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Albrecht Knaus Verlag

© Albrecht Knaus Verlag

Gehen, ging, gegangen

Glänzende Fiktion, gemischt mit vielen Fakten. Zu Erpenbecks Flüchtlingsroman. Von Rupert Neudeck

Das ist der Roman zum Thema des Jahres: Flüchtlinge, Asylbewerber, Wirtschaftsflüchtlinge, Migranten, Einwanderer. Das Ganze ist behutsam wie in einem fein austarierten hohen Erzählturm ganz nahe an den Realitäten, wie wir sie selbst als Bürger oder auch als Medien-Konsumenten Wochen und Monatelang erlebt haben. Die Autorin muss sich in dem Umfeld außerordentlich gut auskennen, denn sie beschreibt zwischen Begebenheiten, die man unschwer als Tagesaktualitäten wiedererkennen kann und den fiktiven Begegnungen mit einzelnen Flüchtlingen auf eine sehr unterhaltsame Art das Kleben der Einheimischen mit den Zugewanderten. Es sind köstliche Szenen, die uns das Leben der neuen Mitbürger auf Zeit oder auf Dauer leichter machen werden. So wenn die Hauptperson Richard, typischer Mensch des beginnenden 21. Jahrhunderts in Deutschland, keine Ehe mehr, keine Kinder, lebt allein in einem Haus oder Appartement, in dem auch ein Klavier steht. Einsamkeit zeichnet das Leben solcher Menschen aus, die schon Emeritus sind. Und die tun etwas für sich selbst sehr Nützliches, wenn sie sich mal melden an der Pforte solcher Asylbewerber Heime.

Richard holt seinen Niger-Afrikaner Osaboro ab, wie vereinbart um 11 Uhr. Er will ihm sein Klavier zeigen. Als er im Zimmer anklopft, dauert es lange bis die Tür aufgeht. Osaboro steht da verschlafen. Er hat den – deutsch gesagt – „Termin“ vergessen. Der deutsche Gönner ist sauer. Warum, die Flüchtlinge haben keinen eingeteilten Tag, leben zusammen, haben noch keine Ahnung, wo sie gelandet sind, es sind alles nicht erkennbare Labyrinthe. Er ärgert sich, dass der Afrikaner den einzigen Deutschen, der jemals dieses Heim freiwillig betritt, einfach vergißt. Dann kommt Osaboro, während Richard noch mal über die Fehler sinniert, die er gemacht hatte und die wohl verantwortlich dafür sind, dass er seine Geliebte verloren hat. Richard fragt, ob der Mann aus dem Niger wisse, dass man auf dem Platz nebenan Fußball spielen kann. „Without paying?“ fragt Osaboro. Richard will, dass Osaboro den Weg zurück findet und zeigt auf ein Straßenschild: „Weißt Du, dass früher hier Osten war?

Osaboro schüttelt den Kopf: East? Und: Weißt du, dass es in Berlin eine Mauer gegeben hat? I don’t know.

Hast Du den Namen Hitler schon einmal gehört? Who? Der den Krieg begonnen und alle die jüdischen Menschen umgebracht hat.

„He killed people“?

Dann kommt es zu den Fragen des Niger-Flüchtlings, der das auch nicht versteht, dass hier jemand in einem großen weiträumigen Gemach mit Vorraum, Flur, Küche, Wohnzimmer, Bibliothek, Treppe nach oben allein lebt, keine Frau, keine Kinder. „Du lebst hier ganz allein“.

Er zeigt ihm das Klavier. Osaboro spielt. Er hat nie Unterricht genommen, aber Afrikaner sind sehr rhythmus- und musikbegabt. Dieser Osaboro soll dann alleine zurückgehen in der Riesenstadt Berlin. Er, der von Niger über Libyen nach Italien und von Italien nach Finnland und von Finnland nach Berlin gekommen ist, hat noch nie von irgendeiner Stadt einen Stadtplan gesehen.

Es sind andere Leitmotive bei den Begegnungen von Menschen. Die in Afrika oder Asien mit diesen Menschen zu tun haben, kennen es, sofern sie Kontakt zu den Einheimischen überhaupt haben dürfen. Bundeswehrsoldaten sind davon ausgenommen, die dürfen keinen Kontakt haben. Aber es kommt dem Europäer immer mal die Frage in die Quere, auf die er keine Antwort hat und die er unverschämt findet. Was geht den das denn an? Als Osaboro mit Richard auf dem Wege zurück ist, an einer Kreuzung bei Rot,  fragte dieser „plötzlich“: „Glaubst Du an Gott?“ Und sieht den Richard dabei zum ersten Mal voll an. Richard sagt diese westliche Antwort und dann noch im Jargon der Eigentlichkeit: „Eigentlich Nein“ und das „eigentlich“ sei schon ein Kompromiss. Der junge Osaboro sagt, er könne nicht verstehen wie jemand nicht an Gott glaubt. Das ist die tiefste Kluft des selbstbewussten Universalisten und Gläubigen an die abstrakten Menschenrechte zu den Menschen, die wie Habenichtse auf der Welt herumirren. „Wenn du in Not bist, glaubst Du an Gott. Wenn ich krank bin, dann macht nicht das Krankenhaus mich gesund, sondern Gott“.

