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C.H. Beck Verlag | Katharina Kakar " Frauen in Indien - Leben zwischen Unterdrückung und Widerstand"

© C.H. Beck Verlag | Katharina Kakar " Frauen in Indien – Leben zwischen Unterdrückung und Widerstand"

Frauen in Indien – Leben zwischen Unterdrückung und Widerstand

Frauen in Indien und der europäische Feminismus. Zu einem Buch von Katharina Kakar. Von Rupert Neudeck

Das ist ein erschütterndes Buch für den europäischen Leser, umso mehr als uns für viele gesellschaftlich-kulturelle Nischen des vielfältigen Lebens von Frauen und Mädchen in der indischen Gesellschaft die Augen geöffnet werden. Die Autorin verschwendet nicht zu viel Raum für Skandal und Unrechtszustände, dafür benachrichtigt sie nüchtern zuerst einmal über die verschiedenen Zustände in der Kasten. Das Buch zeigt uns auf erschütternde Art, wie wenig das gültige indische Recht und die gültige Verfassung dafür sorgen können, dass die Kasten-Unterschiede, die auch Rechts- und Wert-Unterschiede sind, damit geändert werden. Die häufige sexuelle Gewalt gegen die unterste Kate, die Dalits und weitere nierdrigkastige Mädchen und Frauen sind eine regelrechte Waffe im Kampf der Katen. „Vergewaltigung ist eine Entehrung, und da Dalitfrauen auf Grund ihres niedrigen Sozialstatus bereits ehrlos sind, wird ihre Vergewaltigung von Männern höherer Kasten oft lediglich als Delikt betrachtet, nicht als Straf- oder Gewalttat“.

Dalit-Frauen berichten von Übergriffen auf den Feldern, bei denen solche Männer es als eine Art Standesrecht betrachten, diese Frauen zu nehmen. Es ist ungeheuerlich, aber man muss sich das klar machen: Ein Dalit-Mädchen zu vergewaltigen, Häuser niederzubrennen sind Möglichkeiten, die gesamte Kastengruppe in ihrer Ehre zu erniedrigen, da diese keine Macht hat, das Vergehen zu rächen. Falls Dalit es wagen, gegen solches Unrecht zu protestieren, entfacht dies oft eine Spirale der Gewalt – ein Zeichen dafür, dass Unterdrückung mit massiver Gewalt ein essentieller Teil des Kastensystems ist. Das Schlimme: Die Polizei steht auch nicht auf der Seite des Rechts und der Verfassung sondern des Kastensystems.

Eine Frau hatte einen Dalit-Mann aus einem armen Dorf geheiratet, dieser baute ein kleines Haus am Rande seines Dorfes. Als Mitglieder der höheren Kasten das erfuhren, verlangten sie Alkohol von ihm. Sie verprügelten Familienmitglieder und brannten das neugebaute Haus nieder. Eine Anzeige bei der Polizei führte zu nichts, da die Polizisten aus der gleichen Kaste stammten wie die Täter. Das Kastenwesen ist auch durchschlagender weiter als die Religionen, auch als Islam, Sikkhismus und Christentums. Gleichheit der Menschen ist weiter ein Fremdwort für Indien. Bei Katholiken – berichtet die Autorin – im Bundesstaat Goa gäbe es weiterden Ausdruck „brahmanischer Katholik“, um jemanden zu benoten, der weit oben in der katholischen Hierarchie angesiedelt ist.

Warum fragt man sich, gibt es keinen Aufstand in Indien der Besitz und Ehrlosen? Das hat auch mit der feinen Abstimmung in den unteren Hierarchieebenen zu tun. Diejenigen, die in Privathäusern Kot entferne, fühlen sich denjenigen überlegen, die die öffentlichen Toiletten reinigen. Die interne Kastenhierarchie verhindert, dass eine einheitliche Massenbewegung bis heute entstehen konnte. Da die 900 (!) Dalit-Subkasten sich teilweise auch wieder untereinander bekämpfen. Die Autorin +erläutert, dass das auch in der indischen Frauenbewegung zu beobachten sei. Es werde mehr rivalisiert als kooperiert. Auf die Kaste bezogen, rivalisieren z.B. in Tamil Nadu drei Hauptkasten der Dalits, die Pallars, die Paraiyars und Sakkikiayars, so dass keine geschlossene Front das dominante System herausfordern kann.

Das einzige, was gegen das System von oben und aus dem Justizgefüge für die Dalits geschehen ist, sind Quotenregelungen für Niedrigkastige im Bildungssektor und für Regierungsjobs. Auch gab es 1989 den „Prevention of Atrocity Act“, der Übergriffe auf niedere Kasten und Dalits definiert und unter Strafe stellt, Aber bis heute sind diese Bestimmungen eher schönes Papier In den Dörfern, in denen andere Regeln gelten, gibt es keinen Schutz. Der Kastenlose Vater eines Dalitmädchens ging im Mai 2014 zur Polizei und wird dort ausgelacht und nach Hause geschickt, weil er darum bat, seine Tochter suchen zu helfen, weil sie auf dem Weg in die Felder zum Toiletteneingang mit ihrer Cousine verschwand. Beide Mädchen wurden am nächsten Tag  vergewaltigt und erhängt an einem Mangobaum gefunden.

