Heimatschutz
Die Mordserie begann sehr viel früher. Zu der ersten umfassenden Aufklärung über Rechtsradikalismus und Nazis in Deutschland. Von Rupert Neudeck
Wer nach der Lektüre dieses unanständig dicken aber wertvollen Buches noch behauptet, wir bräuchten ein Bundesamt für Verfassungsschutz oder V-Männer zu unserer Sicherheit, ist gemeingefährlich. Wie stark der Staat sich selbst im Wege stand bei der Aufklärung der gesamten rechtsradikalen NSU-Mordserie, erlebt der unbescholtene Staatsbürger und Leser in diesem Buch mit offenem Mund. Der Staat bezahlt seine Gegner, die dabei sind, den Untergrund noch geschützter verstärken und arbeiten zu lassen, als er es sowieso schon täte.
Niemand wird mir nach der Lektüre dieser über 800 Seiten Heimatschutz noch beweisen können, dass wir diese unsinnige Geldausgabe für einen Verfassungsschutz brauchen. Man lernt die V-Männer als Täter des Untergrunds kennen, den Tino Brandt, den Kai Dalek, den Thomas Richter alias Corelli und tutti quanti. Tino Brandt, so heißt es, habe Zugang zur „Leitungsebene“ des Netzes, „wo Aktionen besprochen und organisiert werden, teilweise in verschlüsselten Aktionen, die auch das BKA nicht knacken kann. So organisiert er dort zusammen mit anderen die nächste Rudolf Heß-Gedenkveranstaltung“. Tino Brandt wird mit dafür verantwortlich sein, dass sich 2003 Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat bis auf die Knochen blamieren werden. Denn im März 2003 lehnt das Bundesverfassungsgericht den NPD-Verbotsantrag ab. Es seien so viele V-Männer in der Partei, dass nicht mehr ausgeschlossen werden könne, dass die Partei nicht länger „staatsfrei“ agiere. 15 Mal wird auf Tino Brandt verwiesen!
Die Arbeit der Sonderkommission Soko Rex wird andauernd behindert von den Machenschaften des Verfassungsschutzes, der V-Männer, des BKA. Es ist unglaublich. Der Verfassungsschutz hilft seiner Quelle (Tarnname Otto) in juristischen Belangen auf seine Weise. Da wegen der Verfahren in Sachen Landfriedensbruch hohe Anwaltskosten bei ihm auflaufen, übernimmt der Geheimdienst die Rechnung. Später wird der V-Mann Brandt für Andre Kapka, den Anführer der Kameradschaft Jena, die Strafbefehle bezahlen – mit Geld, das er vom Verfassungsschutz bekommen hat.“ Wie wir weiter Abgeordnete wählen können, die diese Praxis eines Para oder Anti-Staats im Staat gutheißen und bei Haushaltsberatungen durchwinken, kann ich nicht begreifen.
Die einen Ermittler (beim Sonderstab Rex) werden aufgefordert, ihren Fokus nicht zu sehr auf Tino Brandt zu legen, die Ermittlungen werden verschleppt, obwohl der Staatsanwalt schon Anklage gegen ihn erhoben hat. Die Souveränität der Dritten Gewalt ist ausgesetzt. Der Chef der Sonderkommission Hollandt bekommt mit, dass einige seiner Männer Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes in einem Verhör darauf aufmerksam machen, dass gegen den Heimatschutz ermittelt wird.
Während dessen wird gemordet und Holocaust geleugnet und werden SA- Lieder gesungen, zumal im Osten, wo nach der totalen Leere, dem Untergang einer weltbeglückenden Glaubenslehre der nationalsozialistische Untergrund tobt: In Kahla, dem Geburtsort des Chefs der berühmten Wehrsportgruppe Hoffmann. Der Staat bezahlt seine Gegner.
