Helmut Schmidt: Soldat, Kanzler, Ikone
Erinnerungen an einen harten Kanzler, keinen Eisernen. Zu einer Biographie über Helmut Schmidt. Von Rupert Neudeck
Wenn man alles zusammennimmt, ist das ein sehr gerechtes Buch, das Gunter Hofmann über den ehemaligen Bundeskanzler und dann auch noch ex-Kollegen in der Redaktion der ZEIT geschrieben hat. Dass im ersten Satz unbeabsichtigt die Parallele zu dem Reichskanzler Otto von Bismarck gezogen wird, der sein Erinnerungsbuch „Gedanken und Erinnerungen“ betitelte, während sich Helmut Schmidt für sein wichtigstes Buch den Titel wählte: „Menschen und Mächte“, ist sicher kein Zufall. Der Eiserne Kanzler kommt auch gar nicht mehr vor, außer dass der große Helmut Schmidt mit dem großen Henry Kissinger sich ungehindert über Größen der Geschichte unterhalten kann wie über Otto von Bismarck. So lange auch nach der Kanzlerschaft sich dem eigenen Volk als Realität und fast Mythos erkennbar zu bleiben, verbindet die beiden eben doch. Vielleicht auch der große ehrfürchtige Respekt vor ihrer Lebensleistung.
Das Gleichmäßige ist die chronologische Art der biographischen Berichterstattung, die Gunter Hofmann immer wieder anreichern kann, weil er zu dem Corps der Hauptstadtkorrespondenten gehörte, und das meinte damals Bonn. Die Urteile über den knorrigen und eckigen Kanzler sind immer ein wenig gebrochen, nie absolut gesetzt, oft indirekt, weil sie von Hofmann zitiert oder übernommen werden. Vielleicht ist das Erbe der frühen Geburt bei Helmut Schmidt heftiger ausgefallen und hat ihm möglicherweise mehr zugesetzt als das die Öffentlichkeit wahrnahm. Was hätte er damals alles machen können, als er mit dem Führer des größten und tonangebenden Landes der arabischen Welt auf innige Art befreundet wurde. Mit Anwar el Sadat hatte Schmidt eine ganze Nacht auf dem Nil über die Weltreligionen gesprochen, ihm, dem agnostisch angehauchten, hatte der Freund den Islam erklärt. Beide waren einig über die Lösung der Palästinenserfrage, wie sie Sadat vorschlug. Die Israelis hätten die 1967 besetzten Gebiete zurückzugeben und auf der Westbank und dem Gazastreifen sollte ein Palästinenserstaat entstehen. Doch ihm kam die „Gnade der späten Geburt „ nicht zu, er war acht Jahre Soldat bei Adolf Nazi, wie Schmidt sagte, gewesen und war auf Hitler vereidigt worden. Und zu der Zeit von Sadat agierte ein schrecklicher israelischer Politiker in Tel Aviv, Menachim Begin, der ganz aus der Fasson geriet, als Schmidt einiges Vernünftige zur Lösung der Palästinenserfrage sagen wollte. „Es ist nackte Arroganz und Frechheit, sagte Begin, „meiner Generation zu sagen, dass es uns gegenüber keine, den Arabern hingegen wohl eine Verpflichtung gibt.“ Begin mutmaßte, dass Schmidt sich wohl noch immer „an seinen Fahneneid als deutscher Wehrmachtsoffizier gebunden“ fühle. Schmidt habe zu den Truppenteilen an der Ostfront gehört, die russische Städte umzingelten, hinter der Front dann deutsche Einsatztruppen hauptsächlich die Juden vernichtet hätten“. Jeder gute Kämpfer sei in die Judenvernichtungen verwickelt gewesen.
Daran hat er gelitten. Das lebt von Bewunderung und Zweifel. Beides kommt in den beiden Motti der Biographie zur Geltung. Einmal stellt sich der Kanzler als der „leitende Angestellte der Bundesrepublik“ vor. Zum anderen zitiert Hofmann die Gräfin Dönhoff über Helmut Schmidt: „Aber was ihn tief in seinem Inneren bewegt habe ich nie erfahren“. So ist es ja einer ganzen Generation von Beobachtern, Freunden, Journalisten gegangen. In dieser Spannung zwischen dem Motto Eins und dem Motto Zwei ist das Buch hineingehalten. Es sind sechs wuchtige Teile. Im ersten sortiert der Autor Politik und Leben. Dann kommt das wichtige Kapitel über die Jugendsünden des Helmut Schmidt: „Jugend unter Hitler“.