Die Autorin sagt westlichen Leserinnen, wenn sie auf dem Auge nicht blind sind, dass es nicht darum geht, mit den konventionellen Mitteln des westlichen Feminismus hier für Ordnung durchgreifend zu sorgen. Die Autorin, die beide Kulturen und Welten kennt, die westliche und die indische, sagt eindringlich: die Forderung nach der Gleichheit der Geschlechter und der Befreiung der Frauen aus patriarchaler Vorherrschaft sei ein Konstrukt der liberalen westlichen Frauenbewegung, die auf Ideologien der Aufklärung aufbaut. Das sei auch nur eine der Formen feministischer Bewegungen. Indische Frauenbewegungen sind vielfältiger. Sie reichen von liberalen Organisationen wie Samt (=Gleichheit) einem 1978 gegründeten Kollektiv das von gebildeten Frauen der urbanen Mittelschicht getragen wird – bis hin zu militanten kämpferischen Landarbeiterinnen aus den unteren Kasten. Häufig wird in Indien gesagt, dass unter Feminismus ein imperiales Konzept der westlichen Mittelschicht zu verstehen sei.

In der Feminismus Debatte macht man in Indien drei Tendenzen bekannt: Einmal die Ignoranz, die verhindert, „Frauenbewegungen der post-kolonialen Welt in ihrer Breitenwirkung anzuerkennen. Dann gibt es die Voreingenommenheit, Frauenbewegungen nur als ein Produkt der „Modernisierung und der Entwicklung“ einzuschätzen. Und dritten gibt es die falsche Annahme, dass die „Formen weiblicher Unterdrückung wie auch die Motive aktiver Frauenbewegungen global die gleichen sind“.

Das Buch ist deshalb so wertvoll, weil es auf diesem Gebiet aufweist, dass unsere westlichen, von uns  für universal gehaltenen Rezepte nicht immer für alle gültig sind. Wissenschaftlich ausgedrückt: Das Selbstwertgefühl von Menschen ist immer kulturell kodiert. „Für das Selbstgefühl eines indischen Frau ist die Mutterschaft von größerer Bedeutung als die Selbstfindung im Beruf und die damit verbundene Autonomie, auch wenn die meisten jungen Frauen n den Städten einen Beruf ausführen wollen“. Das allein zeigt die gewaltige Kluft der Gesellschaft Indiens zu einer westlichen  Für die Autorin ist klar, dass es eine der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist, die Kluft zwischen politisch-rechtlicher aber bedeutungsloser Gleichstellung und der Ungleichheit in der Realität zu durchbrechen.

Insbesondere, das macht dieses Buch erschütternd klar, sind es die Frauen der unteren Kasten, die besonders hart betroffen sind, da sie auf Grund ihres Geschlechts die größte Bürde zu tragen haben von sexueller Belästigung über Mangelernährung, Verweigerung medizinscher Versorgung  bis zur Akzeptanz halber Lohnzahlung im informellen Sektor. Die Autorin will mit westlichem Begriffsinstrumentarium darauf verweisen, dass der Kampf dieser Frauen weniger ein „Geschlechterkampf denn ein Klassenkampf ist“.

Sie zitiert eine Frauenaktivistin aus Bangalore: „Geh in einen Slum und sprich über Wasser und Land und die Frauen werden kämpferisch hervortreten. Sprich aber über Rechte, Gewalt, Vergewaltigung in der Ehe – sie wollen darüber nicht reden.“ Die Aktivistin fragt sich verzweifelt: Wie sie ihnen dann helfen soll. Sie seien stärker mit dem alltäglichen Überlebenskampf belastet als zu verstehen und darüber zu sprechen was rechtmäßig ihres sei.

Es gibt Überhöhungen des Hindunationalismus, die sich in Äußerungen wie dieser Kaprizieren: „Frauen sind Männern von Natur als geschöpfte Gattung überlegen. Männer sind nicht solche noble Wesen, dass Frauen für Gleichheit kämpfen sollten. Stattdessen sollten sie dafür kämpfen mit Respekt behandelt zu werden. Wenn Frauen Süße (ihre Feminität) mit Stolz und politischem Bewusstsein verbinden, dann können sie der ganzen Welt den Weg zur Freiheit lehren“. Das war die Stimme der Politikerin Uma Bharti.