Das Buch geht weit in den Schacht der deutschen Geschichte zurück bis in die ersten Nachkriegsjahre. Es klärt auch auf über den totalen Autoritätsverfall in der ex DDR nach dem Fall der Mauer und nach dem Tag, da alle Autoritäten in der ehemaligen stalinistischen Enklave des Ostblocks nackt und bloß aussahen und sich verstecken mussten.
Der Umsturz in der DDR wird bei Westdeutschen und im gesamtdeutschen Narrativ verklärt und als erste deutsche Revolution gefeiert. Diese Feier wird auf Dauer nicht zudecken können, was sich an Zerfall jeglicher Disziplin und Autorität in der ex DDR anbahnte. An mehreren Orten machten sich Verbrecherbanden breit. So z.B. in dem Jena Viertel Lobeda. Dort bewegte sich eine Verbrecherbande, die sich nach der Wende gebildet hatte. Die Bande wird von Zwillingsbrüdern geführt, sie bringt Falschgeld in Umlauf, das in Israel gedruckt wurde. Sie lässt Überfälle begehen. Sie hat fast 100 Mitglieder, nur 20 von ihnen kommen 1993 ins Gefängnis. Am Rande dieser Gruppe bekommt der junge Mensch den „ganzen Wahnsinn der Nachwende-Kriminalität“ mit. Wir haben in der politischen Korrektheitskultur das noch lange nicht mitbekommen. Und der NSU-Prozess wird nicht die Kraft haben, eine Art Truth and Reconciliation Kommission und Gericht zu sein. Junge Leute haben Krach mit ihren Eltern, nicht die schlechtesten, denn sie wissen ja, dass die Eltern Jahrzehnte mitgemacht haben, einige viele begeistert. Uwe Böhnhardt will deshalb ganz weit weg, so weit, wie es nicht weiter geht: nach Australien. Dort hat er von einem Ort gehört, der Kleinjena heißten soll. In den Jahren nach der Wende habe das organisierte Verbrechertum in Jena rasant Fuß gefasst.
Musik spielt eine große Rolle, Skinhead Konzerte und Skinhead Musik. Bei solchen Konzerten treffen sie sich zum ersten Mal, Uwe Böhnhardt, der sich mit Uwe Mundlos und Beate Zschäpe trifft. Der Rechtstaat ist ein Lahmfuss, der nichts machen kann, weshalb die Polizei entweder zu spät oder nie auftaucht. Es wird zum Sport: das Klauen fremder Autos. Der Blutjunge Schüler Böhnhardt klaut Autos. Im November 1992 klaut Böhnhardt mit einem Kumpel einen schwarzen Golf, rast von Jena nach Süden. Ein Polizeiwagen wird auf das Auto aufmerksam, nimmt mit Blaulicht die Verfolgung auf, Böhnhardt gibt Gas, überholt die Polizei. Eine Hollywood Verfolgungsjagd beginnt. Böhnhardt fährt über rote Ampeln, versucht einer Straßensperre aus Polizeiwagen auszuweichen, rammt eine Streife, verletzt einen Polizisten. Da steht er zum 1. Mal vor Gericht und erlebt die jämmerliche Jugendrichterin. 20 Tage gemeinnützige Arbeit – er kennt das Wort nicht. Dazu die Auflage, unbedingt das Schuljahr zu beenden. Im gleichen Monat kann er bei Wehrsportübungen in der Nähe von Rudolfstadt mitmachen. Sie proben vor den Kameras von Spiegel TV das „Erstürmen von Asylbewerberheimen und Häusern, die von „Linken besetzt sind“.
