“ Das wäre der geringste Beitrag, aber auch der notwendige, um nicht wieder an einem „Verrat der Intellektuellen“ teilzunehmen, den damals in der Zeit zwischen den Weltkriegen Julien Benda diagnostiziert habe.

Das Buch bringt ein langes architektonisch-historisches Gemälde von der Hauptstadt der Ukraine und was und wen sie alles beherbergt hat: Michail Bulgakow, Malewitsch, aber auch unser so lange in Köln lebender russischer Germanist Lew Kopelew ist in Kiew geboren. Er geht dann weiter in die Stadt der großen Erwartungen Odessa, dann in die Stadt, die den Verträgen zum Schluss des Zweiten Weltkriegs und des Siegs über den Nationalsozialismus den Namen gab: Jalta, damit ist gleichzeitig der „Mythos Krim“ benannt. Dann geht er nach Charkiw, die „eine Hauptstadt des 20. Jahrhunderts“, dann nach Dnipropetrowsk, die Rocket City am Dnjepr und Potjomkins Stadt, dann in der Stadt, die fast schon zum Reich Wladimir Putins gehört: Donezk. Dann gibt der Autor weitere Lektionen in Czernowitz und in Lemberg, der Hauptstadt der europäischen Provinz.

In Donezk wird es noch mal richtig schaurig, das Wort, das wir aus dem Bosnienkriege als Realität für Sarajevo und Mostar kannten und jetzt bei dem unwiederbringlichen Verlust von Aleppo und all dem, was es für die Christenheit und die Muslime als Stadt bedeutet, kommt jetzt noch Donezk hinzu. Hier lebt der Autor nicht von alten Essais und Artikeln, sondern beschreibt seine Reise zu Ostern 2014 nach Donezk. Es ist ein Kidnaping, eine Stadt als Geisel. „Nur die Donezker können beschreiben, was mit Ihnen geschieht“. Schlögel beschreibt die „Verwandlung einer Stadt zu einer Kriegslandschaft“, das ergreift alle Ebenen und Sinne. Die Menschen lernen auf Geräusche zu achten. „Sie schließen aus ihnen auf den Geschosstyp, die Richtung, aus der das Geschoss abgefeuert wird, und aus der Detonation schließen sie auf die Entfernung des Einschlags“. Die Kinder können nicht mehr schlafen. In solchen Situationen werden aus Hausbewohnern wieder Höhlenbewohner, eine Erscheinung in allen vom modernen Krieg betroffenen zivilisierten Städten. Fenster werden mit Sperrholz verkleidet und Scheiben mit Klebeband gegen Splittergefahr abgesichert. Die Geiselnehmer, die aus Rußland alles bekommen, sind im Vorteil, sie diktieren dem Erpressten die Reaktionen. Schlögel: „Auf die terroristische Aktion der Separatisten war die ‚Anti-Terror-Aktion der ukrainischen Freiwilligenverbände und Armee nie eingestellt“. Es ist ein Urbizid, der Tod einer Stadt vor unseren Augen und wir verlangen die Einhaltung eines Waffenstillstands. Die Stadt wird zum Exerzierfeld für militärische Logistik für die Umfunktionierung von Schulen und Krankenhäusern in Lazarette.

Das sind zum Teil Skizzen, die der Autor aus dem Erlebnis der Besuche noch vor dem Fall der Mauer gezogen und aufgeschrieben und auch schon publiziert hat. In Czernowitz erlebt er die Restbestände des jüdischen Ortes, dessen Synagogen aber in Werkstätten und Lagerhäuser umfunktioniert worden sind. Alle religiösen Gebäude sind säkularisiert und damit auch zerstört. „Was hat das alles zuwege gebracht? Keine böse Absicht, keine Intrige, nicht einmal eine Gottlosen Strategie und militanter Atheismus,  es war die Wucht der Versprechungen einer Moderne, die vielleicht das Wannenbad und die Zentralheizung mit sich gebracht, aber die Welt auch häßlich und grau gemacht hat“.

Dieser Historiker Ost-Mitteleuropas, der sich in dem ganzen Buch als ein enthusiastischer Liebhaber der Kultur und Naturlandschaften des östlichen Europas enthüllt, der sich in seiner überbordenden Liebe zu den alten und den neuen Welten und Landschaften kaum überbieten läßt,  bleibt ein politisch bewußter Zeitgenosse. Ein Bürger Europas, der auch Anstand hat und weiß, was sich gehört. So bekennt er zu Beginn, dass ihm die Annexion der Krim, vor allem die dreiste Lüge, mit der Putin sie verleugnete, es ihm unmöglich machten, die Puschkin Medaille anzunehmen. Eine Ehrung der Russischen Föderation für Verdienste um die Vermittlung der russischen Kultur im Ausland. Er musste dem persönlich geschätzten Botschafter Russlands in Berlin schreiben, dass er die Auszeichnung nicht annehmen könnte. Aber es wurde ihm von einer herrschenden Meinung der Versteher der „russischen Seele“ sehr schwer gemacht mit einer solchen Entscheidung. Diese Versteher würden sich nie um die „ukrainische, die polnische, die baltische Seele bemühen, für sie gilt es nur zu Russland Beziehungen zu haben. Doch die Beziehungen sind mit diesem Moment in Frage gestellt: Die russische Politik gegenüber der Ukraine, die Entfesselung eines Krieges gegen das Brudervolk habe alles in den deutsch-russischen Beziehungen Erreichte in Frage gestellt. Man fühlte sich durch die Annexion und durch den Krieg in der Ukraine wie von einem Schock ergriffen. „Die Wirklichkeit war eine neue Wirklichkeit. Man fühlte sich mit allem, wie man sich die Welt zurecht gelegt hatte, plötzlich überrannt“. Wir waren es in Europa nicht mehr gewohnt, dass jemand wie Putin sagen konnte, er könne mir seinen Truppen in kürzester Zeit die Ukraine einnehmen. Die „eigentliche Verletzung betrifft einen nicht als Ukraine- oder Osteuropa- oder Russland-Spezialist, sondern auf einer fundamentaleren Ebene. Es ist eine tiefe, geradezu metaphysische Kränkung, dass sich die Geschichte nicht so entwickelt, wie man es sich vorgestellt hat“. Es gab den Lebensplan, in dem ein gelingendes Leben mit einer gelingenden Geschichte hatte zur Deckung kommen können. “Die Steigerung militärische Einschüchterung erzeugt eine Situation permanenter Anspannung, die alle Lebensäußerungen durchdringt“. Wie soll man, so Karl Schlögel, diesen Schock beschreiben? „War man in ein Loch gefallen, war einem der Boden unter den Füßen weggezogen worden?“ Ja, es hatte sich mit Putin und dem Ukraine-Krieg etwas zurückgemeldet, was früher einmal als „unheimlich“ bezeichnet worden war.

Carl Hanser Verlag
Quelle

Rupert Neudeck 2015 Grünhelme 2015

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