Die Gleichsetzung von Frau und Göttin war der Kern des Identifizierungsprozesses hindu-fundamentalistischer Frauengruppen. Es sei die Göttin in ihrer sich ständig wandelnden Form, „die die Welt schöpft, erhält und trägt. Die Gewaltbereitschaft der Göttin, die tötet, um das Gleichgewicht der Welt wiederherzustellen, gibt Frauen in hindu-fundamentalistischen Spektrum die Legitimation, für die Verteidigung ihrer Werte notfalls auch selbst zu töten.“ Und die Gewalt kam dann auch hoch bei frustrierten Frauengruppen, die sich nicht mehr wie die Lämmer zur Schlachtbank tragen lassen wollten. Es gab ganze Banden, Gruppen, die keinen anderen Weg mehr sahen, als das Unrecht, das sie erleben durch eigene Gewalt sichtbar zu machen. Die Autorin zitiert den Fall eines 17-jährigen Mädchens, das von ihrem Onkelt vergewaltigt worden sei. Es hatte sich ein Messer besorgt, nahm due Unterhaltung mit dem Onkelt mit einem Handy auf und schnitt dem Onkelt, der wieder vergewaltigen wollte beherzt die Genitalien ab.

Nicht nur einzelnen, auch informelle Gruppen von 200 Frauen hielten es nicht mehr aus, als wieder der mehrfache Vergewaltiger Akku Yadav vor Gericht stand und man erwarten durfte, dass er wieder mit einer belanglosen Abfindung freikam. Da stürmten sie den Saal des Bezirksgerichts Nagpur (Nord-Indien) und tötenden Vergewaltiger auf bestialische Art. Es wurde ihm Chilipulver ins Gesicht geschleudert, Steine geworfen und sein Penis mit einem Gemüsemesser abgeschnitten. Das alles muss man sich klarmachen: Die Frauen waren am Ende all Ihrer Geduld, sie hatten gehört, dass der landesweit bekannte Vergewaltiger, der sich seiner Taten rühmen konnte, kurz vor seiner Freilassung auf Kaution stand. Da stürmten sie den Gerichtssaal und töteten ihn.

Die Autorin weist mehrmals in dem Buch daraufhin, was für eine deutsche Leserschaft wichtig ist: Indien ist ein Kontinent, ähnlich wie Europa. Dass sich in diesem Kontinent nicht weniger als 32 verschiedene Nationen mit einer eigenen sprachlichen und kulturellen Ausprägung tummeln, darf man nicht vergessen. Die verschiedenen sozialen, ökonomischen und politischen Gegebenheiten schaffen eine Realität, die die Autorin als fünf gleichzeitige „weltgeschichtliche Zeitzonen“ einführt. Die Zeitzone 1 sei bestimmt durch isoliert-abgelegene Landstriche indischer Ureinwohner in den Wäldern Zentralindiens. Zeitzone 2 umfasse das agrarwirtschaftliche Indien des nordischen Flachlands, wo sich das Leben immer noch so wie im 20. Jahrhundert abspielt. Die Zeitzone 3 bezeichnet die Kleinst- und Kleinstädte Indiens mit ihren lokalen Eliten. Die Zeitzone 4 wird markiert durch die Megastädte Indiens mit der Wurzellosigkeit der aufsteigenden Mittelschicht und den Freiheiten des 21. Jahrhunderts. Zeitzone 5 meint die „globalisierte, privilegierte Schicht, die frei im In- und Ausland reist und sich somit physisch wie virtuell im globalen 21. Jahrhundert bewegt“. Nur, wenn man sich immer den Bezug zur besonderen Geographie, zur besonderen Zeitzone und Nationalität deutlich macht, kann ein gerechtes Bild dieses Kontinents Indien gelingen.

Ein Sittenbild, das in das Indien, das wir mit Mahatma Gandhi verklären, nicht gut hineinpasst. Aber was wahrscheinlich Ausdruck des mangelnden Interesses für das neben China größte Volk der Erde ist. Für China gibt es ja auf Grund unserer Profite wesentlich größere Neugier und Kontakte. Die Frauen in den Städten bewegen sich zwischen den traditionellen Rollenerwartungen und den liberalen Emanzipationsbestrebungen, um eine Position zu finden. Indiens Erotik bedarf der „satanischen Westlichen“ Werte kaum. Der verdorbene Westen sei ein bequemes Feindbild, auf das sich so ziemlich alles projizieren lässt, was der eigenen Ideologie widerstrebt. Dennoch könne Indien – so die Autorin sehr überraschend – stolz sein auf sein demokratisches Selbstverständnis, auch in Zeiten, in denen rigidere politische Kräfte wirklich sind als zu Gandhis Zeiten, die liberale Lebenswelten an den Rand zu drängen versuchen.

Katharina Kakar „Frauen in Indien – Leben zwischen Unterdrückung und Widerstand“ – online bestellen!

Quelle

Rupert Neudeck 2015 | Grünhelme 2015

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