Am 14. Mai 1993 kommt es zum fast Mord an dem nigerianischen Asylbewerber Steve Erenhi. Man säuft in einer Disco, fliegt raus, in der zweiten am Scharmützelsee entdecken sie den jungen Steve Erenhi auf der Tanzfläche. Die Skins drängen Erenhi vor die Tür zu kommen. Er wird von Skinheads umringt, Erenhi greift zu einer Flasche. Zwei Ordner sehen zu, wie Ernehi totgeschlagen wird. „Aufhängen das Schwein!“ heißt es und: „Warum holt niemand einen Strick?“ Erenhi wird ohnmächtig, man schleift ihn nach draußen, einer tritt gegen den Hinterkopf. Einer versucht, die Jacke von Erenhi anzuzünden, die brennt nicht, da sagt einer aus dem Chor. „Dann ertränken wir das Schwein eben!“ Man schmeißt ihn in den See. Einer der drei Ordner traut sich, ihn rauszuziehen… Ein Notarzt rettet Erenhi mit einem Luftröhrenschnitt das Leben. Am Ende des Abends fragt eine der Frauen den Töter M.: Warum hast Du da s gemacht? Darauf M.: „Ich habe nur das gemacht, was alle wollten, sich aber keiner getraut hat!“ Die Szene wird breit beschrieben wie noch nirgendwo. Jan Stuart, der Chef der Nazi Gruppe Blood and Honour kommt nach Deutschland .
Das Buch beschreibt die totale Unfähigkeit der Schutzbehörden, die nur mit V-Männern manchmal das Gewerbe noch anheizen, dafür sorgen, dass die NPD nicht verboten werden kann usw. Nach dem Anschlag von Solingen am 29. Mai 1993 wurde bekannt: Die jungen Täter trainierten regelmäßig in einer Kampfschule mit Namen Hak Pao. Diese wurde von einem V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz in NRW geleitet. Der soll, wie später aktenkundig wurde, die Täter vor Hausdurchsuchungen gewarnt haben. Zitate des Bundeskriminalamts: „Der Verfassungsschutz versucht, durch die Presse enttarnte Quellen dadurch zu schützen, dass er eine Zusammenarbeit leugnet oder verschleiert. Bei laufenden Ermittlungsverfahren bestehe die Gefahr, dass dadurch sowohl der Verfassungsschutz wie die Exekutive von den Medien als nicht rechtstaatlich handelnd diffamiert werden“.
De zweite Strang: Wie kam es in dem nach-Nazi-Staat Bundesrepublik Deutschland zum Bundesamt für Verfassungsschutz? Die Gründungsgeschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz wurde mitbestimmt von ehemaligen Funktionsträgern des nationalsozialistischen Regimes. Wie sehr ehemalige Nazis das Amt bestimmten, macht der Fall deutlich, den das Amt bis in die Gegenwart geheim halten wollte. Ein Mann war 17 Jahre Chef des BfV. Fast solange wie Helmut Kohl. Es kam in all diesen 17 Jahren nicht heraus, dass dieser Mann beim CIA im Verdacht stand, Mitglied der Waffen SS gewesen zu sein. Das Bundesamt wurde am 20. September 1950 gegründet und hatte zu Beginn 76 Mitarbeiter. Im gleichen September 1950 erfuhr Konrad Adenauer, dass eine Gruppe mit Namen Operation Gehlen zum ersten Mal in seinem Staat ohne sein Wissen aufgebaut wurde. Die US-Geheimdienste hatten sich auf einen General der Abwehr namens Reinhard Gehlen eingelassen. Gehlen wollte der erste Präsident des BfV werden, aber die Briten protestierten und schlugen vor und setzten durch als ihren Kandidaten den Widerstandskämpfer Dr. Otto John. Gehlen gab sich aber nicht geschlagen und setzte als Vizepräsident einen Mann seiner Wahl durch: Albert Radke. Das alles hat bis heute die Dienste zusätzlich belastet und ihnen den Geburtsfehler der Schlagseite eingebracht, dass sie auf dem rechten Auge blind sind.