Es kommt der Dritte Teil, der die Zugänge des Helmut Schmidt zur deutschen Politik beschreibt und seine Freunde, Vorbilder und extremen Gegner behandelt. Unter den Vorbildern John F. Kennedy und Fritz Erler, unter den Gegner Franz Josef Strauß. Das vierte Kapitel behandelt den Machtwechsel zu den Sozialdemokraten, einmal zu der Kanzlerschaft Willy Brandt, dann zu der Kanzlerschaft Helmut Schmidt, die einsetzt, nachdem am 14.04.1974 Guilleaume als Spion des DDR-Geheimdienstes enttarnt und verhaftet wird, in einer turbulenten Sitzung der SPD-Parteispitze, Brandt seinen Rücktritt erklärt am 4. Mai und am 15. Mai Schmidt der neue Kanzler wird.
Das Buch verschweigt nicht die eckigen störenden Seiten dieses selbstbewussten Helmut Schmidt, der manchmal das Paradebeispiel für jemanden bot, der es immer schon und besser weiß. Aber Gunter Hofmann macht daraus kein eigenes Kapitel, das ist eine Seite, die es auch gibt. Denn trotz seines Prestiges in der Bonner Journalistenwelt wurde Schmidt als Minister und Kanzler nicht nur bewundert. Seine Sachkompetenz war allgemein anerkannt, aber er galt als „überaus arrogant, launisch und eitel.“ Auch Wirtschaftsjournalisten, mit denen er als Wirtschafts- und Finanzminister zu tun hatte, konnte er die Ahnungslosigkeit genauso spüren lassen wie Parteifreunde.
Es ist kein Abrechnungs- und kein Enthüllungsbuch geworden, aber wohl harren viele Fragen der Erläuterung und Beantwortung. Das allein macht das Buch schon erfreulich. Man erfährt viel über die Bemühungen des Kanzlers, die Demokratie mit der Pflichtenlehre von Immanuel Kant und Popper und Max Weber zu verbinden. Aber es ist nicht einfach diese Verbindung so herzustellen, dass weder der Politiker auf der Strecke bleibt noch der Pflicht-Philosoph. An einer Stelle schreibt Hofmann, es sei in der Zeit gewesen, als bei dem ÖTV-Chef Heinz Klunker die Pferde durchgingen und er mit einer vierzehn Prozent Lohnerhöhungsforderung für den öffentlichen Dienst den Staat herausforderte. Genau an solchen Situationen ließ der starke Fraktionschef Schmidt den schwachen Brandt, seinen Kanzler, auflaufen. Während der Streik tobte, sagte Schmidt, er sei mit allem einverstanden, was der Kanzler entscheiden werde. Prompt, so Hofmann, beging Brandt den Fehler, sich der ÖTV nicht in den Weg zu stellen. Er „führte“ eben nicht. Das war es ja auch, was „unter uns Hauptstadtkorrespondenten“ dauernd ventiliert wurde: Schmidt kritisierte und sorgte sich über mangelnde Führung. Erregt sei, so erinnert sich Hofmann, Schmidt abgetaucht statt dem angeschlagenen Chef zu helfen und Flagge zu zeigen. Jemanden zu Hilfe zu kommen, das war nicht die Sache von Helmut Schmidt. Er schimpfte auch wie ein Rohrspatz auf die eigene Partei, den Marsch durch die Institutionen waren die Jungen 68er leid. Die Jusos wollen einen Zersetzungsprozess. Sie sind deplatziert: Jemand, der empfehle aus der NATO auszutreten, sei nichts für die Politik. Hofmann: „Eine Mischung wie ihn gab es nur einmal. Schmidt meinte ernst, was er sagte, und es war Inszenierung zugleich. Er war Politiker, aber auch Darsteller.
Manche auch vernünftigen Genossen gingen auf Gegenkurs: Norbert Gansel nannte Schmidt das „Sinnbild des autoritären Sozialdemokraten“ und hatte dabei wahrscheinlich bis heute recht. Brandt war zum Ärger von Schmidt der „Gottvater“, hatte 1971 auch noch den Friedensnobelpreis bekommen, ein Denkmal zu Lebzeiten. Brandt hatte die Partei im Griff, Schmidt nie. Unter Brandt holte die SPD einen Stimmenanteil von 45,8 Prozent bei der Wahl am 19.11. 1972. Beim Parteitag in Hannover 1973 bekamt Helmut Schmidt 286 Stimmen von 429 möglichen, Brandt 404 und Wehner 419! Mit der Partei versuchte er es immer, aber er war zu extravagant. Was Hofmann vielleicht hätte schärfer kritisch herausbringen sollen, ist dieser verhängnisvolle Satz, den Franz Alt immer zitiert. „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“. Das war aber der Helmut Schmidt in Reinkultur. Der fünfte Teil im Abgesang des Buches behandelt sein Leben als Zeitungskommentator. Und stellt im sechsten Teil die Frage: Was bleibt?