Und wie ein Leitmotiv taucht die Frage der Arbeit auf, ohne die ein Mensch nicht menschenwürdig leben kann. Die Verwaltung, die hölzerne, meint immer der Artikel 16 des Grundgesetzes habe damit zu tun, dass jemand, der hierherkommt, sofort von uns alles gestellt bekommt und nicht arbeiten darf. Das ist grundfalsch. Der Roman wirkt wie ein Pamphlet dagegen vorzugehen: Richard ist wieder in einem Zimmer, wo diese stillgestellten, vor Arbeitskraft explodierenden jungen Leute liegen. Awad in diesem Fall: „Bekommt ihr hier eigentlich Geld?“ fragt dieser Richard im Roman. Ja, seit zwei Wochen, aber das ist nicht gut, ich will lieber Arbeit. Awad war lange in Italien und sagt es italienisch: Mi dispiace, poco lavoro. Dann kommt so ein genialer Erpenbeck Satz: „Richard hat Foucault gelesen und Baudrillard, und auch Hegel und Nietzsche. Aber was man essen soll, wenn man kein Geld hat, um sich Essen zu kaufen, weiß er auch nicht.“ „Sempre poco lavoro“. Und Richard stellt sich die Frage, die die Parteien im Bundestag immer noch für nebensächlich und lästig finden, wo es doch um Zelte, Altkleider, Matratzen  geht: „Warum eigentlich wird den Männern in einem Land, in dem selbst der Anspruch auf einen Himmel im Jenseits von der Arbeit abhängt, das Recht, arbeiten zu gehen, verweigert?

Dieser Roman leistet eine nicht ausdrückliche und direkte Aufklärung über unsere neuen Bürger durch die Hintertür der fiktionalen Beschreibung, die gesättigt ist mit der puren Realität. Es kommt zu herrlichen Begegnungen des Richard, in diesem Fall wieder mit dem Osaboro aus Niger. Sie trinken Kaffee und Tee. Dann fragt Richard, ob er, Osaboro auch manchmal spazieren gehe? „Walk“ will er sagen, aber Osaboro versteht „Work“.

„Ja ich will arbeiten“, und er wiederholt es noch mal, „aber es ist nicht erlaubt“. Dann kommt so ein herrlicher Bezug zu der „Zauberflöte“. Richard denkt, wie Mozarts Tamino geprüft wird und ihn bei jeder Tür, die er öffnen will, eine Stimme vom Weitergehen abhält. „Zurück?“

Das Buch macht damit vertraut, wie anders Menschen aus anderen Kulturen mit Ihrem Körper umgehen und wie viel ihnen die Diskretion bedeutet, die bei uns bei dem Ungestüm der Permissivität gar nicht mehr hochkommt, weder als Bewusstsein noch als Empfindung. Bei der Behandlung durch eine Ärztin, geht es auch um die Duschen. Awad meint, die Duschen müssen abschließbar sein. „So ein Deutscher weiß also wirklich nicht, dass die Aura eines Mannes vom Bauchnabel bis zu den Knien geht, und dass niemand, es sei denn die Ehefrau, einen erwachsenen Muslim je nackt sehen darf?“

Es gibt, kunstvoll in die Erlebnisse des einsamen Hausbewohners Richard eingewoben, Betrachtungen zum Krieg und zu einzelnen afrikanischen Ländern, aus denen die Flüchtlinge nach Berlin kommen. Awad hat den Krieg erlebt und immer noch Kopf-Schmerzen, „wenn er nur einen anderen Kopf haben könnte, aber wenn Krieg ist, gibt es nichts anderes als Schlagen und Schießen, wenn Krieg ist, geht alles in Scherben, wenn Krieg ist, sieht man den Krieg und sonst nichts mehr“. Und über den Niger-Menschen, wo man als Deutscher nicht mal weiß, wie man ihn nennt, Nigerianer geht nicht, das ist schon für Nigeria reserviert. Nigeraner oder Nigerer. Als Richard mal mit seinen alten Kollegen von der UNI einen Spaziergang macht, sprechen sie davon, dass der Niger ein Monopol auf Uran hat und beherrscht wird vom französischen Staatskonzern Areva. Und der Gewinn dieses Areva Konzerns sei zehnmal so hoch wie sämtliche Einnahmen des Staates Niger.

Was ich vermisse, eine in die Dialoge eingebaute Kritik an der Behördensprache, die ja niemand, auch wenn er wie ein Weltmeister studiert, verstehen kann. „Asylbewerberleistungsgesetz“, das Wort möchte man für die deutsche Sprache als Unwort eliminieren. Oder „Einzelfallprüfung“. Und dergleichen semantisch- politische Ungetüme.

Das Buch bezeugt seine Realitätsnähe noch durch eine für die Fiktion geradezu unanständige Spendenaufforderung. Aber auch das macht das Buch so gewinnend. Wer nämlich für Flüchtlinge in Berlin spenden möchte, kann das z.B. tun beim Kirchenkreis Berlin Stadtmitte.