Das hält sich die ganzen 800 Seiten durch, dieses Grundgefühl von allen sog. Diensten und Agenturen des Staatsschutzes in Deutschland, wie es auch die ermordete Polizistin in Heilbronn Michele Kiesewetter bei ihren Kollegen mitbekommt. „Die Nazis hätten ihnen nie etwas getan, sie hätten immer nur Ärger mit den Genedemonstranten gehabt“, einer lässt sich sogar noch nach Ende 2011 zu dem Satz hinreißen: „Die Rechten seien immer ‚anständig‘ gewesen, Ärger sei zu ‚98 Prozent‘ von den Linken ausgegangen“. Gespenster weckt das Buch zum Leben auf in unsere Erinnerung, streitbare, oft produktive Gespenster, wie eben jenen Dr. Otto John, der wohl aus Kalkül und Verzweiflung sich in die DDR abmeldete. Und von dort etwas sagte, was uns heute erst möglich ist, einzuschätzen. „Die Amerikaner brauchten zu ihrem Krieg gegen den Osten deutsche Soldaten“, erklärte er vor der Weltpresse nach seiner ’Flucht‘. Dabei seien ihnen selbstverständlich vor allem jene willkommen, die aus der deutschen Katastrophe nicht gelernt haben, sondern nur auf die Stunde warten, in der sie für die Niederlage 1945 Rache nehmen können.
Das Buch ist eine Fleißarbeit des Kompilierens der Akten und der Dokumente der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse des Bundestages und des Thüringer Landtages. Mehrere hunderttausende Aktenseiten sind da zusammengesprochen und befragt und protokolliert worden. Dazu haben die Autoren den unsäglichen Prozess gegen die übriggebliebene Beate Zschäpe ausgewertet. Aber was man ohne Prozeßakten wissen kann. Das System ist weiter in Kraft. Genüsslich und für jeden, der künftig noch den Mut oder die Chuzpe haben wird, bei einer Bundestagswahl zu wählen, zitieren die Autoren aus dem Koalitionsvertrag von SPD und CDU. Da heißt es nach allem, was der Wähler über diese 800 Seiten erfährt, fast mit Pokerface und gleichzeitig Unschuldsmiene: „Wir stärken die Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), bauen dessen Koordinierungskompetenz im Verfassungsschutzverbund aus und verbessern die technische Analysefähigkeit des BfV“. Na dann gute Nacht, deutscher Bundestag, die Koalition schließt Dich in den Schrank und der Leser/Bürger/Wähler wird ganz krank. Das Bundesamt, das nach Einschätzung von jedem Bürger mit common sense abgeschafft gehört, wird der Sieger des „NSU-Fiaskos“ sein und werden. Aber, so schließen die Autoren ihr Buch, auch die NSA und die CIA – die größten Versager vor dem 11. September – werden die größten Gewinner sein.
Der Schaden ist schon jetzt so groß, dass man sich über das Koalitionspapier wundert. Die Autoren schließen die Recherche, die das Buch gemeinsam mit den Untersuchungsausschüssen gemacht hat, aber, in dem sie erklären: Mit jeder vernichteten Akte und jeder neuen Lüge verstrickt sich das BfV weiter in einen Kampf, den es vor 20 Jahren begonnen hatte. Und der Satz des ehemaligen Vizepräsidenten des BfV Klaus Dieter Fritsche vor dem Ausschuss hallt jeden Tag lauter nach: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren“.
Dass wir die NPD als Nazi-Nachfolgepartei weiter ertragen müssen, verdanken wir ebenso dem Verfassungsschutz wie die Tatsache, dass die NSU in Deutschland fröhlich herum morden durfte, Banken ausrauben durfte, ohne belangt zu werden. Im Grunde ergibt sich durch die Kumulation all dieser formalen Institutionen und Rituale die unbedingte Notwendigkeit, auf etwas Ähnliches zurückzugreifen, was die Südafrikaner zu ihrem sozialen Nutzen hatten. Keine Bestrafung, aber Verpflichtung zum Reden. Das, was der Rechtsstaat mit dem genüsslich garantierten Schweigen der Beate Zschäpe uns allen antut, wird uns noch mal schwer auf die Füße fallen. Es ist Zeit für eine deutsche Truth and Reconciliation Kommission.
Quelle
Rupert Neudeck 2014Grünhelme 2014