Was ihn auszeichnet, ist der Sinn für die Verführbarkeit von uns Menschen. Er war einer von 19 Millionen Soldaten in den Hitler Jahren. Immer wieder deutete er an, dass man dem Volk nicht trauen dürfe, das könne auch wieder umkippen. „Gerade an der Stelle, wo die Deutschen versagt hatten, wollte Schmidt beweisen, dass es so nicht hatte kommen müssen“. Nicht das Militärische war per se falsch, es wurde nur missbraucht. Falsch war es auch nicht, seiner Pflicht für das Vaterland anzuhängen. „Der Fehler war, dass diese Patria in die Hände machtbesessener Nationalisten geierte.“
Dramatisch die Zeiten, die Helmut Schmidt überlebte (im Sinne von Rilke: „wer spricht von Siegen“). Einmal die Herausforderung der 68er Bewegung. Eigentlich bewundernswert auf seine Art, dass er sich nicht irgendeinen faulen Kompromiss ausdachte, sondern frontal diese Bewegung der unkontrollierten, führungslosen, kompasslosen Revolutionäre bestritt. Energisch. Er wurde der Hauptgegner derer, die sich in der SPD wie von außen damals gegen dieses Partei-Establishment wehrten. Dass er nachträglich nicht bereit ist, die wichtige Rolle dieser Bewegung in der Öffnung der miefigen Bundesrepublik zu sehen, ehrt ihn nicht. Er wurde mit der Herausforderung des Terrorismus besser fertig als jeder andere Staatsmann zu seiner Zeit. Das hatte auch mit loyalen guten Mitarbeitern zu tun, wie Hans Jürgen Wischnewski, den er eben einfach nach Mogadiscio schicken konnte, um die Lufthansa Landshut zu befreien. Und die schweren Tage, da er auf die Unterstützung seiner Fraktion und Partei nicht mehr rechnen konnte und abtreten musste. Wie oft hat man gesagt, dass wir seit 1982 zwei Kanzler hatten bis zu seinem Tode.
Hofmann ist sehr behutsam mit der Kritik, aber nicht servil gegenüber dem ehemaligen Bundeskanzler und dann auch noch dem publizistischen Kollegen, von dem in dem Buch doch nicht klar wird, ob er einer gleichberechtigt hat werden können. Kritisch bleibt er gegen Schmidts Manie, mehr zu sein, als er war. So wollte er einerseits immer ein Intellektueller sein. Andererseits hatte er einen Rochus auf akademisch gebildete Intellektuelle, was das Zeug hielt. Den einzigen Anklang von Despektierlichkeit in der Diktion von Gunter Hofmann gibt es nur bei der Betrachtung der von ihm sogenannten „Hausapotheke“. Helmut Schmidt habe immer besonders geliebt zu dozieren, ganz besonders über Politik aus den großen Büchern seiner „Hausapotheke“. Vor allem Immanuel Kant, Max Weber und Karl Popper kamen dabei zu Hilfe. Mit ihnen konnte er sich ausweisen, dass er eben nicht nur ein Pragmatiker-Tölpel war, sondern durchaus Maßstäben, ethischen Maßstäben folgte. „Ob er sie alle gelesen hatte, bleibe dahingestellt“. Das ist schon der Gipfel eines leise kritischen Tones gegenüber dem Kanzler im Ruhestand, der weiter zum Praezeptor Germaniae taugte und von seinem Blatt auch so stilisiert wurde. Zur „Hausapotheke“ gehörten auch Marc Aurels Selbstbetrachtungen, die Schmidt immer im Kriege bei sich getragen habe. Marc Aurel habe ihn die Tugenden der Pflichterfüllung und der inneren Gelassenheit gelehrt. Freilich habe er, Schmidt, erst nach der Nazizeit begriffen, was Marc Aurel ihn nicht lehrte, „selbst zu erkennen, w a s meine Pflicht ist“. Man hätte von einem Mann, der zu solcher Selbstinspektion fähig ist, eine Darstellung dieses ungeteilten Aufgaben- und Rollenspiels erwartet, das in der modernen Mediendemokratie unweigerlich den Politiker, will er erfolgreich sein, auch zum Fernsehstar und Darsteller zwingt. Das ist eine Art, die Demokratie auch zu entwerten, wie wir es unter dem Ansturm der sozialen Medien und der digitalen Kommunikationsmedien erlebten (hatte der alte Schmidt ein Handy? Ein Smartphone?).