Die Afrikaner können nicht verstehen, dass jemand wie der emeritierte Professor Richard alleine lebt. Wie wird es denn im Alter sein, wer wird sich denn um ihn kümmern. Denn noch schlimmer als dass er da alleine lebt ist, dass er keine Kinder hat. Das zweite, was die Afrikaner nicht verstehen ist die Tatsache, dass der Deutsche säkular und atheistisch ist. Das macht die Autorin deutlich, in dem sie noch mal die traurige Atmosphäre mit dem Gänsebraten und dem Weihnachtsbaum ablaufen läßt: Weihnachten, das Fest der Konsumtempel: „Wie leergefegt ist die Welt am Nachmittag vor dem Heiligen Abend! Dann steht der atheistische Richard mit seinem muslimischen Gast vor dem illuminierten, heidnischen Weihnachtsbaum, auf den nur Kerzen aus echtem Wachs gesteckt sind“. Kultur, der Thomanerchor, aber keine Erinnerung an etwas aus der Religion. Raschid, den Richard zu Gast hat, erinnert ihn daran: „You know, Jesus is a prophet also in the Koran“. Eine Zusammenballung von 12 Asylbewerbern wird berichtet, zu der 40 bärenstarke deutsche Polizisten aufmarschieren.

Und schon weiß eine Kollegin von Richard, hochgebildet was passiert. „Einer der Flüchtlinge hat von oben hinuntergepinkelt, alle regen sich fürchterlich auf, weißt Du das schon?“ Richard war dabei, hat es nicht gesehen, sagt NEIN. Kaum in Deutschland, denkt sich Richard, pinkelt der als Allererstes vom Dach. Als ALLERERSTES, aber er ist hier nach drei Jahren Flucht und Warten. „Haben sie, die Herrschaften der Flüchtlingsszene, schon jemand irgendwo geregelt Arbeit oder Werte schaffen gesehen? Ich jedenfalls nicht. Und der Raschid klagt auch sein Leid dem Professor Richard. Wenn er den Raschid, den Schlosser arbeiten sehen könnte, sähe er einen ganz anderen Raschid. „Weißt du, sagt er, Arbeiten ist für mich so natürlich wie Atmen!“ Das ganze Buch über wollen diese Menschen Arbeit. Do You have work for me? I need work, work“, jammert Osaboro.

Das Buch ist sehr nahe an einem dokumentarischen Buch, damit meine ich nichts Abschätziges über die kunstvoll verwobene Geschichte des einsamen emeritierten Professors mit seinen Afrikaner Flüchtlingen aus Libyen und Lampedusa, die aus verschiedenen Ländern kommen, über die man dann auch erfährt in dem Buch. Fast alles hat es in Berlin gegeben, die Oranienplatzgruppe, diese Behörden, von denen man genau weiß, dass niemand in einer Notzeit auch nur eine Stunde länger, geschweige denn ein Wochenende einfach als nationale Verpflichtung arbeiten würde. Nein, die Tarifordnungen der öffentlichen Dienste sind ordentlich. Das macht das Buch in wunderbaren erfundenen Geschichten deutlich, die so gut erfunden sind, dass man sie immer bei sich, in einer Gemeinde für wahrhalten kann. Dann werden die Männer der Oranienplatzgruppe abgelehnt, sie müssen wieder nach Italien, weil sie dort angekommen sind und das Land für sie „zuständig ist“. Die Autorin benennt sie noch einmal alle, den dünnen Karon, den Raschid, den Yussuf aus Mali, den Rufu.

Und dann blättert man weiter und hat zwei weiße Seiten vor sich: Auf jeder steht sehr einnehmend: Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo der hingehen soll?, das steht auf S. 328 und auf S. 329 noch einmal. Das Buch ist voller Ironie, die Hauptperson, eben jener emeritierte Professor Richard hat noch einmal in Frankfurt für Liebhaber seines Faches seinen Vortrag über Seneca zu halten, mit dem schönen kontrafaktischen Titel: „Von der Seelenruhe“. Dann kommt er früher als alle anderen zurück, er nimmt den letzten Zug nach Berlin, steigt in seine Wohnung und sieht, dass einer eingebrochen hat, sich aber weder an das Geld noch an das englische Geld ,was da herumlag vergriffen hat, auch nicht am Computer. Den Verdacht fällt auf Osaboro, ob der es war bleibt offen. Tolle Ironie auch, wenn im Gespräch mit dem quirligen Asylanwalt dieser plötzlich auf Tacitus zu sprechen kommt und aus dem Germania Buch tatsächlich einige Zeilen vorliest: „Es gilt den Germanen als Sünde, einem Menschen das Haus zu verschließen, wer es auch sei, jeder empfängt ihn mit einem reich zubereiteten Mahle.“

Jenny Erpenbeck „Gehen, ging, gegangen“

Quelle

Rupert Neudeck 2015 Grünhelme 2015

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