Keinen Sinn hatte der große Politikbeherrscher für ökologische- oder Umwelt-, Klima-Fragen. Dahin ist er nie gekommen. Obwohl er ja die Überschwemmungs- und Orkan-Katastrophe in Hamburg im Februar 1961 erlebte. Da war er in der Position, in der er immer schon und dauernd hätte bleiben wollen: Der des Feldherrn, der über 40.000 Polizisten befehligte, ohne Tarifordnungen des öffentlichen Dienstes, denn es galt Menschenleben zu retten, Menschen zu evakuieren, Deiche zu stabilisieren. Interessanterweise nennt das der Autor auch: „Schmidt befand sich im Krieg. Diesmal handelt es sich um den richtigen Krieg, den legitimierten. Er trug die Verantwortung. Keiner war Herr über ihn“. Vielleicht fehlte ihm für die Ökologie der überzeugende Gesprächspartner, die Grünen und Joschka Fischer an der Spitze verachtete er. Aber das war gewiss eine große Schwäche.
In einer Hinsicht war Helmut Schmidt kein Korrektiv zu der Mehrheit seiner Partei. Er teilte die bis heute unaufgearbeitete Schwäche zumal der deutschen SPD, in den Ländern des Ostblocks möglichst nicht bei Besuchen mit Dissidenten oder Widerstandsleuten zu tun zu haben. Bonn und Ostberlin stimmten zu Schmidts und Honeckers Zeiten in gewisser Weise darin überein: „Zuviel Unruhe an der Basis macht die Verhältnisse unberechenbar“. Das Verhältnis zwischen dem gros der deutschen Sozialdemokraten sowie den polnischen Dissidenten belastet Werbellin und die Ostpolitik der 80er Jahre bis heute. Schmidt war gerade am 11. Dezember 1981 am Werbellinsee und sprach mit Honecker auf einer Reise, bei der ihm die Bevölkerung an den Straßen abgewehrt wurde. Da knallte am frühen Morgen des nächsten Tages die Nacht von dem Kriegsrecht, das General Jaruzelski in Polen verhängt hatte. Im Gespräch mit Friedrich Nowottny sagt Schmidt: nein, Konsequenzen auf die Gespräche mit Honecker würden die Vorgänge in Polen nicht haben. Dann folgt sein unbedachter Zusatz;: „Herr Honecker ist genauso bestürzt gewesen wie ich, dass dies nun notwendig war,. Ich hoffe sehr, dass es der polnischen Nation gelingt, ihre Probleme zu lösen.“ Das zeigt, wie blind große Teile der SOD-Spitze bei Ihren Besuchen in den Hauptstädten Osteuropas blind waren für die mächtigen Entwicklungen im Untergrund, zumal in Polen.
Gern würde man ihn fragen, wenn er wieder so ganz klar ist, das die responsibility to protect eben sich nur auf der Höhe von Adolf Nazi als Erlaubnis zum gemeinsamen Eingreifen gesehen werden muss. Schmidt: „Adolf Nazi hat diese Grenze mit Auschwitz und dem Mord an sechs Millionen Juden überschritten. Dann gerät mein Prinzip der Nicht-Einmischung ins Wanken. Also rede ich mit offener Flagge“. Man möchte das gern mittragen, wenn er beklagt, dass anderen Staaten in Sachen Menschenrechte hineingeredet wird. Dann möchte ich ihn fragen, ob er das wirklich meint? Oder ob er diese diplomatische Pflichtübung meint, mit der bei Staatsbesuchen im Anhang an eine Agenda mit einer anderen Regierung auch noch ein Protokoll übergeben wird über Menschenrechtsfälle. Das ist so unbescheiden und so falsch. Diese Art von Pflichtübung sollte man sich wirklich sparen. Und ich würde ihn gern fragen – und das geht jetzt nicht mehr – ob vielleicht die Grenze für diese Nichteinmischung auch bei der IS-Verbrecherbande überschritten sei?
Im letzten Kapitel beschreibt Gunter Hofmann, dass bei der ZEIT Helmut Schmidt in die Rolle der moralischen Instanz hineingerutscht war, die vorher bis zu ihrem Tode die Marion Gräfin Dönhoff innehatte. Das klingt am Ende sehr harmonisch: Der Mann, der „Moral aus der Politik heraushalten wollte, ließ sich die „moralischen Maßstäbe der Gräfin durchaus gefallen“. Das reicht dem Leser nicht. Er will eine Antwort auf die Frage: Konnte der Helmut Schmidt in der Redaktion der ZEIT die Rolle der moralischen Instanz wirklich übernehmen? Auf der letzten Seite erfährt man, dass Schmidt noch ein Buch über das eigene Land verfassen wollte, das er im Gespräch mit Siegfried Lenz, Günter Grass und Fritz J Raddatz angekündigt hatte für die Jahre danach…
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